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Sprache und Geist

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Sprache und Geist

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Wie ist es möglich, dass Kinder gleich mehrere Sprachen mit größter Leichtigkeit lernen? Eine Erklärung liefert die von Noam Chomsky entwickelte Theorie einer Universalgrammatik.


Literatur­klassiker

  • Sprache & Kommunikation
  • Moderne

Worum es geht

Auf der Spur der Universalgrammatik

Wenn Kinder eine Sprache lernen, ist man immer wieder verblüfft: Mit großer Leichtigkeit eignen sie sich Wortschatz und Grammatik an – wenn es sein muss, sogar von verschiedenen Sprachen. Dieser Prozess wurde viele tausend Male beobachtet, aber die Wissenschaft konnte sich lange Zeit nicht erklären, wie genau das Sprachlernen vor sich geht. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren sich namhafte Sprachwissenschaftler darüber einig, dass kleine Kinder nur imitieren, was sie von den Erwachsenen vorgesprochen bekommen. Dieser Theorie konnte Noam Chomsky nicht zustimmen. Seine Forschungen wiesen in eine ganz andere Richtung. Weil sich jeder Satz auf unterschiedliche Weisen sagen lässt (die Aussage „John liebt Mary“ kann z. B. in „Mary wird von John geliebt“ umformuliert werden) und Menschen auch Sätze verstehen können, die sie nie zuvor gehört haben, vermutete Chomsky eine Universalgrammatik, die jeder konkreten Sprache zugrunde liegt: Die generative Grammatik war geboren. Bis heute hat Chomsky mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht und sich damit in die Annalen der Linguistik eingeschrieben. Sprache und Geist vereint drei Vorlesungen, die sich mit den Hauptelementen seiner Theorie befassen und nebenbei eine Geschichte und eine Zukunftsvision der Linguistik liefern.

Take-aways

  • Noam Chomsky ist einer der wichtigsten Linguisten des 20. Jahrhunderts.
  • In Sprache und Geist stellt er seine Theorie der generativen Grammatik dar.
  • Diese Theorie behauptet, dass es „hinter“ den Grammatiken der verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch usw.) eine universelle (generative) Grammatik gibt, die alle verbindet.
  • Das Buch basiert auf drei Vorlesungen, die sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Sprachwissenschaft beschäftigen.
  • Das behavioristische Modell, dem zufolge das Sprachenlernen eine reine Imitation ist, führt in die Irre.
  • Die Sprache kann mit ganz wenigen Bausteinen unendlich viele neue Dinge ausdrücken. Und diese neuen Dinge können verstanden werden.
  • Jede sprachliche Äußerung besitzt eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur: Erstere besteht aus den Wörtern selbst, Letztere stellt den Sinn der geäußerten Wörter her.
  • Menschen können die Tiefenstruktur eines Satzes durchschauen, obwohl sie ihn noch nie zuvor gehört haben.
  • Das legt nahe, dass es eine Universalgrammatik mit unveränderlichen Mechanismen gibt.
  • Die Linguistik muss herausfinden, wie Menschen beim Spracherwerb eine Grammatik wählen.
  • Chomskys Theorie der generativen Grammatik löste die kognitive Wende in der Psychologie des 20. Jahrhunderts mit aus. Seine Idee einer Universalgrammatik ist bis heute umstritten.
  • Nach dem Vietnamkrieg hat Chomsky das Schwergewicht seiner Tätigkeit auf die Kultur- und Gesellschaftskritik verlegt. Er gilt heute als einer der führenden Intellektuellen Amerikas.

Zusammenfassung

Absage an den Behaviorismus

Das Studium der Sprache war und ist geeignet dazu, die menschliche Natur allgemein zu erforschen und zu versuchen, sie zu verstehen. Im 19. und 20. Jahrhundert war eine Tendenz erkennbar, die künstlichen Trennungen zwischen den Einzeldisziplinen Psychologie, Philosophie und Linguistik aufzuheben. Doch nach dem Krieg wurden strukturelle Modelle der Sprache kaum noch entwickelt, denn man verließ sich auf das behavioristische Modell der Sprachkompetenz. Man wartete auf den Computer, der die schiere Masse von Sprechanalysen entwirren und die dahinterliegenden Systeme freilegen würde. Doch inzwischen hat sich herausgestellt, dass diese Methode gänzlich falsch war. Statt auf ein Schema von Reiz und Reaktion zu setzen, wie es die Behavioristen tun, müssen wir ein kognitives System annehmen, das die Sprachkompetenz eines Sprechers darstellt, und zwar unabhängig von seinen konkreten Sprachäußerungen. Sprachkompetenz besitzt der Mensch von Kindesbeinen an; sie ist es, die dem jeweils unterschiedlichen Sprechverhalten der Menschen zugrunde liegt. Die Erforschung der konkreten Sprachphänomene führt nicht dazu, die darunterliegenden Strukturen der Sprachkompetenz zu erkennen. Die verbreitete Ansicht, man müsse nur – mittels der Computertechnik – eine genügende Anzahl von Phänomenen sammeln, also „mehr des Gleichen“ analysieren, führt in die Irre.

Linguistische Forschung der Vergangenheit

Es lohnt sich, in die Vergangenheit zu schauen, die klassischen Probleme bei der Erforschung des menschlichen Geistes hervorzuholen und die alten mit den neuen Erkenntnissen zu vergleichen. Im 17. Jahrhundert wurden die Menschen von einer Euphorie ergriffen, die mit einer aktuellen Tendenz vergleichbar ist: Was heute die Computer sind, waren damals die Automaten. Doch schon René Descartes stellte fest, dass Automaten – so komplex sie auch sein mögen – bestimmte Leistungen des menschlichen Geistes niemals erbringen können, z. B. Erkenntnis und Wille. Descartes nahm eine zweite Essenz an, die für das Denken zuständig ist und die neben dem Körper eine eigene Qualität hat: die so genannte „res cogitans“ (lat.: denkende Sache). Jede Form von kreativem Sprechen ist etwas spezifisch Menschliches, das von einer Maschine nicht zur Gänze nachgeahmt werden kann. Descartes formulierte es sogar so: Die Fähigkeit zum Sprachgebrauch ist das sicherste Anzeichen dafür, dass ein Körper einen menschlichen Geist besitzt.

Sprache macht den Menschen zum Menschen

Werfen wir einen Blick in die Geschichte der Linguistik und darauf, was sie uns über das menschliche Bewusstsein enthüllt. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts postulierte der spanische Arzt Juan Huarte eine Fähigkeit des Verstandes mancher Menschen, Dinge auszusprechen, die sie nie zuvor gesehen oder gehört haben. Diese Fähigkeit kann man als Kreativität bezeichnen. Die Sprache, das haben Wissenschaftler und Philosophen in den letzten Jahrhunderten immer wieder festgestellt, unterscheidet den Menschen vom Tier. Selbst Schwachsinnige besitzen eine grundlegende Sprachbeherrschung, die den Tieren vollständig fehlt, sogar den „intelligenten“ Menschenaffen, die ansonsten durchaus über verschiedene Möglichkeiten der Problemlösung verfügen. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Sprache keinesfalls das Ergebnis äußerer oder innerer Anreize ist, also nicht durch das Abarbeiten irgendwelcher Muster erklärt werden kann, sondern eine gänzlich eigene Qualität besitzt. Menschen beherrschen ihre Sprache ohne Stimuli und können kohärent sprechen, d. h. der jeweiligen Situation angemessen. Leider ist die Linguistik 300 Jahre nach den Cartesianern mit ihrer rationalistischen Grammatik immer noch nicht in der Lage, diese Kompetenz lückenlos zu erklären.

Die philosophische Grammatik

Zu den wichtigsten Grammatiken gehört diejenige aus dem Kloster Port-Royal in der Nähe von Paris, entstanden in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese Grammatik beschäftigte sich erstmals mit der Phrasenstruktur von Sätzen. Die Oberflächenstruktur des Satzes wurde so sichtbar gemacht, denn der Satz wurde in immer kleiner werdende Phrasen zerteilt, bis hin zum einzelnen Wort. Immer wenn ein Satz artikuliert wird, ist gleichzeitig das Weltwissen des Zuhörers gefragt. Dadurch wird der meist ambivalenten Aussage ein Sinn verliehen. Dies ist die Tiefenstruktur eines Satzes. In der Grammatik einer Sprache muss es Muster geben, die die Tiefen- zur Oberflächenstruktur in Beziehung setzen. Dies wurde in der Grammatik von Port-Royal zumindest schon in Grundzügen erforscht. Mit der strukturalistischen Linguistik des Schweizers Ferdinand de Saussure wurde die Erforschung der Tiefenstruktur dann wieder eingestellt: Ihn interessierte nur noch die Segmentierung und Klassifizierung der Sprache. Die Satzbildung selbst bezeichnete Saussure als kreativen Akt, der mit den Strukturdaten der Sprache gar nichts zu tun habe und formal nicht einmal zur Linguistik gehöre. Die Sprachwissenschaft nach Saussure wandte sich vollends von der philosophischen Grammatik ab und verneinte auch die Annahme, dass es so etwas wie universelle Sprachstrukturen überhaupt gebe. Es ist an der Zeit, die philosophische Grammatik wiederzubeleben und sie mit den Erkenntnissen der modernen Linguistik zu verknüpfen.

„In diesen Vorlesungen möchte ich mich gern auf die Frage konzentrieren, welchen Beitrag das Studium von Sprache für unser Verständnis der menschlichen Natur leisten kann.“ (S. 10)

Probleme der modernen Linguistik Das Problem der Sprachwissenschaft ist, dass ihre Phänomene so alltäglich sind, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Disziplinen wie die Physik haben einen Forschungsgegenstand, der sich unserer Wahrnehmung weitestgehend entzieht: Deswegen sind Entdeckungen in der Physik immer etwas Großartiges. Die Psychologie hingegen behandelt immer das, was es vorher schon gab, in ihr sind also keine Revolutionen zu erwarten. Ähnlich geht es der Sprachwissenschaft: Weil wir es immerzu mit Sprache zu tun haben, erscheint es uns müßig und trivial, diese zu erforschen. Wir geben uns damit zufrieden, die kognitiven Prozesse der Spracherzeugung ebenso als gegeben hinzunehmen wie das sprachliche Material selbst. Der moderne Linguist muss immer beides untersuchen: die Regelsysteme einer speziellen Sprache bzw. deren Grammatik und die universalen Prinzipien, die jeder Sprache bzw. Grammatik zugrunde liegen.

Oberflächen- und Tiefenstruktur

Bei jedem Satz können wir zwischen der Oberflächenstruktur und den im Hintergrund bzw. in der Tiefenstruktur verborgenen Aussagen unterscheiden. Der Satz „Ein weiser Mann ist ehrlich“ z. B. enthält in der Tiefenstruktur die Aussagen „Ein Mann ist weise“ und „Ein Mann ist ehrlich“. Zur Kenntnis einer Sprache gehört es, die Tiefen- und Oberflächenstrukturen korrekt zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei kann die Oberflächenstruktur eines Satzes sehr unterschiedliche Interpretationen hervorrufen. Der Satz „Ich missbillige Johns Trinken“ etwa kann zweierlei Bedeutungen haben. Entweder: „Ich missbillige, wie John (jetzt in diesem Augenblick) sein Bier trinkt“, oder: „Ich missbillige, dass John (generell) trinkt.“ Egal wie die Oberflächenstruktur beschaffen ist, die meisten Menschen verstehen die Sätze, und zwar auch dann, wenn sie sie niemals zuvor vernommen haben. Das beweist, dass das Verständnis keinesfalls auf eine Satzbildung anhand von Analogien zurückgeht, wie es immer wieder von der behavioristischen Forschung behauptet wird.

Universale Regeln für Phonetik, Syntax und Semantik

Untersucht man die Phonetik (Lautbildung) der englischen Sprache, kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis: Auch hier gibt es Sonderfälle, die nicht durch Regeln festgelegt sind und die nicht durch eine Art von Schlussfolgerung abgeleitet werden können. Stattdessen muss ein generelles Sprachverständnis, eine Art universelle Grammatik angenommen werden, die angeboren ist. Für die Transformation von Sätzen (also die Umwandlung in neue Sätze mit gleicher Bedeutung, aber anderer Oberflächenstruktur) lassen sich mehrere Prinzipien finden. Gibt es Regeln für eine universale Semantik, also für die Wortbedeutung? Ein Satz wie „John has lived in Princeton/John hat in Princeton gelebt“ besitzt eine Semantik, die ungefähr folgendermaßen umrissen werden kann: John ist ein Mensch, es geht sicherlich nicht um ein Tier. Sofern Princeton ein Eigenname ist, handelt es sich hierbei um einen physischen Ort. Die englische Formulierung legt außerdem nahe, dass John ein lebendiger Mensch ist. Dasselbe kann man z. B. über Albert Einstein nicht sagen, denn dieser ist bereits verstorben – statt „has lived“ müsste im Englischen dann „lived“ stehen.

Sprache als Entwicklungssprung der Intelligenz

Die strukturelle Linguistik um Saussure wendet sich vehement gegen jede Psychologie. Sie sieht sich als Verhaltenswissenschaft und beschäftigt sich deshalb nur mit den Daten, aber nicht mit den kognitiven Strukturen, die dahinterstehen. Das ist bedauerlich, weil sie sich damit ihrer Möglichkeiten beraubt. Analog könnte man die Naturwissenschaft als „Wissenschaft vom Maßablesen“ bezeichnen – und diese Formulierung würde sofort klarmachen, dass das Wichtigste fehlt. Die Aufgabe der Linguistik der Zukunft ist es, Strukturen aufzuspüren und zu erforschen. Karl Popper vermutete in einer seiner Abhandlungen, dass sich die menschliche Sprache in verschiedenen Stufen entwickelt hat: von einfachen Lauten, die Gefühle ausdrückten, bis hin zur komplexen Sprache. Er lieferte allerdings keinerlei Mechanismen, die angeben, wie tiefere und höhere Sprachstufen (z. B. zwischen Primaten und Menschen) zusammenhängen. Ob es sich also um einen einzigen evolutionären Prozess handelt, ist ungeklärt.

„Tatsächlich ist die Sprache, wie Descartes selbst sehr richtig feststellte, ein artspezifischer menschlicher Besitz (...)“ (S. 25)

Man kann annehmen, dass die Sprache einen Entwicklungssprung darstellt, der den Menschen einzigartig macht. Das Studium der Sprache kann deshalb wichtige Rückschlüsse auf die menschliche Intelligenz ermöglichen. Die Idee, dass tierische Kommunikationssysteme der menschlichen Sprache ähneln, ist falsch: Sie bestehen aus einem endlichen Repertoire von Lauten und sind fast immer sehr eng auf einen bestimmten Zweck beschränkt. Die menschliche Sprache ist erheblich variantenreicher und kann zu ganz verschiedenen Zwecken eingesetzt werden: zur Information, zur Unterhaltung, zur Irreführung usw.

Die generative Grammatik

In der Geschichte der Sprachforschung gab es immer Wissenschaftler, die behaupteten, dass die Sprache so unendlich mannigfaltig sei, dass es einfach keine universalen Grundregeln dafür geben könne. Andere, wie z. B. Wilhelm von Humboldt, erkannten bereits im Keim die universellen Strukturen verschiedener Sprachen. Die Forschung steht vor einem Komplexitätsproblem: Damit sie tatsächlich universell ist, darf eine generative Grammatik nicht zu komplex sein. Gleichzeitig darf sie nicht zu simpel sein, um den Reichtum verschiedener Sprachen abzudecken. Das Problem der Grammatikforschung ist ein empirisches: Es ist schwierig, von den Oberflächenstrukturen der Sprache auf die Tiefenstrukturen zu schließen. Der Sprachphilosoph Nelson Goodman etwa lehnt die generative Grammatik darum ab. Dennoch ist die generative Grammatik eine klassische Idee der Sprachforschung. In dieser Grammatik werden die Regeln der Sprache festgehalten, während ihre Formen prinzipiell unendlich sind. Eine solche Grammatik weist universale und sprachspezifische Elemente auf. Mit anderen Worten: Die generative Grammatik muss mit allen Grammatiken der Einzelsprachen übereinstimmen.

Linguistische Forschungsprojekte der Zukunft

Es war Charles Sanders Peirce, der die Theorie der „Abduktion“ aufbrachte, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass der Mensch überhaupt irgendetwas durch Induktion, also durch das Austesten von vorhandenen Handlungsoptionen, lernen könne. Er behauptete, dem Mensch gehe es wie dem frisch geschlüpften Küken: Statt alle möglichen theoretischen Handlungsalternativen durchzuprobieren, wendet sich das Vögelchen gleich dem Körnerpicken zu – weil es eine „angeborene Idee“ hat, genau dies zu tun. Ganz ähnlich dürfte es auch mit dem Menschenkind sein, wenn es ums Sprachenlernen geht.

„Der normale Sprachgebrauch ist jedoch nicht nur produktiv und potenziell unendlich in seiner Reichweite, sondern auch frei von einer Regelung durch feststellbare Stimuli, seien diese äußere oder innere.“ (S. 27 f.)

Drei Teilaufgaben gilt es in der Zukunft zu lösen: Erstens muss das dem Menschen angeborene Schema gefunden werden, welches das Wesen seiner Sprache bestimmt. Diese Aufgabe ist ein Fall für die Linguistik. Zweitens muss das Zusammenspiel zwischen dieser Universalgrammatik und den Reizen der Umwelt untersucht werden. Drittens muss erforscht werden, wie Menschen beim Spracherwerb eine Grammatik „wählen“, also wie das Zusammenspiel aus Universalgrammatik und konkretem Sprachmaterial erfolgt. Verschiedene Wissenschaften, u. a. die Entwicklungspsychologie und die vergleichende Verhaltensforschung, können dabei behilflich sein.

Zum Text

Aufbau und Stil

Chomskys Sprache und Geist besteht aus drei Kapiteln, von denen sich je eines mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft der Sprachforschung beschäftigt. Dabei handelt es sich um Modifikationen von Vorlesungen, die der Linguist 1967 an der Universität von Berkeley gehalten hat. Chomskys Argumentation ist an einigen Stellen zumindest fragwürdig: Er baut eine starke Verteidigungshaltung für eine universale Grammatik auf. Wenn es dafür noch keinen hinreichenden empirischen Befund gebe, dann sei eben das Instrumentarium noch nicht fein genug dafür. Große Teile des Texts lesen sich wie eine Disputation seiner Thesen und eine Widerlegung seiner Gegner. Darum kreisen viele von Chomskys Ausführungen auch nicht unbedingt um die Linguistik, sondern um die Theorienbildung in der Wissenschaft allgemein. Weil es sich bei den Texten eigentlich um Vorlesungen handelt, bleiben Wiederholungen nicht aus. Das zweite Kapitel enthält einige Diagramme einer Phrasenstrukturgrammatik und strotzt vor grammatischen Beispielen; die Kenntnis linguistischer Grundbegriffe ist für das Verständnis dieses Teils unerlässlich. Chomskys Stil ist eher kompliziert. Möglicherweise liegt das auch an der Übersetzung, aber einfache, klare Sätze kann oder will er offenbar nicht schreiben. Allerdings muss man bedenken, dass es sich bei dem Buch nicht um eine Niederschrift populärwissenschaftlicher Aufsätze handelt: Die Vorlesungen richten sich eindeutig an ein Fachpublikum mit entsprechender Vorbildung.

Interpretationsansätze

  • Bei Chomskys Programm zur Erforschung einer generativen Grammatik handelt es sich nicht um „noch eine weitere Grammatiktheorie“, sondern um die Idee, eine Universalgrammatik, die für alle Sprachen gilt, zu finden. Diese beinhaltet laut Chomsky zum einen abstrakte Prinzipien für alle Sprachen und zum anderen spezifische Parameter, die die Wahl einer bestimmten Sprache ermöglichen.
  • Chomsky unterscheidet zwischen den Fähigkeiten zum Sprachgebrauch (Kompetenz) und dem tatsächlichen Gebrauch der Sprache (Performanz). Diese Unterscheidung ist Grundlage für Chomskys Konzept der Oberflächen- und Tiefenstruktur; bei Letzterer geht es um die kognitiven Hintergrundprozesse (Was bedeutet der Satz? Welche Bedeutungsebenen hat er?) konkreter Sätze.
  • Chomskys Idee gleicht jener von Freud: Die Oberfläche ist Schein. Darunter liegt das Wesentliche. Man könnte Chomsky auch als Platoniker bezeichnen: Hinter dem Sichtbaren liegt das Reich der wahren Ideen, das Reich der Universalgrammatik.
  • Es bleiben offene Fragen: Selbst wenn Chomsky Recht hat und es eine Universalgrammatik gibt, dann ist z. B. immer noch nicht erklärt, warum Kinder so leicht Sprachen lernen und warum es uns nach der Pubertät so viel schwerer fällt. Beim Erwerb anderer Fähigkeiten ist dieser Bruch nicht so stark.
  • Chomskys generative Grammatik hat Kritik durch viele Sprachwissenschaftler erfahren. So wird etwa beanstandet, dass seine Grammatik nicht satzübergreifend funktioniere (wenn sich etwa ein Pronomen auf den vorangehenden Satz bezieht). Chomskys syntaktische Analysen sind oft hochgradig abstrakt und setzen die genaue Kenntnis der Sprache voraus. Viele Linguisten sind denn auch der Ansicht, man müsse sich auf die eigene Muttersprache konzentrieren, und eine universale, generative Grammatik versage oftmals, sobald man sie auf eine neue Sprache anwende.
  • Statt einer hypothetischen Universalgrammatik widmen sich viele Linguisten heute der Erforschung der Hirnstrukturen und -prozesse. Es gibt Anzeichen dafür, dass das Geheimnis der Sprache so gelüftet werden kann.

Historischer Hintergrund

Sprachwissenschaft: Von den Anfängen bis zur generativen Grammatik

Jacob Grimm (der ältere der berühmten Gebrüder Grimm) gilt als Gründervater der Germanistik. Seine Forschungen zur vergleichenden Sprachwissenschaft drehten sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem um den Grammatikvergleich zwischen dem Germanischen und anderen europäischen Sprachen. Sprachforschung als Wissenschaft gab es allerdings auch schon vorher: William Jones entdeckte um 1786, dass die Struktur des indischen Sanskrit eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen europäischer Sprachen hat. Der Vergleich indogermanischer Sprachen markierte somit den Startschuss für die systematische Sprachwissenschaft. Der deutsche Sprachforscher Franz Bopp verglich in seiner Vergleichenden Grammatik (1833–1852) indogermanische Sprachen wie Sanskrit, Griechisch, Litauisch, Gotisch und Deutsch miteinander.

Wilhelm von Humboldt, auf den sich Chomsky gerne bezieht, entwickelte erste Theorien einer Ethnolinguistik. Im 19. Jahrhundert brach ein wahrer Sammel- und Jagdeifer unter den Sprachforschern aus: Sie stürzten sich auf alles, was sie an Sprachmaterial finden konnten. Diese historisch-vergleichende Methode wurde bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts praktiziert. Dann folgte die „strukturalistische Wende“: Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure plädierte in seinen Vorlesungen für eine stärker strukturalistische und semiotische (d. h. aufs Zeichensystem fokussierte) Linguistik. Seine Ideen wurden insbesondere vom behavioristisch ausgerichteten amerikanischen Deskriptivismus aufgenommen, dessen Begründer Leonard Bloomfield ab 1933 die Sprachforschung in den USA nachhaltig beeinflusste. Dieser Ansatz wurde wiederum von Noam Chomsky stark kritisiert, der mit seiner generativen Grammatik die „kognitive Wende“ auslöste.

Entstehung

Noam Chomsky entwickelte seine Theorie der generativen Grammatik vor allem in Opposition zum Strukturalismus. Dass er mit dem Strukturalismus amerikanischer Prägung, der so genannten Bloomfield-Schule, gar nichts anfangen konnte, merkte er, als er an der Harvard University verpflichtet war, damit zu arbeiten. Bloomfield orientierte sich am Empirismus und betrachtete die Linguistik vor allem als eine Einrichtung, die möglichst viel Sprachmaterial sammeln und strukturieren konnte. Während seiner Studien verabschiedete sich Chomsky immer weiter von dieser Sichtweise. Das behavioristische Programm der amerikanischen Linguisten behauptete, vereinfacht ausgedrückt: Der Mensch imitiert nur das, was er vorfindet. Chomsky verneinte diese Behauptung. Er glaubte eher, dass Sprache „unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln macht“, wie es Wilhelm von Humboldt schon im 19. Jahrhundert formuliert hatte. 1955 kam Chomsky ans Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort verfasste er u. a. Strukturen der Syntax (1957), worin er die Frage nach den Mechanismen stellt, die Sprache „generieren“. In der Fachzeitschrift Linguistics wurde das Buch rezensiert und Chomsky wurde quasi über Nacht zum Star. Denn seine Forschung passte zur „kognitiven Revolution“, die sich in den 60er Jahren in den Wissenschaften ereignete. 1959 rezensierte Chomsky das Buch Sprachliches Verhalten des amerikanischen Behavioristen B. F. Skinner. Dieser behauptete, dass Sprache lediglich ein Verhalten sei, das durch Belohnung und Strafe geformt werde. Chomsky verriss das Buch und zeigte detailliert Skinners Fehler auf. Dadurch wurde der aufmüpfige Linguist auch einem größeren Publikum bekannt.

Wirkungsgeschichte

In den 60er Jahren erlebte Chomsky, wie seine Grammatiktheorie einen kometenhaften Aufstieg erfuhr. Natürlich nur in der Fachwelt, denn Linguistik war nichts für die breite Masse. Unter Sprachwissenschaftlern hatte Chomsky den Status eines Gurus. 1961 wurde er ordentlicher Professor am MIT und erhielt 1966 den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Moderne Sprachen und Linguistik. Er forschte und publizierte fleißig weiter, um die vielen weißen Flecken in der Theorie der generativen Grammatik zu füllen, was ihm allerdings nie ganz gelang. Außerdem trat er als politischer Schriftsteller in den Blickpunkt der Öffentlichkeit: Immer wieder äußerte er sich kritisch zur US-Politik, insbesondere während des Vietnamkriegs. Nach einem regelrechten Siegeszug seiner Grammatiktheorie in den 60er Jahren wurde Chomsky Anfang der 70er zu einer umstrittenen Figur. Neue Strömungen kamen in der Linguistik in Mode und die eher kontextlose Sprachforschung Chomskys geriet in die Kritik. Die „pragmatische Wende“ näherte sich; Sprechakttheorie, Diskursanalyse, Textlinguistik, Gesprächsanalyse und Soziolinguistik gaben fortan den Ton an. Chomsky wollte sich an der neuen Richtung nicht beteiligen: Kommunikationsforschung erschien ihm zu wolkig und zu sehr als „Wissenschaft von allem Möglichen“.

Auch wenn die Meinungen über Chomsky heute geteilt sind – fest steht: Seine Arbeit hat die Sprachwissenschaft revolutioniert. Neuere Ansätze wie Computer- oder Psycholinguistik wären ohne seine Theorien nicht denkbar. Auch Chomskys Verortung der Sprachwissenschaft in der Nähe der Psychologie ist heute allgemein anerkannt: Sie gilt längst als interdisziplinäre Wissenschaft zwischen Psychologie, Soziologie, Informatik, Biologie und Kognitionswissenschaft.

Über den Autor

Noam Chomsky wird am 7. Dezember 1928 in Philadelphia (Pennsylvania) geboren. Er besucht dort die High School und studiert anschließend an der University of Pennsylvania, wo er 1955, nach einem Harvard-Stipendium, seine Promotion abschließt. In seiner Doktorarbeit legt er den Grundstein zu seiner späteren Veröffentlichung Syntactic Structures (Strukturen der Syntax, 1957). Nach der Promotion ist er zunächst Assistenzprofessor für Moderne Sprachen und Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1961 wird er Professor und ab 1966 ist er am selben Institut Inhaber des Ferrari-Ward-Lehrstuhls für Moderne Sprachen und Linguistik. Chomskys wissenschaftliches Projekt ist die Erforschung einer Universalgrammatik, die für alle Sprachen der Welt gilt. In den 50er Jahren entwickelt er die generative Transformationsgrammatik, ein Meilenstein in der Geschichte der Linguistik. Zu seinen wichtigsten sprachwissenschaftlichen Veröffentlichungen gehören Language and Mind (Sprache und Geist, 1968) und Reflections on Language (Reflexionen über die Sprache, 1975). Mitte der 60er Jahre tritt Chomsky, der sich selbst als Anarchist bezeichnet, verstärkt mit politischen Vorträgen und Publikationen an die Öffentlichkeit. Er ist ein Gegner des Vietnamkriegs und prangert die US-Politik (samt einiger militärischer Interventionen) in Kuba, Haiti, Osttimor, Nicaragua, Palästina, im Irak und im Kosovo an. Bis heute äußert er sich kritisch zur US-Außenpolitik und zur Macht der Medien. Auch nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York 2001 meldet sich der streitbare Professor zu Wort und erntet mit seiner in den Augen vieler als antiamerikanisch aufgefassten Haltung auch Widerspruch. Chomsky gilt als einer der Vordenker der Globalisierungskritik. Er hat mehrere Auszeichnungen erhalten und ist unbestreitbar einer der wichtigsten Intellektuellen Amerikas.

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