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Stille Zeile Sechs

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Stille Zeile Sechs

Fischer Tb,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Geschliffen und voller Untiefen – Monika Marons Roman über die Abenddämmerung der DDR.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Gegenwartsliteratur

Worum es geht

Die Wut der Tochter

Rosa Polkowski, die Protagonistin in Monika Marons Roman Stille Zeile Sechs, ist keine Heldin. Sie verabscheut die Generation ihres Vaters, die mit der Mauer und ihrer Engstirnigkeit das Leben in der DDR so wenig lebenswert gemacht haben. Der Roman versetzt den Leser in die Abenddämmerung der DDR, als das Ende schon unausweichlich, aber noch nicht absehbar war. Die bedrückende geistige Enge, der Rückzug ins Private werden greifbar; der Roman lässt mehr Raum für das Selbstgespräch der Hauptperson als für die äußeren Geschehnisse. Mit Rosa, die sich selbst wie von außen betrachtet und auf ein „Übermorgen“ wartet, das nie kommt, hat Monika Maron eine zeitlose Figur geschaffen, die viel Fläche zur Identifikation bietet.

Take-aways

  • Stille Zeile Sechs ist einer der bekanntesten Romane der deutschen Schriftstellerin Monika Maron.
  • Inhalt: Rosa Polkowski arbeitet Mitte der 80er-Jahre als Schreibkraft für den ehemaligen SED-Funktionär und Professor Herbert Beerenbaum. Ihre Wut auf die Verhältnisse entlädt sich in den Gesprächen mit dem bornierten alten Mann. Er stirbt und hinterlässt ihr das Manuskript seiner Biografie, die sie für ihn aufgeschrieben hat.
  • Die Geschichte wird in Rückblicken erzählt, während Rosa Beerenbaums Beerdigung besucht.
  • Die Figur Rosa Polkowski war bereits die Protagonistin von Marons zweitem Roman Die Überläuferin.
  • Der Roman kann dem Genre der Väterliteratur zugeordnet werden.
  • Maron schrieb das Buch in Hamburg, nachdem sie 1988 die DDR verlassen hatte.
  • Internationale Anerkennung gewann schon ihr erster Roman Flugasche.
  • Im Roman finden sich mehrere autobiografische Züge. So war etwa Marons Stiefvater DDR-Innenminister.
  • Maron hat in den letzten Jahren vor allem mit kritischen Zeitungsartikeln für Aufsehen gesorgt.
  • Zitat: „Während ich widerspruchslos hinschrieb, was Beerenbaum diktierte, fragte ich mich immer öfter, ob ich mich nicht zum Mittäter machte, ob ich nicht sein Komplize wurde, indem ich ihm half, das eigene Denkmal in Lettern zu gießen.“

Zusammenfassung

Eine Begegnung im Café

Rosa Polkowski ist auf dem Weg zur Beerdigung von Herbert Beerenbaum. Er soll im sogenannten Ehrenhain auf dem Pankower Friedhof beigesetzt werden, wo wichtige Persönlichkeiten beerdigt werden. Der Weg führt sie durch das Villenviertel, das „Städtchen“ genannt wird. Hier hat bis in die 50er-Jahre die Regierung residiert. Einige der ehemaligen Gästehäuser werden nun von ehemals wichtigen Menschen wie Beerenbaum bewohnt. Die Gegend ist ruhig, Autoverkehr ist untersagt und man trifft kaum einen Menschen auf der Straße. In der Stillen Zeile Sechs, wo Beerenbaum gewohnt hat, sieht Rosa das Auto seines Sohnes Michael vor der Tür stehen.

„Beerenbaum wurde auf dem Pankower Friedhof beigesetzt, in jenem Teil, der Ehrenhain genannt wurde und in dessen Erde begraben zu werden der Asche so bedeutender Personen wie Beerenbaum vorbehalten war.“ (S. 7)

Rosa hat Beerenbaum in dem Café kennengelernt, wo sie ihre Nachmittage verbringt und Menschen beobachtet, die von der Arbeit heimkehren. Wie viele andere prägt sie sich auch diesen Unbekannten anhand seines Ganges ein: sicher und etwas forsch, als sei er früher ein Vorgesetzter gewesen. Sie hat ihn schon öfter gesehen und zugeschaut, wie er mit jüngeren Menschen das Gespräch suchte. Nun setzt er sich zu ihr. Rosa findet ihn unsympathisch – alte Männer sind ihrer Erfahrung nach nur selten liebenswürdig. Im Lauf des Gesprächs fragt er sie nach ihrer beruflichen Tätigkeit. Rosa erklärt, dass sie von einfachen Schreibarbeiten lebt, weil sie nicht mehr für Geld denken will.

„Beim Suppekochen so dahingedacht: eine Katze sein, statt dieses Hundeleben zu führen, irgendwo seine Nahrung holen, sich höflich bedanken und dann zu seinesgleichen ziehen und tun, wozu man Lust hat.“ (S. 21)

Ein halbes Jahr vorher hat sie ihren Job aufgegeben. Sie war als Historikerin in einer Forschungsstätte angestellt. Eines Abends bekam sie Besuch von einer Straßenkatze und sagte sich, dass dies das perfekte Leben sei: Die Katze sichert sich ihr Überleben genauso wie sie selbst, muss sich dafür allerdings nicht jeden Tag in einem Zimmer einsperren und denken. Am nächsten Morgen ging sie nicht zur Arbeit.

Biografie eines Funktionärs

Rosa schaut sich ihr Gegenüber im Café genauer an. Sein Gesicht wirkt anmaßend, borniert und müde. Es erinnert Rosa an ihren Vater. Sie ist neugierig geworden und schlägt ihm vor, seine Biografie zu erraten, die sie an seinem Äußeren ablesen will. Sie skizziert ihn so: Arbeiterkind, Handwerkerausbildung, dann in die Kommunistische Partei eingetreten, nach 1933 nach Russland emigriert, wahrscheinlich Moskau im Hotel Lux, 1945 zurückgekehrt, Parteifunktionär. Ihr Gegenüber ist überzeugt, dass sie ihn kennt und deswegen seine Biografie so genau wiedergeben kann. Er gibt sich als Professor Herbert Beerenbaum zu erkennen und bietet ihr einen Job als Schreibkraft an: Sie soll seine Memoiren aufschreiben, da er seine rechte Hand aufgrund eines Tremors nicht mehr benutzen kann. Dafür soll sie 500 Mark im Monat bekommen.

„Vor einem Jahr hatte ich den Mann noch nicht gekannt, nur seinen Namen wie andere Namen, die oft in den Zeitungen standen. Dann war er in mein Leben eingebrochen wie die Pest.“ (S. 32)

Die Beerdigung von Beerenbaum soll um zwei Uhr beginnen. Rosa ist eine Viertstunde zu früh. Sie beobachtet die Trauergäste und fragt sich, ob es unpassend oder provokativ ist, dass sie hier ist. Sie hat Beerenbaum noch im Krankenhaus besucht. Er war kaum noch als Mensch zu erkennen gewesen, so eingesunken und verfallen sah er aus. Sie wäre bereit gewesen, alle ihre Vorwürfe zurückzunehmen, die wohl zu seinem Herzinfarkt geführt hatten. Doch dann streckte Beerenbaum seine Hand nach ihr aus. Auf der Beerdigung ist sie, weil sie sehen will, wie er begraben wird. Sie braucht diesen endgültigen Abschied. Außerdem muss sie wissen, ob jemand um ihn weint.

Pläne und Wirklichkeit

Rosa wollte in diesem Sommer Klavier spielen lernen. Ein Kindheitstraum, der jetzt in greifbare Nähe gerückt ist, nachdem ein alter Freund, der Graf Karl-Heinz Baron, ihr ein Klavier als Leihgabe gegeben hat. Doch ihre Nachbarin Thekla Fleischer, die ihr als Klavierlehrerin Unterricht geben könnte, ist frisch verliebt und Rosa will ihr Glück nicht durch ihr Anliegen trüben. Auch Rosas zweites Projekt, eine deutsche Version der Rezitative aus Don Giovanni zu verfassen, liegt auf Eis. Sie hat sich vorgenommen, das notwendige Material zu besorgen, aber nun, Ende des Sommers, fehlt das meiste noch immer. Ihr fehlendes Vorwissen allerdings – sie kennt sich weder mit Opern aus, noch spricht sie Italienisch – versteht sie eher als Vorteil: So kann sie unvoreingenommen ans Werk gehen. Ein drittes Projekt ist die Auseinandersetzung mit dem Werk Ernst Tollers und seiner Frage, ob der Handelnde immer schuldig werden muss. Doch auch damit befasst sie sich nicht. Stattdessen verbringt Rosa den Sommer auf dem Land in dem Haus, das sie vor sechs Jahren zusammen mit ihrem Exfreund Bruno gekauft hat und das sie auch nach der Trennung behalten haben.

Als sie zum ersten Mal zu Beerenbaums Haus geht, ist sie gerade erst wieder in der Stadt angekommen. Beerenbaum empfängt Rosa in seinem Wohnzimmer, das genauso aussieht wie das ihrer Eltern: Die Schrankwand, der Perserteppich, die Polstergarnitur, sogar die russischen Holzpuppen sind die gleichen. Beerenbaum hat nach dem Tod seiner Frau vor drei Jahren alles unverändert gelassen. Er erklärt ihr, dass sie gern Kritik üben dürfe, wenn sie seine Erinnerungen aufschreibt. Sie erkennt, dass er mehr von ihr verlangt, als nur niederzuschreiben, was er sagt. Sie gehen ins Arbeitszimmer, er an den Schreibtisch, sie an einen kleinen Tisch mit einer gewaltigen Schreibmaschine. Immer dienstags und freitags um drei Uhr ist sie pünktlich bei ihm, um jeweils fünf Seiten vollzuschreiben. Zunächst verläuft die Zusammenarbeit nahezu harmonisch. Die Arbeit gibt Rosas Leben ein bisschen Struktur zurück.

Unwirkliche Ereignisse

Die Trauergäste auf dem Friedhof gehen in die Kapelle. Rosa muss als Einzige stehen. Sie erinnert sich, wie ihre Tante Ida starb. Sie hatte verbrannt werden wollen, vermutlich aus Angst vor den Würmern. Bei der Beerdigung ihrer Großmutter im Sommer 1945 sollen angeblich die Maden aus dem aufgebahrten Sarg gefallen sein.

Beerenbaum diktiert Rosa seine Kindheit. Alles, was er erzählt, scheint dazu zu dienen, sein späteres Leben zu begründen. Schon früh hat er demnach seinen „Klasseninstinkt“ gezeigt – dasselbe Wort hat auch Rosas Vater gern benutzt. Rosa fällt es immer schwerer, Beerenbaums Memoiren unkommentiert niederzuschreiben. Die Art und Weise, wie Beerenbaum sich als kleiner Junge beschreibt, und der selbstsichere Ton, in dem er von seiner Kindheit erzählt, ekeln sie an.

„Während ich widerspruchslos hinschrieb, was Beerenbaum diktierte, fragte ich mich immer öfter, ob ich mich nicht zum Mittäter machte, ob ich nicht sein Komplize wurde, indem ich ihm half, das eigene Denkmal in Lettern zu gießen.“ (S. 77)

In der Kneipe trifft Rosa ihren Freund, den Grafen. Er erzählt, dass Bruno bei seiner letzten Freundin ausgezogen ist. Rosa wusste noch gar nichts von dieser Beziehung. Sie ist seit einigen Monaten von Bruno getrennt, aber sie können sich nicht einigen, wer wen verlassen hat – beide behaupten, verlassen worden zu sein. Der Graf stammt aus reichem Haus und versucht, mit seiner Sprache an die vergangene Zeit zu erinnern. Zu den „Standespersonen“, von denen er gern spricht, zählt er Menschen, die entweder selbst gebildet sind oder vor Bildung Respekt haben. Bruno gesellt sich zu ihnen. Der Graf und Bruno sind die Anführer der „Kneipenpersönlichkeiten“ und von Brunos Stimmung hängt es ab, ob es ein Besäufnis oder ein gelungener Abend wird. Rosa hat nie wirklich einen Platz in der Gruppe gefunden. Bruno zufolge ist die Kneipe der letzte Hort männlicher Freiheit.

Statt sich auf die philosophischen Diskussionen einzulassen, die immer entbrennen, wenn Bruno zu trinken beginnt, geht Rosa nach Hause. Dort setzt sie sich in einen der sechs schwarzen Ledersessel, die sie einem Bekannten abgekauft hat und die sie an Männer in schwarzen Anzügen erinnern. Sie trinkt eine angefangene Flasche Wein zu Ende und holt sich die nächste. Im Strauß auf dem Tisch steckt eine Cosmeablüte, die sich Rosa zuneigt. Rosa glaubt, dass alle Wesen einmal Mensch, Tier und Pflanze sein müssen. Beerenbaum sieht aus wie ein Froschlurch, vielleicht weil er einmal einer war oder noch werden wird. Wahrscheinlich, denkt Rosa, wird man zuerst Mensch, dann Tier und dann Pflanze; je mehr man über das Leben weiß, desto schweigsamer muss man werden. Vermutlich ist die Cosmea schon Mensch und Tier gewesen und will Rosa vor ihrer Zukunft warnen. Sie küsst die Blüte.

Auf der Trauerfeier hält ein Mann mit dem unnatürlichsten Doppelkinn, das Rosa je gesehen hat, eine Rede. Solche Doppelkinne entstehen, wie Rosa vermutet, im Gegensatz zu natürlichen Doppelkinnen nicht durch Lebensstil oder Veranlagung, sondern durch die soziale Position. Personen, deren Körper zugleich Symbol für die Autorität des Staates ist, nehmen oft eine Körperhaltung mit vorgewölbter Brust und gebeugtem Kopf ein, die langfristig zu einem Doppelkinn führt. Rosa stellt sich vor, dass das Doppelkinn platzt. Ihr wird übel. Sie singt sich stumm Donna Annas Arie aus Don Giovanni vor.

Die Lage eskaliert

An einem Freitag, Rosa arbeitet schon seit sechs Wochen für Beerenbaum, hat Rosa Kopfschmerzen. Ihre Bekannte Irma kommt zu Besuch. Sie kommt immer nur dann vorbei, wenn sie deprimiert ist. Irma ist sicher, dass es bald Krieg zwischen Russland und China geben wird, und glaubt, dass sie alle gemeinsam verrückt werden und es vielleicht selbst nicht bemerken. Die Vorstellung begleitet Rosa bis zu Beerenbaum. Der hat an diesem Tag einen Gast, den Schriftsteller Victor Sensmann. Sensmann will einen Roman über die Berliner Universität in den 60er-Jahren schreiben und erhofft sich Auskünfte von Beerenbaum. Rosa erträgt die Vorstellung nicht, man könne sie für Beerenbaums Handlangerin halten. Beerenbaum und Sensmann unterhalten sich über den tragischen Verlust junger Menschen, die in jener Zeit aus der DDR flohen. Rosa wird wütend und merkt sarkastisch an, dass der Tod dieser jungen Menschen nur allzu leicht hingenommen wurde.

„Eine halbe Stunde später stand ich schreiend zwischen der spiegelblanken Schrankwand und der samtbezogenen Polstergarnitur, beschimpfte Sensmann als einen widerlichen Schleimscheißer und Beerenbaum als engstirnigen Bonzen, deren Handlanger ich keine Sekunde länger sein wollte.“ (S. 106)

Als Kind ging Rosa zur selben Schule, an der ihr Vater Direktor war. Er war aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen, als sie sieben war. Er beachtete sie kaum und Rosa dachte sich Fragen über den Kommunismus aus, um ihn zum Reden zu bringen. Einmal fragte sie, warum die Arbeiterklasse den Faschismus nicht verhindert habe. Ihr Vater war außer sich und warf ihr vor, den Opfern die Schuld zu geben. 

„Willst du sagen, nicht der Täter, sondern das Opfer sei schuldig, schrie mein Vater. Wenn das Opfer sich nicht wehrt, hat es auch Schuld, schrie ich. Ich kämpfte um die Schuld des Opfers wie um mein Leben.“ (S. 112)

Genauso wie damals im Wohnzimmer ihrer Eltern fühlt sie sich jetzt bei Beerenbaum. Sie verliert die Fassung und schreit die beiden Männer an. Rosa kann sich nicht mehr einreden, für Beerenbaum nur ein teilnahmsloses Werkzeug zu sein. Sie hätte gern die Distanz eines Forschers, der keine Moralurteile fällt, doch sie merkt, dass sie Beerenbaum hasst – unter anderem, weil sie ihn fürchtet. Sie beschließt, nicht mehr für ihn zu arbeiten.

Die Schuld der Opfer

Auf der Beerdigung fragt sich Rosa, wer wohl den riesigen Kranz gespendet hat. Sie erinnert sich daran, wie Beerenbaum einmal Nasenbluten bekam, als sie ihn nach den Deportierten des Hotel Lux fragte. Bei ihrem nächsten Treffen diktierte er Rosa, dass seine Frau Grete ab 1939 im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert war, woraufhin er aufgebracht das Zimmer verließ. Rosa wurde klar, dass sie nicht gewinnen kann gegen Menschen, die auf jeden Vorwurf mit dem Hinweis auf Ravensbrück oder Buchenwald antworten können. In der Kapelle werden die Kränze herausgetragen. Der große Kranz ist von der Stasi.

„Sie haben immer Recht, dachte ich, was ich auch sage, alles Unglück gehört schon ihnen, den glücklichen Besitzern von Biografien. Kaum mach ich das Maul auf, um meine eigene einzuklagen, stoßen sie mir einen Brocken wie Ravensbrück oder Buchenwald zwischen die Zähne.“ (S. 141)

Drei Tage nach dem Vorfall mit Sensmann ruft Beerenbaum an, um Rosa zu informieren, dass er am kommenden Dienstag verhindert ist und sie sich deshalb erst wieder Freitag sehen würden. Rosa wollte eigentlich kündigen, ist nun aber überrumpelt. Als sie sich schließlich wiedersehen, will Beerenbaum sich mit ihr versöhnen. Er fragt sie, was sie so gegen ihn aufbringe, ob sie eine Männerfeindin sei. Er sagt, Rosa erinnere ihn an seine verstorbene Frau. Er rezitiert ein Gedicht, das er für Grete geschrieben hat. Er erzählt, dass sie Parteigenossin gewesen war, „seine Genossin“, und wie sie sich nach zwölf Jahren Krieg wiederfanden. Rosa denkt, dass ihre Generation sich erst entfalten kann, wenn Beerenbaums Generation gestorben ist, doch diese Zukunft bleibt ein „ewiges Übermorgen“. So kann sie nicht anders, als Beerenbaums Tod zu wünschen.

„Morgen war noch nicht mein Tag. Was morgen geschehen würde, stand schon in Beerenbaums Terminkalender. Übermorgen war der Tag nach Beerenbaums Tod.“ (S. 155)

Als Rosa zehn Jahre alt war, fuhren ihre Eltern nach Thüringen in den Urlaub, und Rosa ließ sich von ihrer Tante Ida zeigen, wie man Zitronencreme macht. Es war das Lieblingsgericht ihres Vaters. Als er zurückkam, aß er eine riesige Portion, ohne sich dafür zu bedanken. Das, erklärt sie Beerenbaum, ist für sie ein Kommunist: Jemand, der so von der Idee der Weltrevolution eingenommen ist, dass er in einer solchen Situation nicht daran denkt, sich zu bedanken; nichts ist wichtiger als der Kommunismus. Der allerdings ist für Rosa nicht besser oder schlechter als die Kommunisten selbst. 

In der Kneipe trifft sie Bruno und den Grafen. Es stellt sich heraus, dass Beerenbaum vor Jahren für die Verhaftung des Grafen verantwortlich war. Der Graf hatte 1962 ein Manuskript an einen Kollegen geschickt, der zuvor nach West-Berlin geflohen war, und war aufgrund einer Stellungnahme Beerenbaums zu dem Vorfall zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Eine Hochzeit und eine Beerdigung

Im Januar feiern Thekla Fleischer und ihr Geliebter in einer verlassenen Friedhofskapelle in der Nähe von Rosas und Brunos Sommerhaus Hochzeit. Bruno hält eine bewegende Rede. Rosa nimmt Klavierunterricht bei Thekla. Sie erwartet nicht, dass das Lernen sie glücklicher macht, aber zumindest auch nicht unglücklicher. Als sie wieder zu Beerenbaum kommt, erfährt Rosa, dass er krank ist und die heutige Sitzung eigentlich hat absagen wollen. Beerenbaum bittet sie dennoch herein. Rosa fragt ihn nach dem Grafen, doch Beerenbaum winkt ab. In der Erinnerung an das anschließende Ereignis sieht sich Rosa wie von außen. Sie sieht, wie sie Beerenbaum vorwirft, dass sie den Grafen weggesperrt hätten, weil sie selbst keine Bildung hatten und deshalb seine für sich beanspruchten. Sie sieht, wie sie ihn kreischend als Menschenfresser und Sklavenhalter anklagt. Und schließlich, wie Beerenbaum einen Herzanfall hat.

„Rosalind beugte sich vor, die Arme auf die Tastatur der Schreibmaschine gestützt. Bei jeder Silbe stieß sie den Kopf in die Luft wie ein bellender Hund. Hirne konfiszieren. Ihr habt Hirnmasse konfisziert, weil ihr selbst zu wenig davon hattet.“ (S. 206)

Auf dem Friedhof folgt sie dem Sarg und fragt sich, ob sie ihre Schuld sucht, um nicht Opfer sein zu müssen. Hatte sie das Recht, Beerenbaum im Alter von 78 Jahren, obwohl er krank war, diese Vorwürfe zu machen? Am Grab lässt Rosa Blumen in die Grube fallen. Als sie daraufhin Michael Beerenbaum ansieht, der mit seiner Familie am offenen Grab steht, wendet der sich ab. Auf der Straße wartet Michael auf sie und überreicht ihr ein Paket. Sie will es nicht öffnen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Auf gut 200 Seiten erzählt Monika Maron die Geschichte von Rosa Polkowski und ihrer Beziehung zu Herbert Beerenbaum. Die erzählte Zeit umfasst ungefähr ein halbes Jahr von ihrem ersten Treffen bis zu Beerenbaums Beerdigung. Erzählt wird in verschiedenen Rückblicken, die in den Bericht von der Beerdigung eingebettet sind. Sie unterbrechen die Beerdigungshandlung immer wieder, vermischen sich manchmal sogar fast mit ihr. Durch die vielen Wechsel muss sich der Leser bei jedem Rückblick neu orientieren, an welchem Punkt der Geschichte er sich befindet. Der Stil ist flüssig und reich an Metaphern, besonders dann, wenn die erklärte Menschenbeobachterin Rosa ihre Erkenntnisse wiedergibt. Die realistische Darstellung wird durchbrochen von Tagträumen und einer fantastischen Szene zwischen Rosa und der Cosmeablüte. Eine genaue Jahresangabe fehlt, aus Hinweisen im Text lässt sich jedoch schließen, dass die Geschichte Mitte der 80er-Jahre spielt.

Interpretationsansätze

  • Zentrales Thema des Romans ist das Leben in der DDR. Die Überwachung durch den Staat wird oft nur unterschwellig deutlich. Die Intellektuellen Rosa, Bruno und der Graf stehen denjenigen gegenüber, die nur durch ihre Dienste für die Partei auf ihre Posten gekommen sind wie Rosas Vater und Herbert Beerenbaum.
  • Der Roman kann als Werk der Väterliteratur gewertet werden. In diesem Genre setzen sich Autoren mit den Taten ihrer Väter und ihren entsprechenden Beziehungen zu ihnen auseinander – meist im Zusammenhang mit der NS-Zeit. Der Roman wirft an verschiedenen Stellen die Frage auf, wer das Recht hat, Geschichte zu schreiben. 
  • Den Roman durchzieht das Motiv der Katze, die sich nicht an menschliche Konventionen zu halten hat und ein freies und unabhängiges Leben führt. Dieses Motiv findet sich nicht nur in diesem Roman, sondern im gesamten Werk Monika Marons immer wieder. 
  • Mehrfach wird die Frage nach der Schuld der Opfer und Täter aufgeworfen. Rosa will nicht einsehen, dass Opfer automatisch unschuldig sein sollen. Tragen sie nicht Mitschuld, wenn sie sich nicht wehren? Kann sie selbst sich nur als Werkzeug sehen oder ist sie Beerenbaums Komplizin? Gleichzeitig kreist sie auch immer wieder um die Frage, inwieweit ein Täter auch Opfer ist. 
  • Die Handlung ist in reale geschichtliche Zusammenhänge eingebettet. So bezieht sich Rosas Vorwurf zu den Vorkommnissen im Hotel Lux in Moskau auf reale Geschehnisse. Viele der Bewohner, meist deutsche Exilanten, wurden zwischen 1936 und 1938 von der sowjetischen Führung verhaftet und gefoltert.

Historischer Hintergrund

Das Ende der DDR

Infolge der zweiten Ölkrise 1979/80 kürzte die UdSSR die Rohöllieferungen an die DDR. Dies führte zu wirtschaftlichen Problemen und Verwerfungen zwischen Staatschef Erich Honecker und der sowjetischen Führung. 1982 stand die DDR kurz davor, zahlungsunfähig zu werden. Die Krise konnte durch Kredite in Milliardenhöhe aus Westdeutschland abgewendet werden. Dennoch stieg der Unmut in der Bevölkerung, denn vor allem technische Konsumgüter waren extrem teuer und verbunden mit langen Wartezeiten. Die Unterstützung durch Westdeutschland wurde von der UdSSR nicht gern gesehen, weswegen Honecker seinen ersten Besuch in der Bundesrepublik bis 1987 aufschob.

Unterdessen hatte Michail Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika die Zügel für die Ostblockstaaten gelockert: Viele östliche Staaten nutzten die Gelegenheit, unter anderem ihre Ausreisepolitik neu zu gestalten. Die DDR behielt ihre restriktiven Regelungen bei, was von anderen sozialistischen Staaten mit Unverständnis quittiert wurde. In der Bevölkerung und sogar in Teilen der SED regte sich Widerstand. Bis dahin hatte sich öffentlicher Protest auf die Friedensbewegung beschränkt, doch als im Mai 1989 Ergebnisfälschungen bei den Kommunalwahlen bekannt wurden, bildete such aus dem vorhandenen Widerstand in der DDR eine breite Bürgerrechtsbewegung heraus. Ab dem Frühjahr setzte eine Massenflucht ein, nachdem Ungarn die Grenze zu Österreich weiter geöffnet hatte. Am 11. September wurde den DDR-Bürgern die Ausreise nach Österreich offiziell erlaubt. Ab Herbst kam es zu regelmäßigen Montagsdemonstrationen. Die DDR-Führung unterdrückte die Proteste bei den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Gründungstag der DDR in Ost-Berlin, doch zwei Tage später ließ sich die Bewegung mit der Losung „Wir sind das Volk!“ in Leipzig nicht mehr aufhalten. Am 18. Oktober verbuchte die friedliche Revolution mit dem Rücktritt Honeckers einen wichtigen Erfolg. Als die SED-Führung die zukünftige Möglichkeit der Ausreise nach Westdeutschland in Aussicht stellte, machten sich Abertausende auf den Weg zur Berliner Mauer, die in der Nacht des 9. November geöffnet wurde.

Bei der Volkskammerwahl am 18. März 1990 setzte sich die Allianz für Deutschland durch und machte den Weg frei für die deutsche Wiedervereinigung. DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière und Bundeskanzler Helmut Kohl setzten das Ziel in die Tat um: Zum 1. Juli 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der beiden Staaten in Kraft. Die Ratifizierung des Einigungsvertrages und des Zwei-plus-Vier-Vertrages der früheren Siegermächte folgte. Nach Artikel 23 des Grundgesetzes fand die DDR am 3. Oktober 1990 ihr Ende und ging in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Entstehung

Monika Maron lebte zu der Zeit, als sie Stille Zeile Sechs verfasste, in Hamburg. Die Protagonistin Rosa Polkowski war zuvor bereits in dem Roman Die Überläuferin erschienen. Rosa ist 42 Jahre alt, etwa so alt wie Monika Maron zu der Zeit, in der der Roman spielt. Überhaupt lassen sich zahlreiche biografische Parallelen zwischen der Autorin und ihrer Hauptfigur ausmachen. Im Roman selbst wird die Parallele zwischen Herbert Beerenbaum und Rosas Vater gezogen, die eine ähnliche Biografie haben und die gleichen Argumente nutzen. Es liegt nahe, hier auch Bezüge zu Monika Marons eigenem Leben zu sehen: Ihr Stiefvater war der hochrangige Funktionär Karl Maron. Dieser lebte wie Beerenbaum im Roman zeitweise in Moskau und kehrte 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ nach Deutschland zurück.

Wirkungsgeschichte

Der Roman erschien 1991, zwei Jahre nach dem Fall der Mauer. Nach der Wende kam es zum sogenannten Literaturstreit. Mit Öffnung der Mauer erweiterte sich die Literaturszene um Schriftsteller aus der DDR, die zum Teil Beziehungen zur SED aufwiesen. Auslöser der Debatte war Christa Wolfs Erzählung Was bleibt. Es entbrannte eine Diskussion um die sogenannte Gesinnungsästhetik, um die Mitschuld der Intellektuellen am System DDR und um den Umgang westdeutscher Kritiker mit diesen Fragen. Monika Maron blieb von der Debatte weitgehend unberührt, obwohl später ihre zeitweilige Tätigkeit für die SED bekannt wurde. Dies ist vor allem ihrem ersten Roman Flugasche zu verdanken, der sich mit der Umweltverschmutzung in der DDR auseinandersetzte. Ihr dritter Roman Stille Zeile Sechs wurde überwiegend positiv aufgenommen. Kritiker lobten Maron für ihren klaren Stil und für die Universalität des dargestellten Generationenkonflikts, der sich ebenso in westdeutschen Verhältnissen hätte abspielen können. Iris Radisch schrieb in der Zeit: „Monika Maron hat den schrecklichen deutschen Mustervater an die Wand geschrieben. Der Lurch ist tot.“ Maron wurde mir zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Unter anderem erhielt sie 1992 den Kleist-Preis und 2017 den Ida-Dehmel-Literaturpreis.

Über die Autorin

Monika Maron wird am 3. Juni 1941 als Monika Eva Iglarz in Berlin geboren. Ihre Mutter Hella durfte Monikas Vater nicht heiraten, weil sie als halbjüdisch galt. Hella Iglarzʼ Vater Pawel war zum Baptismus konvertiert. 1942 wurde er ins Ghetto Belchatów deportiert und dort ermordet. Seine Geschichte arbeitet Monika Maron später in Pawels Briefe auf. Mutter und Tochter ziehen nach Kriegsende nach Westberlin. Hella lernt den späteren DDR-Innenminister Karl Maron kennen, sie siedeln 1951 nach Ostberlin über und heiraten dort 1955. Monika nimmt den Namen des Stiefvaters an. Sie schließt ihre Schulausbildung mit dem Abitur ab und arbeitet als Fräserin in einem Dresdner Flugzeugwerk. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft arbeitet sie an der Berliner Schauspielschule, beim Fernsehen und als Reporterin. Ab 1976 ist sie als freie Schriftstellerin tätig. Maron, schon als Schülerin aktiv in der FDJ, engagiert sich in der SED. Zwischen 1976 und 1978 ist sie Kontaktperson für die Stasi und verfasst zwei Berichte. Nachdem sie die Zusammenarbeit beendet, wird sie bis 1988 observiert. 1981 erscheint ihr erster Roman Flugasche im westdeutschen Fischer-Verlag. Er setzt sich mit dem Thema Umweltverschmutzung in der DDR auseinander und macht Maron international bekannt. 1983 wird ihr Theaterstück Ada und Evald in Wuppertal uraufgeführt. 1988 verlässt sie zusammen mit ihrem Mann und ihrem Sohn die DDR und lässt sich in Hamburg nieder, wo sie bis 1992 lebt. Dann kehrt sie nach Berlin zurück. Ihr Roman Animal triste von 1996 gilt als ihr größter Erfolg. In mehreren Zeitungsartikeln äußert sich Maron kritisch über Angela Merkel, den Islam und die politische Debatte in Deutschland. In ihrem Roman Munin oder Chaos im Kopf von 2018 zieht sie Parallelen zwischen der Flüchtlingskrise und dem Dreißigjährigen Krieg.

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