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Stiller

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Stiller

Suhrkamp,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

„Ich bin nicht Stiller!“ – Mit diesem berühmten Satz beginnt der Roman von Max Frisch, der die Identitätssuche und das Scheitern eines Schweizer Künstlers beschreibt.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Moderne

Worum es geht

Tagebuch eines Identitätsverweigerers

Der Schweizer Autor Max Frisch erzählt in seinem Roman Stiller die Geschichte eines Mannes, der seine Identität verleugnet, um Abstand von seinem missglückten Leben zu finden, aber schließlich an der Undurchführbarkeit seines Vorhabens scheitert. Die Identitätsproblematik, die eine Schlüsselfunktion auch in anderen Romanen von Max Frisch hat, wird hier so spannend wie ein Kriminalfall präsentiert: Die Tagebuchaufzeichnungen der Hauptfigur, geschrieben in einem Zürcher Untersuchungsgefängnis, legen nur schichtweise die wahren Hintergründe um das Verschwinden des lange verschollenen Stiller frei. Frisch bedient sich unterschiedlicher Perspektiven, Raum- und Zeitformen, Rahmen- und Binnenerzählungen, ja sogar unterschiedlicher Realitätsebenen und hält die Frage nach der wahren Identität der Hauptperson bis zum Finale in der Schwebe. Stiller markierte 1954 für Max Frisch den Durchbruch als Romanautor: Die Kritiker lobten einmütig die perfekt aufeinander abgestimmten Elemente des Romans und dessen intelligente Auseinandersetzung mit den damals aktuellen existenzialistischen Fragen der Identitätssuche und des Umgangs mit dem eigenen Scheitern.

Take-aways

  • Stiller ist einer der Schlüsselromane des 20. Jahrhunderts. Mit ihm gelang dem Schweizer Max Frisch 1954 der Durchbruch als Romanschriftsteller.
  • Der erste Teil des Romans ist in Tagebuchform geschrieben. Im zweiten Teil berichtet ein Dritter, was aus dem Schreiber geworden ist.
  • Ein Mann namens White wird beim Grenzübertritt in die Schweiz verhaftet: Er wird für den verschollenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller gehalten, was er aber bestreitet.
  • Während er auf seine Verhandlung wartet, die ihn als Mittelsmann eines Attentats entlarven soll, versucht ihn der Verteidiger zur Preisgabe seiner Identität zu bewegen.
  • Doch statt zu seinem Verteidiger baut der Gefangene ein Vertrauensverhältnis zu seinem Staatsanwalt auf.
  • Er begegnet Julika, der Frau des verschollenen Stiller, verliebt sich in sie und versucht, ihre Ehe mit Stiller in seinem Tagebuch zu rekonstruieren.
  • Es stellt sich heraus, dass der verschollene Stiller außerdem ein Verhältnis mit der Frau des Staatsanwaltes gehabt hat, das White ebenfalls akribisch nachzeichnet.
  • Bei einer Konfrontation mit Stillers Vater in dem Atelier des Vermissten wird White zornig und verwüstet Stillers Kunstwerke.
  • Das Gericht stellt eindeutig fest, dass es sich bei dem Gefangenen um Stiller handelt. Dieser findet sich mit dem Urteil ab und zieht mit Julika aufs Land.
  • Doch das Happy End bleibt aus: Julika stirbt, und Stiller lebt fortan allein in seinem biederen Landhäuschen. Es ist ihm nicht gelungen, ein anderer zu werden.
  • Zentrales Element des Romans ist die Verweigerung der eigenen Identität und die freie Wahl einer neuen Persönlichkeit.
  • Max Frisch bezieht sich auf die Philosophie des Existenzialisten Sören Kierkegaard, zeigt jedoch, wie sein Romanheld an der freien Wahl der Identität scheitert.

Zusammenfassung

Aufzeichnungen im Untersuchungsgefängnis

Das Tagebuch eines in der Untersuchungshaft sitzenden Mannes beginnt damit, dass der Verfasser den Namen "Stiller" und die damit verbundene Identität heftig zurückweist: Er sei nicht Stiller, schreibt er nieder, sein Name sei Jim Larkin White. Seine Aufzeichnungen führt er in der Zelle eines Zürcher Gefängnisses. Der Grund für die Verhaftung ist eine Ohrfeige, die er dem Schweizer Zollbeamten verabreicht hat, der ihn an der Weiterfahrt hindern wollte: Sein amerikanischer Pass sei gefälscht. Im Nachhinein erfährt White, dass ihn ein Mitreisender als den Schweizer Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identifiziert hat. Dieser ist vor sechs Jahren spurlos verschwunden und steht unter dem Verdacht, einem sowjetischen Agenten als Mittelsmann bei einem Attentat geholfen zu haben. Für White ist dies eine ganz ungeheuerliche Geschichte. Doch niemand glaubt ihm, am wenigsten sein Pflichtverteidiger Dr. Bohnenblust. Dieser versucht zwar, die Unschuld seines Mandanten zu beweisen, andererseits liegt ihm viel daran, dessen Sturheit aufzubrechen. Die Gespräche mit dem Verteidiger führen letztlich zu nichts, weil die beiden fortwährend aneinander vorbeireden. Die Verhöre und Unterhaltungen scheitern daran, dass der Gefangene darauf besteht, nicht Stiller zu sein. Er erklärt, mehrere Jahre in Mexiko verbracht zu haben. Dr. Bohnenblust hält dies jedoch für erfundene Geschichten und White für einen gewitzten Hochstapler, der sich seine Reiseerlebnisse aus Illustrierten und Büchern zusammengeklaut hat.

Begegnung mit Julika

Der einzige Mensch, der Whites Geschichte glaubt, ist der Zellenwärter Knobel. Dieser ergötzt sich geradezu an den abenteuerlichen Erlebnissen, von denen ihm der Gefangene bei der täglichen Suppe berichtet. Der Staatsanwalt lässt Fotos von White machen: Er plant eine Konfrontation mit Stillers Frau, die in Paris lebt. Der Verschollene hat sie vor sechs Jahren in einem Sanatorium in Davos zurückgelassen, wo sie sich wegen einer Tuberkulose in Behandlung befand. Anders als mit seinem Verteidiger versteht sich White mit dem Staatsanwalt glänzend. Er hält ihn für die einzige Person, der er vertrauen kann. Der Besuch seiner vermeintlichen Gattin Julika Stiller-Tschudy erscheint ihm zunächst eher suspekt. Im Nachhinein fühlt er sich jedoch sehr zu dieser zarten Person hingezogen - und das, obwohl sie ihn ebenfalls für ihren verschwundenen Mann hält.

„Ich bin nicht Stiller! - Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere.“ (S. 9)

An einem Lokaltermin in Davos nimmt White nur widerwillig teil: Die Örtlichkeit soll das Gedächtnis des Gefangenen auffrischen, sodass er sich an die Besuche bei seiner damals schwer kranken Frau erinnert. White versieht den Ausflug in seinem Tagebuch mit süffisant-ironischen Bemerkungen. Plötzlich jedoch schieben sich Sätze in seine Aufzeichnungen, die offenbar nichts mit seinen aktuellen Erlebnissen zu tun haben. Als würde er sich an ein längst vergessenes Leben erinnern, schreibt er völlig unvermittelt: "Meine Angst: die Wiederholung!" Dank einer stattlichen Kaution, die Julika hinterlegt, darf er einmal wöchentlich mit ihr etwas unternehmen, ohne dass der Verteidiger dabei ist. Sie spazieren gemeinsam durch Zürich. In einem Restaurant macht er ihr eine Liebeserklärung. Doch ihm wird klar, dass Julika in ihm nur ihren "alten" Stiller erkennt. Ihr Hinweis, nicht so viel zu trinken, macht ihn wütend - ganz so, als hätte sie dies schon früher getan.

Stillers Ehe

Der Gefangene führt seine Aufzeichnungen weiter. Er versucht, aus Julikas Erzählungen ihre Ehe mit Stiller zu rekonstruieren:

„Man fragt sich schlechthin, was der Mensch auf dieser Erde eigentlich macht, und ist froh, sich um einen heißen Motor kümmern zu müssen.“ (S. 33)

Stiller lernte Julika im Ballett kennen. Auf der Bühne, in der Verkleidung, erblühte die ansonsten zurückhaltende und gefühlskalte Frau zu einem anmutigen, strahlenden Geschöpf. Sie mochte ihn von Anfang an, wohl auch, weil er sie in keiner Weise bedrängte, obschon sie spürte, dass er sie begehrte Die Angst vor der eigenen Identität als Frau ließ sie sonst schnell die Flucht ergreifen, sobald ein Mann ihr zu aufdringlich wurde. Das war bei Stiller anders. Es imponierte ihr, dass er damals, gerade aus dem Spanischen Bürgerkrieg heimgekehrt und eine Gefängnisstrafe in der Schweiz erwartend, im Umgang mit ihr viel Geduld bewies. Nach seinem Gefängnisaufenthalt heirateten sie. Doch schon bald breiteten sich gleich mehrere düstere Schatten über ihrer Liebe aus: Julika bekam eine leichte Tuberkulose. Außerdem machte der akute Geldmangel den beiden zu schaffen. Stiller verdiente mit seiner Bildhauerei fast nichts, sodass das Paar ausschließlich von Julikas Gagen leben musste. Dies wiederum zog Streitigkeiten über das Geldausgeben nach sich. Während sie bis zur Erschöpfung auf der Bühne stand, veränderte sich Stillers Wesen: Er fing an, seine Frau wegen Nichtigkeiten zu tadeln. Ihr Engagement für das Ballett hielt er angesichts ihrer Krankheit zunächst für unverantwortlich. Später interessierte es ihn überhaupt nicht mehr. Er begann, ihre Arbeit gering zu schätzen, während er seine eigene fortan über alles stellte. Doch die manchmal wochenlangen Arbeitsexzesse in seinem Atelier dienten lediglich der Verschleierung. Julika bemerkte eines Tages eine fremde Haarspange und leere Weinflaschen. Zu höflich und zurückhaltend, um danach zu fragen, war ihr doch sogleich klar, dass ihr Mann sie betrog.

„Man glaubt mir überhaupt nichts, und am Ende muss ich wohl noch schwören, dass die Finger, womit ich schwöre, meine eigenen Finger sind.“ (S. 45)

Davos Wegen ihrer Tuberkulose musste sich Julika zur Behandlung in ein Sanatorium in Davos begeben. Stiller kam sie nur selten besuchen. Und wenn er bei ihr auftauchte, benahm er sich unmöglich. Schließlich unternahm Julika einen Fluchtversuch aus dem Sanatorium, doch auf halber Strecke brach sie erschöpft zusammen. Stiller erfuhr davon und schickte ihr einen mitleidlosen Brief: Er machte ihr den Vorwurf, sie hätte die Flucht nur deswegen unternommen, um zusammenzubrechen. Ihre ganze Krankheit sei überhaupt nur dazu da, um ihm, Stiller, ein schlechtes Gewissen zu machen. Stillers letzter Besuch in Davos gipfelte in einer heftigen Auseinandersetzung. Zunächst erzählte er wieder nur von sich selbst und spielte seine grenzenlose Ichbezogenheit aus. Wie schon bei ihrem ersten Kennenlernen berichtete er von seinen Erlebnissen im Spanischen Bürgerkrieg, wo er als Freiwilliger gedient hatte. Es war ihm damals nicht möglich gewesen, einige Franco-Anhänger aus dem Hinterhalt zu erschießen. Seitdem hielt er sich selbst für einen Versager, auch wenn andere sein Verhalten menschlich achtenswert nannten. Stiller gestand Julika die Affäre mit einer gewissen Sibylle, die jedoch bereits wieder zu Ende sei. Er habe Angst vor einer Beziehung zu einer normalen, gesunden Frau. Julika warf er vor, dass auch sie niemals in einer anderen Partnerschaft leben könnte: Beide seien aneinander gefesselt in ihrer Angst und ihrem Unvermögen, andere Partner zu befriedigen. Doch dies sei letztlich ihrer beider Untergang. Stiller trennte sich daraufhin von Julika, ließ sie in Davos zurück und tauchte nie wieder auf.

Die Höhlengeschichte

White wendet sich in seinen Aufzeichnungen im Gefängnis wieder der Gegenwart zu. An einem Sonntag findet sich der Wärter Knobel bei White ein und bittet um eine weitere Anekdote aus dem Leben des Gefangenen. Daraufhin erzählt dieser ihm eine Geschichte, die er angeblich in den USA erlebt hat, als er dort als Cowboy arbeitete. Eines Tages entdeckte er eine unerforschte Tropfsteinhöhle, die er mit seinem besten Freund auskundschaften wollte. Leider rutschte dieser in der Dunkelheit aus und brach sich das Bein. White verletzte sich die Hände. Als die Vorräte und der Brennstoff für die Laterne zur Neige gingen, kam es zwischen den beiden zu Streitigkeiten, die in einem Faustkampf endeten. Der Gefangene brüstet sich gegenüber Knobel damit, dass Jim White als Sieger und Überlebender daraus hervorgegangen sei, ja dass man diesem sogar ein Denkmal gesetzt hätte. Knobels verdutzte Frage, ob er denn nicht Jim White sei, beantwortet der Gefangene ausweichend mit einem Scherz. Daraufhin geht auch Knobel dazu über, ihn, wie alle anderen, mit "Herr Stiller" anzureden.

Sibylle und Rolf

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass der Pass auf den Namen White tatsächlich gefälscht ist. Whites Vertrauen zum Staatsanwalt wächst in demselben Maße wie die Distanz zu seinem Verteidiger zunimmt. Rolf, so nennt White den Staatsanwalt, unterhält sich mit dem Gefangenen sogar über die Ehe mit seiner Frau Sibylle. Diese hatte vor Jahren eine Affäre mit einem Unbekannten. Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich dabei um Stiller. Sibylle und Stiller lernten sich auf einem Maskenball kennen. Rolf reagierte auf ihr Geständnis, dass sie eine Affäre habe, mit Haltung und stoischer Gelassenheit, womit sie nicht gerechnet hatte. Zu dieser Zeit war Rolf noch kein Staatsanwalt und kannte Stiller überhaupt nicht. Auch Sibylles Eröffnung, dass sie mit ihrem Geliebten nach Paris fahren wolle, nahm Rolf äußerlich kühl entgegen, obwohl ihm diese Affäre innerlich sehr zu schaffen machte. Schließlich schlug Rolf ihr die Scheidung vor. Sibylle reagierte nun ihrerseits relativ gleichgültig auf dieses Ansinnen. Der Architekt ihres Hauses hatte ihr eine Stelle als Sekretärin in seinem neuen Büro in Amerika angeboten. Sibylle nahm also ihr Hab und Gut und fuhr mit dem gemeinsamen Sohn Hannes von Le Havre aus per Schiff nach New York.

Sibylle und Stiller

Mehrere Versuche des Pflichtverteidigers Dr. Bohnenblust, White zu einem Eingeständnis seiner Identität als Stiller zu bewegen, verlaufen ergebnislos. White besucht Sibylle, die Frau des Staatsanwalts, in der Klinik, wo sie gerade ihr zweites Kind entbunden hat. Auch sie erkennt in ihm den heimgekehrten Stiller. Aus ihren Erzählungen rekonstruiert er in seinem Tagebuch die Affäre, die ihm schon Rolf berichtet hat - aber diesmal aus Sibylles Perspektive. Nach einem Besuch in Stillers Atelier verbrachten die beiden die Nacht miteinander und trafen sich in der folgenden Zeit immer öfter. Sibylle betont, dass Rolfs gelassene Reaktion auf diese Affäre sie verunsicherte. Eine geplante Reise mit Sibylle nach Paris sagte Stiller einfach ab, nachdem er Julika in Davos besucht hatte. Später, als das Thema Paris erneut auf den Tisch kam, zeigte sich Sibylle unnachgiebig: Als sie erfuhr, dass Stiller gar nicht wegen ihr, sondern aus geschäftlichen Gründen nach Paris fahren wollte, ließ sie ihn am Bahnhof stehen. Während Stiller in Paris weilte, fuhr sie in eine Klinik, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Die Beziehung zwischen Stiller und Sibylle bröckelte zu diesem Zeitpunkt schon an allen Ecken und Enden. Schließlich fuhr sie mit ihrem Sohn nach Amerika. Dann geschah etwas Unerwartetes: Rolf besuchte sie überraschend in ihrem neuen Domizil. Langsam kamen sie sich wieder näher und schließlich willigte Sibylle ein, mit ihm in die Schweiz zurückzukehren.

Lokaltermin

Der Staatsanwalt kündigt einen Lokaltermin in Stillers altem Atelier an. Bei dieser Ortsbesichtigung sind außerdem noch der Wächter Knobel, Dr. Bohnenblust und die aus Paris zurückgekehrte Julika anwesend. Als der Verteidiger plötzlich Stillers Vater, einen alten, gebrechlichen und wohl auch etwas senilen Mann, hereinführt, ist White darüber höchst aufgebracht. In einem Anfall wilder Raserei ergreift er die überall herumstehenden Kunstwerke und schlägt damit alles kurz und klein. In seinem Tagebuch gesteht er darauf, dass es wohl an der Zeit wäre, die ganze Wahrheit niederzuschreiben: Er habe vor zwei Jahren versucht, sich das Leben zu nehmen. Allerdings ist er mit dem Revolver abgerutscht und hat daher nur einen Streifschuss davongetragen. Im ohnmächtigen Taumel zwischen Leben und Tod kam ihm die Idee, diese Chance zum Neuanfang zu nutzen und ein "neues" Leben zu wählen.

Das Urteil

Bei der Gerichtsverhandlung kann bewiesen werden, dass der Angeklagte an dem sowjetischen Mordkomplott nicht beteiligt gewesen ist. Weiterhin wird festgestellt, dass es sich bei dem Freigesprochenen um niemand anderen als den Bildhauer Anatol Ludwig Stiller handelt. Hier enden die Tagebuchaufzeichnungen.

„Ich bin nicht ihr Stiller! Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker?“ (S. 62)

In einem Nachwort zu Stillers Tagebuch beschreibt Rolf, der Staatsanwalt, dass sich Stiller nach dem Urteilsspruch mit Julika nach Glion, einem kleinen Ort am Genfer See, zurückgezogen hat. Dort leben sie in einem verlotterten, von Gartenzwergen umgebenen Holzhaus (Schwyzerhüsli), wo sich Stiller als Keramiker versucht. Bei einem Besuch erfährt Rolf von Julika, dass ihr eine Operation mit der Entfernung des linken Lungenflügels bevorsteht und wie unglücklich sich die Beziehung zu ihrem Mann entwickelt. Die Spätfolgen der Tuberkulose versucht sie vor Stiller geheim zu halten. Rolf und Sibylle finden bei einem weiteren Besuch im folgenden Frühjahr das Paar nicht vor. Stiller musste Julika ins Krankenhaus bringen. Am nächsten Tag stirbt sie. Rolf nimmt sich Urlaub und bleibt noch einige Zeit bei Stiller, sie reden jedoch kein Wort mehr miteinander. Bei Rolfs Abreise bleibt Stiller allein in Glion zurück.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman besteht aus zwei unterschiedlich langen Teilen: den Aufzeichnungen Stillers, in sieben Einzelhefte untergliedert, und dem Nachwort des Staatsanwalts, der in sachlichem Ton über Stillers Leben nach der Urteilsverkündung berichtet. Max Frisch bedient sich der Stilform des Tagebuchs: Es lässt den Leser zunächst nur die von der Zelle des Untersuchungsgefängnisses begrenzte Weltsicht seines Protagonisten sehen. Und obwohl dieser seine Identität als Stiller vehement abstreitet, weiß der Leser nicht so recht, ob er dem Ich-Erzähler überhaupt Glauben schenken kann: Schließlich tischt White/Stiller seinen Zuhörern in der Zelle eine faustdicke Lüge nach der anderen auf. Dennoch vermutet man in jeder Geschichte, Anekdote oder Behauptung ein Fünkchen Wahrheit. Die einzelnen Ebenen der Geschichte, die die Sichtweisen verschiedener Figuren wiedergeben, verdichten sich erst nach und nach zu einer vermeintlich richtigen und chronologischen Abbildung der Wirklichkeit. Hierdurch gelingt es Max Frisch, den Leser in höchstem Maße einzubeziehen, denn dieser will, wie die Romanfiguren, unbedingt hinter das Geheimnis von White/Stiller kommen.

Interpretationsansätze

  • Die Existenzphilosophie bildet den wichtigsten Hintergrund für die Romanhandlung. Frisch demonstriert, wie Stiller an der freien Wahl seiner Identität scheitert. Stiller bleibt Stiller. Es ist nicht möglich, ein anderer zu werden.
  • Stiller ist ein Roman der Ich-Suche mit fortwährendem Wechsel des Blickwinkels: Der Verfasser des Tagebuchs gibt nicht nur seine eigenen Sichtweisen wieder, sondern auch jene von Julika, Sibylle und dem Staatsanwalt. Daraus ergibt sich ein Puzzle von verschiedenen Standpunkten und Deutungsmöglichkeiten.
  • Friedrich Dürrenmatt schrieb über das Buch und seinen Helden: "Das Ich wird zum Kriminalfall." Stiller besteht aus mehreren Schichten, die wie bei einem Krimi nur langsam freigelegt werden. Der ständige Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit und die ausgeklügelte Raumstruktur des Buches (Zellentrakt und Außenwelt) verkomplizieren das Rätsel um Stillers wahre Identität weiter.
  • Stiller ist der erste große Roman, der die moderne Wohlstandsgesellschaft widerspiegelt und dabei typisch "moderne" Themen wie Identität, Selbstverwirklichung, Heimat in einer bereisbaren Welt und die Eheproblematik behandelt.
  • Max Frisch kritisiert im Roman den allgemeinen Realitätsverlust, nämlich die Tatsache, dass sich heute jeder mit Hilfe der modernen Medien ein Bild über die Welt machen und so tun kann, als habe er alles selbst erlebt. Und da alle anderen Menschen die Welt ebenfalls nur "vom Hörensagen" kennen, fällt dies nicht weiter auf.
  • Vorsicht: Wegen der existenziellen Problematik, der geradezu chirurgischen Sprache und dem tragischen Schluss kann die Lektüre beim Leser eine melancholische Stimmung hervorrufen - aber diese Erschütterung ist ja geradezu ein Kennzeichen großer Literatur.

Historischer Hintergrund

Max Frisch und der Existenzialismus

Für Max Frisch spielte die Philosophie des Existenzialismus eine große Rolle. Das erkennt man schon daran, dass er seinem Roman Stiller zwei Zitate des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, des "Begründers" der neuzeitlichen Existenzphilosophie, voranstellte. Nach Ansicht der Existenzphilosophie ist der Mensch völlig bindungslos. Er ist in die Welt geworfen und muss seine eigene Bestimmung finden, sich so definieren, dass er sich selbst annehmen kann. Der Mensch muss eine Wahrheit finden, die für ihn wahr ist. Diese Wahrheit gilt nur für die subjektive Sicht des Individuums und soll auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie den üblichen Normen und Verhaltensweisen widerstrebt. Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer "freien Wahl" steht also im Mittelpunkt des Existenzialismus.

Eines der beiden Kierkegaard-Zitate (entnommen aus dem Buch Entweder - Oder), die dem Roman vorangestellt sind, beschreibt die Identitätssuche der Hauptperson in Stiller sehr genau: "Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen wird." Stiller wählt eine andere Identität - aber als Jim White ist er vollkommen isoliert von sich, seiner Umwelt und seinem Leben, sodass er schließlich scheitert.

Entstehung

Max Frisch schrieb seinen Roman Stiller nach eigenen Angaben innerhalb eines Dreivierteljahres. Das Buch entstand 1953 und wurde ein Jahr später bei Suhrkamp veröffentlicht. Der Roman entwickelte sich sukzessive aus früheren Skizzen des Autors. Im Jahr 1953 hielt sich Max Frisch dank eines Rockefeller-Stipendiums in Amerika auf. Wie er in einer Retrospektive berichtete, schrieb er aus purem Fleiß über 600 Seiten, die in seinen Augen jedoch nicht gut genug waren. Anschließend schrieb er den Romananfang von Stiller und verwendete Elemente aus den zuvor als missraten gebrandmarkten 600 Seiten. Auf diese Weise erklärt er die rasante Entstehung des Romans.

Frischs Hauptwerke kreisen um das Thema der Ich-Suche und der Annahme oder Verweigerung der eigenen Persönlichkeit. Die Hauptfiguren in Stiller (1954), Homo Faber (1957) und Mein Name sei Gantenbein (1964) sind allesamt mit der ihnen zugewiesenen Rolle unzufrieden. Frischs Helden haben eine panische Angst vor der Wiederholung, dem immer wiederkehrend gleichen Ablauf des Alltags - genau wie Frisch selbst. In einem Gespräch gab der Autor einmal zu: "Ich will doch nicht ein Leben lang dieser Max Frisch sein! Bei jeder neuen Arbeit hatte ich das naive Gefühl, dass ich jetzt, Gott sei Dank, ein radikal anderes Thema angehe - um früher oder später festzustellen, dass alles, was nicht radikal misslingt, das radikal gleiche Thema hat."

Wirkungsgeschichte

Der Roman Stiller wurde für Max Frisch der große Durchbruch. War er vorher nur als Dramatiker bekannt, zeigten sich im perfekt konstruierten Aufbau des Romans nunmehr seine Qualitäten als Erzähler. Die Veröffentlichung brachte dem Suhrkamp-Verlag eine Millionenauflage. Stiller wurde in viele Sprachen übersetzt und gilt heute als Initialzündung für eine wahre Welle von Preisen, die Frisch, auch für sein dramatisches Werk, verliehen wurden. Dazu gehörten der Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig und der Große Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung.

Die zeitgenössischen Rezensenten lobten das Buch als Beginn einer neuen Erzählweise für Romane. Walter Jens bezeichnete Stiller als "vielschichtig-reiches, unerschöpfliches Buch" und pries die "Antithetik von Haupterzählung und eingestreuten Geschichten". Der Münchner Merkur zog in seiner Rezension die Parallele zum wirklichen Leben und betonte die Aussagekraft des Buches für jeden, der sich irgendwann einmal fremd in seiner Haut fühlt: ,,Dieser Bericht vom armseligen Stiller, dem ‚Helden wider Willen', der vor seiner eigenen Unzulänglichkeit ins Nichts zu fliehen sucht, ist schillerndes Spiegelbild unseres Selbst, weil wir alle ein Stück von Stiller in uns tragen." Hermann Hesse schließlich beschrieb Stiller als authentischen, lebensechten Romanhelden: "Stiller, die Hauptperson, vergisst man nicht wieder, er ist keine Romanfigur, sondern ein Individuum, ein in jedem Zug erlebter und überzeugender Charakter." Heute wird Stiller als Ur-Roman zum Thema der Identität und damit als erster großer Roman der modernen Wohlstandsgesellschaft gesehen.

Über den Autor

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 als Sohn eines Architekten in Zürich geboren. Nach dem Gymnasium beginnt er ein Germanistikstudium, bricht es 1934 ab, arbeitet als freier Journalist, u. a. als Sportreporter in Prag, und verfasst Reiseberichte. Er ist vier Jahre mit einer jüdischen Kommilitonin liiert, die er heiraten will, um sie vor Verfolgung zu schützen, sie lehnt jedoch ab. Ab 1936 studiert er in Zürich Architektur, 1940 macht er sein Diplom. Ein Jahr später gründet er ein Architekturbüro und arbeitet gleichzeitig als Schriftsteller. Er heiratet 1942 seine ehemalige Studienkollegin Gertrud (Trudy) Constance von Meyenburg, mit der er drei Kinder hat. 1951 hält sich Frisch für ein Jahr in den USA und in Mexiko auf. 1954 erscheint sein erster Roman: Stiller. Das Buch ist so erfolgreich, dass Frisch sich nun ganz der Schriftstellerei widmen kann. 1955 löst er sein Architekturbüro auf und bereist die USA, Mexiko, Kuba und Arabien. 1958 erhält er den Georg-Büchner-Preis und den Literaturpreis der Stadt Zürich, ein Jahr später wird seine erste Ehe geschieden. 1960 zieht Frisch nach Rom, wo er fünf Jahre lang mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammenlebt – und die 23-jährige Studentin Marianne Oellers kennen lernt. 1961 wird das Theaterstück Andorra uraufgeführt, ein Gleichnis über die fatale Wirkung von Vorurteilen. 1964 erscheint der Roman Mein Name sei Gantenbein. Im Folgejahr übersiedelt Frisch zurück ins Tessin in die Schweiz. 1966 und 1968 unternimmt er größere Reisen in die UdSSR, 1970 folgt wieder ein längerer USA-Aufenthalt. Inzwischen hat er Marianne Oellers, mit der er jahrelang zusammengelebt hat, geheiratet. 1975 veröffentlicht Frisch die autobiografisch gefärbte Erzählung Montauk. Schweizkritische Schriften wie Wilhelm Tell für die Schule (1971) führen in seiner Heimat zu Widerspruch, in Deutschland findet er mehr Anerkennung. 1976 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Max Frisch stirbt am 4. April 1991 in Zürich an Krebs.

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