Stefan Zweig
Sternstunden der Menschheit
Vierzehn historische Miniaturen
Reclam, 2013
Was ist drin?
„Männer machen die Geschichte“ (Heinrich von Treitschke) – und Stefan Zweig macht daraus spannende Lektüre.
- Erzählsammlung
- Moderne
Worum es geht
Geschichte aus der Heldenperspektive
Hätte Napoleons Marschall Grouchy während der Schlacht von Waterloo eine andere Entscheidung gefällt, spräche dann heute ganz Europa Französisch? Und wäre das kleine Tor im Stadtwall von Konstantinopel beim Ansturm der Türken verschlossen gewesen, hätten dann rund 550 Jahre später vielleicht die Griechen Deutschland vor der Staatspleite bewahrt? Vielleicht ist es müßig zu spekulieren, doch Stefan Zweig fordert den Leser in den Sternstunden der Menschheit dazu auf, seine Fantasie spielen zu lassen und eine sinnliche Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Unglaublich, was man im Geschichtsunterricht alles verpasst hat: Da kämpfen sich todesmutige Desperados durch den Dschungel und fanatische Forscher über das ewige Eis, während der hochbetagte Goethe im Jugendwahn schwelgt und der greise Tolstoi sich mit seiner Gattin fetzt. Ob Zweig mit diesem Buch Weltliteratur geschaffen hat, bleibt umstritten – mit Sicherheit verschafft es dem Leser aber ein paar Sternstunden fesselnder Lektüre.
Take-aways
- Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit ist eine Sammlung von geschichtlichen Miniaturen.
- Inhalt: 14 triumphierende oder tragische Helden der Weltgeschichte verfolgen ihre Ideen und treffen weitreichende Entscheidungen. Der Bogen spannt sich von der römischen Diktatur über die Schlacht bei Waterloo bis hin zum gescheiterten Versailler Frieden.
- Im Mittelpunkt der Erzählungen steht die seelische Verfassung der Akteure.
- Zweig vertrat ein heroisches Geschichtsbild im Sinne des Historikers Heinrich von Treitschke: „Männer machen die Geschichte.“
- Er war der Ansicht, es gebe keine absolute geschichtliche Wahrheit, weshalb man Geschichte bis zu einem gewissen Grad erdichten müsse.
- Die Kurznovellen entstanden zwischen 1912 und 1940, zu einer Zeit, als der Pazifist und Paneuropäer Zweig zunehmend an der Gegenwart verzweifelte.
- Aus den letzten beiden Texten, „Cicero“ und „Wilson versagt“, spricht Resignation. 1942 nahm Zweig sich das Leben.
- Als das Werk veröffentlicht wurde, konnte es vor allem junge Leser begeistern.
- Bis heute wird darüber gestritten, ob Zweig ein begnadeter Dichter oder ein trivialer Kitschmeister war.
- Zitat: „Manchmal – und dies sind die erstaunlichsten Augenblicke der Weltgeschichte – fällt der Faden des Fatums für eine zuckende Minute in eines ganz Nichtigen Hand.“
Zusammenfassung
Cicero
Nach der Ermordung Caesars beendet Cicero seinen vorzeitigen Ruhestand und eilt nach Rom, um die Republik wiederherzustellen. Doch er muss zusehen, wie dort jeder nur nach seinem eigenen Vorteil trachtet. Entmutigt verfasst er De officiis, sein Werk über die Pflichten des Menschen und über eine moralische Staatsverfassung. Es ist sein Testament an die Menschheit, und es gibt ihm neuen Mut. Als der verhasste Antonius die Macht an sich reißt, unterstützt Cicero öffentlich dessen Gegner, Caesars Adoptivsohn Octavian, und den Feldherrn Lepidus. Doch noch während er auf dem Forum flammende Reden für die Freiheit hält, verbünden sich die drei zum Triumvirat und beschließen Ciceros Tod. Als die Schächer ihn auf der Flucht einholen, wehrt er sich nicht. Seinen Kopf lässt Antonius an jene Rednerbühne nageln, von der Cicero so oft zur Verteidigung der Freiheit aufgerufen hat.
Die Eroberung von Byzanz
Der türkische Sultan Mahomet hat ein Ziel: Konstantinopel zu erobern, das klägliche Überbleibsel der einstigen Weltmacht Byzanz. Den 8000 Verteidigern hinter den mächtigen Stadtmauern steht eine Übermacht von 150 000 Angreifern gegenüber. Doch dann naht Hilfe für Byzanz: Drei genuesische Galeonen und ein byzantinisches Schiff segeln auf die belagerte Stadt zu – bis auf einmal der Wind aussetzt. Fast gelingt den kleineren türkischen Ruderschiffen das Entern, als der Wind wieder anhebt und die christlichen Schiffe in den Hafen treibt. Doch Mahomet gibt nicht auf. Er lässt nachts 70 Schiffe seiner Flotte über die Berge in den vermeintlich uneinnehmbaren Innenhafen des Goldenen Horns tragen. Am 29. Mai 1453 bläst er zum Sturm. Sein Versprechen an die Soldaten: „Jagma“ – Plünderung! Die Belagerten schlagen die Angreifer tapfer zurück. Fast scheint Byzanz gerettet, da dringen die Türken durch die Kerkaporta, ein kleines Tor des inneren Stadtwalls, in die Stadt. Der Widerstand bricht zusammen. Auf Befehl des Sultans wird die Hagia Sophia Allah geweiht. Das mächtige Kreuz im Innern wird abgerissen und fällt polternd auf den Boden.
Flucht in die Unsterblichkeit
Vasco Nuñez de Balboa weiß, dass er in Schwierigkeiten ist: Er hat die Macht in der einzigen spanischen Kolonie auf dem amerikanischen Festland an sich gerissen und außerdem den Gouverneur auf dem Gewissen. Nun braucht er dringend Gold, um den spanischen König zu beschwichtigen. Er beschließt, als Erster den Isthmus von Panama zu durchqueren und das legendäre Goldland am Südmeer zu finden. Mithilfe von Äxten und Schwertern kämpft er sich mit seinen Begleitern durch den glutheißen, mückenverseuchten Dschungel. Am 25. September 1513 erklimmt Balboa einen Gipfel und entdeckt den Pazifischen Ozean. Mit einer feierlichen Geste nimmt er die gesamte sichtbare Welt für die spanische Krone in Besitz. Gedankt wird es ihm nicht: Der neue, vom König geschickte Gouverneur Pedrarias gönnt seinem Rivalen den Erfolg nicht. Als Balboa sich aufmacht, das sagenhafte „Birù“ (Peru) im Süden zu erobern, ruft Pedrarias ihn zurück. Er lässt Balboa festnehmen und hinrichten.
Georg Friedrich Händels Auferstehung
Händel hat sich eben erst von einem schweren Schlaganfall erholt. Außerdem versinkt er immer tiefer in Schulden. Im Moment der größten Verzweiflung erreicht ihn am 21. August 1741 ein Text für ein Oratorium mit dem Titel The Messiah. Schon die ersten Worte klingen in seinen Ohren wie Musik, es ist, als würde Gott zu ihm sprechen. Er schreibt tage- und nächtelang, singt, spielt auf dem Cembalo, isst und schläft kaum noch. Knapp drei Wochen geht das so. Nach einem 24-stündigen Tiefschlaf und einem kräftigen Mahl fühlt er sich wie neugeboren. Händel verspricht, sämtliche Einkünfte aus dem Stück bis an sein Lebensende den Kranken und Gefangenen zugutekommen zu lassen. Schließlich habe er dem Werk seine eigene Genesung und Befreiung zu verdanken.
Das Genie einer Nacht
Der junge Offizier Rouget de Lisle ist kein großer Künstler, aber in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1792 reißt ihn die allgemeine Erregung mit: Frankreich hat Österreich und Preußen den Krieg erklärt, und man hat ihn gebeten, ein Marschlied für die Rheinarmee zu komponieren. Die feurigen Aufrufe des Tages – „Aux armes, citoyens!“ („Zu den Waffen, Bürger!“) – hallen noch in seinen Ohren nach, durch das Fenster dringt der Rhythmus der Straße. Der Dilettant läuft zur Hochform auf, und doch gerät seine Komposition zunächst in Vergessenheit. Zwei Monate später aber singt in Marseille ein Freiwilliger der Nationalgarde ebendieses Lied, ohne dass jemand weiß, wer es geschrieben hat. Seine Kameraden sind wie berauscht. Die Marseillaise reist mit ihnen und verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den Gassen von Paris, selbst in den Kirchen ersetzt sie bald die alten Hymnen. De Lisle, ein Royalist, wird während der Zeit des Terrors als Konterrevolutionär verhaftet und entgeht nur knapp der Guillotine. 40 Jahre nach seiner großen Komposition stirbt er einsam und verbittert.
Die Weltminute von Waterloo
Die Entente-Mächte sind nach Napoleons Rückkehr von Elba entschlossen, den Unruhestifter für immer auszuschalten. Doch der Franzose schlägt die Preußen in Belgien erfolgreich zurück. Bevor er sich in Waterloo der englischen Armee stellt, beauftragt er den braven, verlässlichen Marschall Grouchy, die Deutschen mit einem Drittel der Truppe zu verfolgen. So möchte er einer Vereinigung seiner Gegner zuvorkommen. Die Schlacht von Waterloo beginnt am 18. Juni 1815 um elf Uhr morgens, zwei Stunden später als vorgesehen. Immer wieder rennen die Regimenter gegeneinander an. 10 000 sind bereits tot, alle anderen zu Tode erschöpft. Beide Seiten hoffen auf Verstärkung. Und Grouchy? Der zögert einen Moment, als seine Soldaten ihn drängen, die Verfolgung der Preußen abzubrechen und als Verstärkung zum Hauptheer zu stoßen, entscheidet sich schließlich aber dagegen. Ein verhängnisvoller Fehler: Denn die Preußen haben einen Haken geschlagen und marschieren geradewegs auf das Schlachtfeld von Waterloo zu. Angesichts der anrückenden Gefahr riskiert Napoleon daraufhin alles – und verliert. Grouchys Truppen kommen zu spät.
Die Marienbader Elegie
Am 5. September 1823 reist der 74-jährige Goethe aus Böhmen zurück ins heimische Thüringen. Er hat sich in Karlsbad und Marienbad von einer schweren Krankheit erholt und sich dabei in die 19-jährige Ulrike von Levetzow verliebt. Ihre Jugend hat ihn nicht davon abhalten können, um ihre Hand anzuhalten – vergeblich. Nun, an den langen Tagen in der Kutsche, schreibt Goethe sich den Schmerz von der Seele: Die Marienbader Elegie ist ein schonungslos offenes Zeugnis der Liebe und Hingabe, der freudigen Verheißung der Jugend und der hoffnungslosen Entsagung des Alters. Goethe zeigt das Gedicht nur seinen besten Freunden. Dann bricht der Liebeskranke zusammen und scheint dem Tod nahe. Erst als Zelter ihm immer wieder laut die Elegie vorliest, kehrt seine Lebenskraft zurück.
Die Entdeckung Eldorados
Der Schweizer Bankrotteur Johann August Suter gründet in der völlig verwahrlosten mexikanischen Provinz Kalifornien die Kolonie Neu-Helvetien und errichtet in kürzester Zeit ein landwirtschaftliches Imperium. Als die USA sich die Provinz einverleiben, glaubt er sich am Ziel seiner Träume. Dann findet ein Arbeiter im Januar 1848 auf seinem Besitz Gold. Vom Goldrausch gepackt, lassen Schmiede und Bauern, Schäfer und Soldaten in Amerika und anderswo ihre Arbeit liegen und fallen wie die Heuschrecken über sein Land her. Suter zieht sich mit seinen drei Söhnen in die Berge zurück. Er verklagt die Landräuber – und gewinnt. Doch nun vergreift sich der wütende Mob erst recht an Suters Besitz. Am Ende ist das Land verwüstet und Suters Söhne sind tot. Suter lebt noch 25 Jahre verwirrt und verbittert, in der Überzeugung, eigentlich der reichste Mann der Welt gewesen zu sein.
Heroischer Augenblick
Frühmorgens am 22. Dezember 1849 blickt Fjodor Dostojewski durch das Gitter des Gefängniskarrens auf den Ort seiner geplanten Hinrichtung: Der Petersburger Richtplatz liegt im dunklen Nebel, nur auf die goldene Kirche fällt etwas Morgenlicht. Das Urteil: Tod durch Erschießung. Man verbindet ihm die Augen. In Gedanken sieht er sein Leben vorbeiziehen, die armselige Kindheit, die verlorene Jugend. Plötzlich zerschneidet ein lautes „Halt!“ die Stille. Der Zar hat ihm eine mildere Strafe gewährt. Als man ihm die Augenbinde abnimmt, sieht Dostojewski die Kirchkuppel im erstarkenden Morgenrot glühen. Er spürt, dass er in dieser einen Sekunde der Todesangst gelernt hat, das Leben um des Leidens willen zu lieben.
Das erste Wort über den Ozean
Der amerikanische Geschäftsmann Cyrus W. Field hat eine Mission: die Alte und die Neue Welt durch ein Telegrafennetz miteinander zu verbinden. 2000 Meilen Draht sollen dafür im Ozean verlegt werden. Die ersten beiden Versuche scheitern, und schon steigen die Investoren aus. Beim dritten Mal gelingt der Durchbruch: Zwei Schiffe treffen sich am 28. Juli 1858 in der Mitte des Ozeans, beide haben eine Kabelrolle an Bord, deren Enden nun verbunden werden. Dann fahren sie in entgegengesetzte Richtungen davon, während das Kabel sich auf beiden Schiffen entrollt. Knapp drei Wochen später erreicht ein Telegramm der englischen Königin Amerika. Tagelang wird gefeiert, Field wird wie ein ruhmreicher römischer Feldherr durch die Straßen getragen – und kurz darauf als Betrüger an den Pranger gestellt. Denn der Telegraf ist nach wenigen Tagen wieder verstummt. Es wird noch acht Jahre und zwei weitere Anläufe brauchen, bis das Werk vollbracht ist.
Die Flucht zu Gott
Oktober 1910. Zwei Studenten versuchen, den 82-jährigen Leo Tolstoi dazu zu bewegen, die revolutionäre Jugend Russlands zu unterstützen. Der Alte lehnt zwar jede Form von Gewalt ab, dem Vorwurf der Scheinheiligkeit kann er sich aber nicht entziehen: Schon lange brennt in ihm der Wunsch, dem verwerflichen Leben als reicher Gutsbesitzer zu entfliehen. Nun will er ihn sich erfüllen. Er veranlasst, sämtliche Urheberrechte seiner Werke nach seinem Tod der gesamten Menschheit zu vermachen. Außerdem versucht er eine Versöhnung mit seiner streitbaren Frau Sonja herbeizuführen. Doch diese kann und will seine radikalen Ansichten nicht billigen. Eines Morgens macht Tolstoi sich ohne Abschied davon. Drei Tage später taucht er mit hohem Fieber in einer Eisenbahnstation fernab seiner Heimat wieder auf. Der Stationsvorsteher bietet ihm sein ärmliches Zimmer an, in dem Tolstoi zufrieden stirbt.
Der Kampf um den Südpol
Der Engländer Robert F. Scott bewegt sich mit vier Schlitten durchs Eis, in der Hoffnung, den Südpol als Erster zu erreichen. Immer mühsamer wird der Marsch. Am 16. Januar 1912 sieht die Mannschaft einen dunklen Punkt am Horizont. Zwei Tage später dann die Gewissheit: Der Norweger Roald Amundsen ist ihnen zuvorgekommen und hat sein Zelt und die norwegische Flagge am Pol hinterlassen. Der Rückweg wird zur Tortur. Hunger, Schneetreiben, grausamer Frost: Die Enttäuschung hat den Männern den Mut geraubt. Wofür kämpfen, wenn es nur noch ums nackte Überleben geht? Einer wird wahnsinnig und stirbt. Ein anderer geht freiwillig in den Tod. Am 29. März erfrieren die übrigen drei während eines Schneesturms in ihrem Zelt, nur 20 Kilometer vom rettenden Vorratsdepot entfernt. Scotts Gedanken in diesen letzten Schicksalsstunden sind der Nachwelt durch seine Briefe an Frau und Freunde überliefert: Es sind Worte voller Nächstenliebe, Demut und Bescheidenheit.
Der versiegelte Zug
Die Nachricht vom Ausbruch der russischen Revolution erreicht Lenin im Zürcher Exil. Doch es ist nicht der Aufstand der Massen, den er sich erhofft hat. Er will zurück in die Heimat, um sich an die Spitze einer wahren Revolution zu setzen. Nur wie? Die Gemäßigten in der provisorischen Regierung Russlands versuchen mit aller Macht, Radikale wie ihn an der Rückkehr zu hindern. Die Deutschen aber lassen sich aus Eigeninteresse – die USA stehen kurz vor dem Kriegseintritt, darum braucht Deutschland unbedingt Frieden mit Russland – auf einen Pakt ein. Lenins Bedingung: Der Zugwaggon muss zum extraterritorialen Gebiet erklärt werden. Am 9. April 1917 rollt ein Zug von Zürich in Richtung deutsche Grenze, wo Lenin mit einigen Genossen in den „plombierten Zug“ umsteigt. Als dieser in Petrograd eintrifft, wird Lenin von jubelnden Massen begrüßt.
Wilson versagt
Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hat eine Vision: Mit der Gründung des Völkerbunds soll der Wille der Völker über den Egoismus der Herrscher triumphieren. Doch während der Verhandlungen zum Versailler Friedensvertrag beißt er damit auf Granit. Abrüsten und die Wehrpflicht abschaffen? Das ist mit den herrschenden europäischen Militärs nicht zu machen. Selbstbestimmung der Völker? Jede Nation verlangt nach mehr Land und fordert ihren Anteil an der Kriegsbeute. Ein Prinzip nach dem anderen wird verworfen. Am 7. April 1919 droht Wilson, die Konferenz zu verlassen, wird aber von den eigenen Beratern zurückgepfiffen. Acht Tage später gesteht er Frankreich die Saar zu. Der Kompromiss zieht weitere nach sich, und der Traum vom ewigen Frieden ist Geschichte.
Zum Text
Aufbau und Stil
Zwölf der vierzehn Miniaturen in den Sternstunden der Menschheit sind kurze historische Novellen. Neben diesen Prosatexten wird der „Heroische Augenblick“ Dostojewskis in Form eines Gedichts erzählt, während Tolstois „Flucht zu Gott“ dramatisch verfasst ist. In allen Texten steht das mythisch überhöhte Schicksal einer einzigen Person im Mittelpunkt. Zweig interessiert sich nicht für historische Genauigkeit, sondern will nach eigener Aussage „dramatisch geballte“ Momente einfangen, in denen sich seiner Auffassung nach der Lauf der Menschheitsgeschichte entschied. Kunstvoll entstaubt er die Historiografie der vergangenen 2000 Jahre. Die mitreißenden, überwiegend im Präsens erzählten Kurzgeschichten erinnern an Dokudramen. Zweigs Stil mag bisweilen pathetisch und kitschig erscheinen, doch durch die erlebte Rede der Erzählfiguren kann der Leser unmittelbar an ihren seelischen Konflikten teilnehmen; Superlative, Ausrufe, rhetorische Fragen und retardierende Momente vor dem Wendepunkt sorgen für Spannung.
Interpretationsansätze
- Sternstunden der Menschheit beschreibt intensive Schicksalsmomente im Leben berühmter Menschen: Abenteurer und Forscher, Dichter und Komponisten, Feldherren und Politiker haben durch ihren Triumph oder ihr Scheitern die Welt verändert. Dahinter steht Zweigs heroisches Geschichtsbild: Nicht kollektive Kräfte, sondern große Charaktere bewegen das Weltgeschehen.
- Alle Protagonisten sind von einer Idee besessen. Sie wenden schier unmenschliche Willenskraft auf, um sich ihren Traum zu erfüllen. Viele scheitern – doch der Größe ihrer Unternehmen tut das bei Zweig keinen Abbruch. Im Gegenteil: Der Autor erzählt das Schicksal seiner gefallenen Helden mit ausgeprägtem Mitgefühl.
- In den Miniaturen besteht ein ungelöstes Spannungsverhältnis zwischen autonom handelnden Menschen und einer höheren Instanz mit einem unergründlichen Plan, die ihr Schicksal lenkt. Es geht also um die viel diskutierte Frage, ob Geschichte eine tiefere Bedeutung und ein klares Ziel hat oder ob sie vom blinden Zufall bestimmt wird.
- Zweigs Menschenbild ist eurozentrisch und elitär: Dass vor Balboa schon zahllose Indios den Pazifischen Ozean erblickt haben, scheint ihm nicht der Rede wert zu sein. Der weit Gereiste glaubte fest an die intellektuelle und kulturelle Überlegenheit der europäischen Geisteselite, selbst wenn er zunehmend unter dem Eindruck litt, sie habe der Dumpfheit und den niederen Instinkten der gewöhnlichen Menschen nichts entgegenzusetzen.
- Die zuletzt entstandenen Miniaturen „Cicero“ und „Wilson versagt“ bilden die Klammer um eine knapp 2000 Jahre umspannende Geschichte, in der die Menschheit auf den Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Technik Großes erreichte, an deren Ende sie aber in Fragen der politischen Moral auf ein vorzivilisatorisches Niveau zurückfiel. Der Autor zieht Parallelen zwischen der Diktatur im alten Rom und jener in Nazideutschland, er thematisiert sein persönliches Exildrama und sieht in Wilsons tragischem Scheitern eine Hauptursache für das Ende des paneuropäischen Traums.
Historischer Hintergrund
„Männer machen die Geschichte“
„Die Geschichte der Welt ist nichts als die Biografie großer Männer“, schrieb der schottische Historiker Thomas Carlyle 1841, und sein deutscher Kollege Heinrich von Treitschke pflichtete ihm knapp 40 Jahre später bei: „Männer machen die Geschichte.“ Die Kernthese des Individualismus lautete: Einzelne Persönlichkeiten – natürlich vor allem männliche und europäischstämmige – haben in Eigenregie die Weichen der Weltgeschichte gestellt. Zwar relativierten einige Historiker diese Sichtweise um 1900, indem sie der Kultur, den sozialen Verhältnissen und den Gruppen eine größere Bedeutung zuerkannten, zulasten des einsamen Helden. Doch über die allgemeine Stoßrichtung war man sich in der Tradition der Aufklärung weitgehend einig: Die Geschichte werde sich stetig und linear in die Richtung von mehr Fortschritt, Rationalität und Freiheit bewegen.
Dieser Fortschrittsoptimismus fand in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und den Wirren der Nachkriegszeit ein jähes Ende. Die Menschheit schien in die Barbarei zurückgefallen zu sein, Jahrhunderte der zivilisatorischen Errungenschaften waren wie ausradiert. Und die bittere Ironie: Die industrielle Moderne mit ihren atemberaubenden Leistungen in Wissenschaft und Technik hatte die Katastrophe erst möglich gemacht. Den Traum von einem geeinten, friedlichen und humanistischen Europa musste das gebildete und kosmopolitische Großbürgertum erst einmal begraben.
Entstehung
Zum Großbürgertum gehörte auch der assimilierte Wiener Jude Stefan Zweig. Er hielt Geschichtliches insgesamt für eine langweilige Angelegenheit, mit Ausnahme jener Momente, in denen die Geschichte sich zur „Dichterin“ aufschwinge und „eine Sternstunde der Menschheit“ in Erscheinung trete. Er behauptete zwar, diesen leuchtenden Augenblicken in seinen Sternstunden nichts hinzugedichtet zu haben. Allerdings stand dem seine Überzeugung gegenüber, die eine geschichtliche Wahrheit als solche existiere nicht. Zweig verglich die Geschichte mit einer Artischocke: Sie habe mehrere Schichten, weshalb man sie bis zu einem gewissen Grad erdichten müsse. Er war überzeugt: „Wer Geschichte verstehen will, muss Psychologe sein, er muss eine besondere Art des Lauschens, des sich Tief-in-das-Geschehnis-Hineinhorchens besitzen (...).“
Zweig, ein Freund Sigmund Freuds, perfektionierte diese Kunst in der Zeit zwischen 1912 und 1940, in der die Miniaturen entstanden. Der Pazifist und polyglotte Weltenbummler hatte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, wie viele seiner Zeitgenossen, von der Entstehung eines Weltbürgertums geträumt und versuchte nun, den Schmerz und die Enttäuschung durch das Schreiben zu lindern: „Immer lockte es mich, die innere Verhärtung zu zeigen, die jede Form der Macht in einem Menschen bewirkt, die seelische Erstarrung, die bei ganzen Völkern jeder Sieg bedingt.“ Doch seine Rufe verhallten ungehört. Die letzten Miniaturen „Cicero“ und „Wilson versagt“ verfasste er auf der Flucht vor den Nazis im englischen Exil. Seine Resignation ist darin deutlich zu spüren. Einen Monat nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schrieb er seinem Freund Romain Rolland über Cicero: „Er ist unser Mann, der für unsere Ideen starb, in Zeiten, die grausam den unseren glichen.“
Wirkungsgeschichte
Die erste Ausgabe der Sternstunden der Menschheit mit fünf Miniaturen erschien 1927, eine erweiterte mit zwölf Geschichten kam 1943 in Stockholm heraus – ein Jahr nach Zweigs Selbstmord. Schon bald wurden die Sternstunden zu einem seiner populärsten Werke: Vor allem die Jugend begeisterte sich für Zweigs Art, Geschichte zu erzählen. Der Schriftsteller Max von der Grün berichtete, wie er 14-jährig mit dem Büchlein seine persönliche Sternstunde erlebte: „Stefan Zweig hat mich zur Literatur gebracht.“ Selbst Thomas Mann, der sich oft abfällig über den Erfolgsautor der 1920er- und 1930er-Jahre geäußert hatte, schrieb in einem versöhnlich klingenden Nachruf: „Was ich am meisten an ihm bewunderte, war die Gabe, historische Epochen und Gestalten psychologisch und künstlerisch lebendig zu machen.“
Andere sahen darin den Beweis, dass Zweig bestenfalls ein leidlich begabter Biograf und Wiederkäuer der Geschichten anderer war. Sie kritisierten seinen Stil als trivial, prätentiös und abgedroschen, warfen ihm unpolitischen Pazifismus und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der europäischen Juden vor. Zweigs Vorbild Hugo von Hofmannsthal veralberte ihn mit der Bezeichnung „Erwerbszweig“, und Marcel Reich-Ranicki fand viele seiner Bücher „zwar sehr unterhaltsam, doch nicht ganz seriös“. In der kontroversen Schmähschrift Vermicular Dither („Wurmartiges Zaudern“) verhöhnte Michael Hofmann 2010 sogar den Abschiedsbrief des depressiven Selbstmörders als halbherzig und gekünstelt: „Stefan Zweig schmeckt einfach falsch. Er ist die Pepsi der österreichischen Schriftstellerei.“
Über den Autor
Stefan Zweig wird am 28. November 1881 in Wien geboren; die Familie ist jüdischer Herkunft. Der Junge wächst in großbürgerlichem Milieu auf und erhält eine umfassende humanistische Bildung. Er studiert Philosophie, Germanistik und Romanistik in Wien und Berlin. Schon früh betätigt sich Zweig als Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber, bereits 1901 erscheint mit Silberne Saiten sein erster Gedichtband. Nach der Promotion 1904 unternimmt er zahlreiche Auslandsreisen, die ihn bis nach Amerika und Indien führen. 1920 heiratet er Friderike von Winternitz. Den aufkommenden Nationalsozialismus betrachtet er als Humanist und Pazifist zwar mit Sorge, entscheidet sich aber für eine weitgehend unpolitische Haltung. Dass diese Zurückhaltung unangebracht ist, bekommt er schon bald zu spüren: Als die Nationalsozialisten 1933 die Bücher unliebsamer Autoren verbrennen, sind auch Zweigs Werke darunter. Im Zuge der wachsenden politischen Unruhen in Österreich und unter dem zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten wird das Haus Zweigs 1934 nach Waffen durchsucht. Daraufhin entschließt er sich zur Emigration nach England – ohne seine Frau. In London beginnt er eine Beziehung mit seiner Sekretärin Lotte Altmann. Diese heiratet er 1939, nachdem er sich ein Jahr zuvor von Friderike hat scheiden lassen. Angesichts der zunehmenden militärischen Erfolge der Nazis fühlt sich Zweig auch in England nicht mehr sicher. 1940 emigriert er in die USA, ein Jahr später nach Brasilien. Zusammen mit Lotte lebt er in Petrópolis, in der Nähe von Rio de Janeiro. Das Grauen des Zweiten Weltkriegs und der Siegeszug der Nationalsozialisten erschüttern ihn so sehr, dass er zunehmend an Depressionen leidet. Schließlich nimmt er sich gemeinsam mit seiner Frau am 23. Februar 1942 das Leben. Zu Zweigs wichtigsten Werken zählen die Schachnovelle (1942), die Erzählungen Brennendes Geheimnis (1911) und Verwirrung der Gefühle (1927), der Roman Ungeduld des Herzens (1938) und die Autobiografie Die Welt von Gestern (postum 1942 erschienen).
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