Claude Lévi-Strauss
Strukturale Anthropologie
Suhrkamp, 2015
Was ist drin?
Was haben sogenannte primitive Gesellschaften mit der sogenannten zivilisierten gemein?
- Anthropologie
- Moderne
Worum es geht
Einsamer Rufer im Urwald
„Wir Barbaren“, titelte Die Zeit 2008 zu Claude Lévi-Strauss’ 100. Geburtstag. Gemeint war damit eine mörderische Stammeskultur, deren Zerstörungswahn in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist: die westliche Zivilisation. 1958, zu einer Zeit, da die vermeintlich primitiven Völker bestenfalls als lebende Fossilien belächelt und schlimmstenfalls systematisch ausgerottet wurden, stellte der französische Strukturalist in seinem programmatischen Werk Strukturale Anthropologie indirekt die Frage: Wer sind die wahren Wilden? Er hatte im südbrasilianischen Urwald in den 1930er-Jahren Eingeborene getroffen, die ihrer Umwelt mit intellektueller Neugierde begegneten und versuchten, sie mit Sinn zu erfüllen; ihre komplexen Mythen und Riten erschienen ihm kaum minderwertiger als die politischen Ideologien der westlichen Barbaren. Damals war das eine Provokation. Obwohl der Strukturalismus im postmodernen Getöse seiner Nachfolger an Schärfe und Gewicht verloren hat, lohnt es sich, die Theorien seines Pioniers nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Take-aways
- Mit seiner Strukturalen Anthropologie schrieb Claude Lévi-Strauss 1958 ein theoretisches Rahmenwerk und Arbeitsprogramm für Ethnologen.
- Inhalt: Aus den Verwandtschaftsbeziehungen, Sprachen, Mythen, Riten und Kunstwerken schriftloser indigener Völker lassen sich kleinste Struktureinheiten herausschälen und zueinander in Beziehung setzen. Daraus lässt sich auch ableiten, was die moderne Sozialanthropologie leisten kann und was nicht.
- Der Autor war überzeugt, dass allen menschlichen Gemeinschaften universale Muster zugrunde liegen.
- Inspiriert wurde er von der Phonologie: Analog zu den Lauteinheiten in der Sprache entsteht Bedeutung durch die Beziehungen der Struktureinheiten zueinander.
- Diese lassen sich auf Gegensatzpaare wie heiß/kalt oder roh/gekocht herunterbrechen.
- Lévi-Strauss forschte in den 1930er-Jahren unter den Eingeborenen Südbrasiliens.
- Er lehnte die Auffassung ab, dass primitive Völker zivilisierten Gesellschaften intellektuell unterlegen seien oder nur eine Frühform darstellten.
- Kritiker warfen ihm vor, eher die Fakten seinen Theorien anzupassen als umgekehrt.
- Heute gilt er als Vater der modernen Anthropologie und einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts.
- Zitat: „Ein primitives Volk ist kein zurückgebliebenes oder rückständiges Volk; es kann auf diesem und jenem Gebiet einen Erfinder- oder Schöpfergeist bezeugen, der die Errungenschaften der Zivilisierten weit hinter sich lässt.“
Zusammenfassung
Das historische Paradox
Zwischen Geschichte und Ethnologie besteht ein scheinbar unvereinbarer Widerspruch: Die Vergangenheit schriftloser Kulturen lässt sich nicht anhand von Dokumenten rekonstruieren. Aus Mangel an Gegenbeweisen folgen einige Historiker deshalb der Vorstellung, die abendländische Zivilisation sei die Spitze der menschlichen Entwicklung, während sogenannte primitive Kulturen nur ein Überbleibsel früherer Stadien darstellten. Man sollte aber die Geschichte nicht ganz aus der ethnologischen Forschung verbannen, so wie es viele empirisch arbeitende Ethnologen tun: Sie vergleichen erst und verallgemeinern dann. Richtig wäre der umgekehrte Weg: Man filtert erst unbewusste, allgemeine Strukturen in Bräuchen und Institutionen heraus, um sie dann einander kulturübergreifend gegenüberzustellen.
Verwandtschaft und Sprache
Die strukturale Sprachwissenschaft gibt die Richtung vor: So wie die Beziehungen zwischen Lauten das System Sprache bilden, basiert das System Gesellschaft auf Verwandtschaftsbeziehungen, Heiratsregeln usw., die unbewusste Ausprägungen des Denkens sind. Überprüfen lässt sich diese Analogie anhand eines Vergleichs zwischen Verwandtschaftsbeziehungen und Sprache. In vielen Kulturen nimmt der Onkel mütterlicherseits eine besondere Stellung ein. Eine Heirat zwischen Kreuzcousins und -cousinen gilt dort oft als erstrebenswert. Die Ursache hierfür liegt im Inzestverbot, das Regeln für den Austausch von Frauen erfordert. Der Vater muss seine Tochter, der Bruder seine Schwester an einen anderen Mann abtreten. Beide erwarten dafür eine Gegenleistung. Verwandtschaftssysteme bestehen ebenso wie die Sprache aus Symbolen. Darum kann er Anthropologe in der Untersuchung dieser Systeme ähnliche Fortschritte machen, wie die Sprachforscher auf ihrem Gebiet.
„Die Geschichte ordnet ihre Gegebenheiten in Bezug auf die bewussten Äußerungen, die Ethnologie in Bezug auf die unbewussten Bedingungen des sozialen Lebens.“ (S. 32)
Ein Vergleich zwischen indoeuropäischen, sino-tibetanischen, afrikanischen, ozeanischen und nordamerikanischen Sprachen und den jeweiligen Verwandtschaftssystemen in diesen Regionen zeigt, dass beide Phänomene sich in ihrer Struktur ähneln. So sind die Heiratsregeln im indoeuropäischen Gebiet einfach, die soziale Organisation aber ist komplex. In China ist es umgekehrt. Ähnliche Gegensätze haben Sprachforscher auch in den jeweiligen Sprachen ausfindig gemacht; es liegt darum die Vermutung nahe, dass die Strukturen des sozialen Systems und die des Sprachsystems einander entsprechen.
Der Mythos des Archaismus
„Primitive“ Völker werden so genannt, weil sie angeblich den zivilisierten unterlegen sind oder weil sie einen wie auch immer gearteten Urzustand der Menschheit repräsentieren. Doch diese Begriffsverwendung ist mangelhaft: So haben sich zum Beispiel einige brasilianische Urvölker, die lange als wenig entwickelt galten, als überraschend komplexe Kulturen herausgestellt. In ihrer sozialen Organisation ähneln sie teilweise den verschwundenen Hochkulturen der Maya und Inka, doch sind die entsprechenden Merkmale offenbar zufällig und in unterschiedlicher Ausprägung in ganz Südamerika verteilt. Auf jeden Fall wäre es falsch, einem Volk aufgrund eines isolierten Merkmals eine archaische Lebensform zu unterstellen. So zeigten etwa die südbrasilianischen Bororo gegen Ende des 19. Jahrhunderts keinerlei Neigung zum Gartenbau: Sie stahlen lieber den unreifen Maniok der Kolonisatoren, statt selbst welchen anzubauen. Dann stellte man fest, dass sie in bis dahin unentdeckten Gebieten sehr wohl Mais anbauten und bäuerliche Rituale pflegten – nur eben in einem völlig anderen Kontext.
Dualistische Dörfer
Der Aufbau des Dorfes und die Verwandtschaftsbeziehungen in indigenen Völkern in Indonesien und auf dem amerikanischen Kontinent ähneln einander auf verschiedene Weise: Die indigenen Kulturen beider Gegenden weisen dualistische Strukturen auf, das heißt, sie bestehen aus zwei Gruppen, deren Mitglieder sich exogam verhalten, also bevorzugt außerhalb der eigenen Gruppe heiraten. Es gibt klare Regeln zum Standort der Hütten. Das den Frauen verbotene Männerhaus befindet sich in der Dorfmitte, während die kreisförmig darum herum angesiedelten Familienhütten den Frauen gehören. Der Dorfaufbau spiegelt so die Gegensätze zwischen dem männlichen, heiligen Zentrum und der weiblichen, profanen Peripherie wider. Andere Antithesen, die sich in der Anordnung der Hütten niederschlagen, sind solche zwischen roher und gekochter Nahrung, Ehe und Zölibat, Krieg und Frieden, Himmel und Erde. In einigen Fällen gibt es eine ternäre Struktur: Der Dorfkreis teilt sich in diesem Modell nicht in zwei, sondern in drei Nachbarschaften mit drei exogamen Gruppen, die eine überraschend komplexe soziale Organisation aufweisen.
Die Macht der Magie
Aus medizinisch-naturwissenschaftlicher Sicht besteht kein Zweifel, dass Magie funktioniert: Die psychosomatischen Auswirkungen einer vermeintlichen Verhexung können so verheerend sein, dass die Betroffenen daran erkranken oder sogar sterben. Doch wie rechtfertigen Magier und an Magie glaubende Gemeinschaften die Hexerei? Aus dem Westen Kanadas stammt der Bericht des misstrauischen Schamanenschülers Quesalid, der eigentlich angetreten war, die Betrügereien der Magierzunft aufzudecken. Schon bald sah er sich bestätigt: Er lernte von erfahrenen Schamanen, ein kleines Federbüschel im Mund mit dem Blut des eigenen Zahnfleisches zu tränken, um dem Kunden anschließend den angeblich entrissenen Krankheitserreger als „blutigen Wurm“ zu präsentieren. Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass die Methode funktionierte: Als er sie selbst anwandte, wurde er als großer Heiler gefeiert. Er merkte auch, dass andere Kollegen diesen Trick nicht kannten und stattdessen andere Methoden anwendeten, die ihm noch betrügerischer vorkamen als die eigene. Am Ende machte der einstige Skeptiker Quesalid als Schamane Karriere und schien völlig vergessen zu haben, mit welchen Absichten er die Lehre begonnen hatte.
„Die Phonologie muss für die Sozialwissenschaften die gleiche Rolle des Erneuerers spielen wie zum Beispiel die Kernphysik für die Gesamtheit der exakten Wissenschaften.“ (S. 45)
Zur Magie gehören immer drei: der Zauberer, der Kranke und das Publikum. Sie alle tragen ihren Teil zum Ausgang bei, und der Glaube an die Wirksamkeit einer Prozedur spielt eine entscheidende Rolle. Zauberer und Kranker bilden ein Gegensatzpaar: Aktion versus Passivität, Selbstverausgabung versus Selbstentfremdung. Indem der Zauberer sich an dem Kranken abreagiert, stellt er ein neues Gleichgewicht her.
Universale Mythen
Die zentralamerikanischen Cuña praktizieren bei komplizierten Geburten einen Beschwörungsgesang mit folgendem Inhalt: Der Schamane reist in die Fantasiewelt, um einem verirrten Geist die Seele der Gebärenden zu entreißen und sie ihr wiederzubringen. Die besungenen Ungeheuer und Landschaften sind Symbole für Vagina und Gebärmutter, das heißt, der Schamane dringt über den Mythos in das Körperinnere der Frau ein, ohne real in den Geburtsvorgang einzugreifen. Der Gebärenden werden ihre Schmerzen in Form von riesigen, raumgreifenden Bestien vergegenwärtigt, damit sie sie besser ertragen kann.
„In der menschlichen Gesellschaft tauschen die Männer die Frauen aus und nicht umgekehrt.“ (S. 62)
Man darf die Wirkmacht der mythischen Reise nicht unterschätzen. Sie lässt sich mit dem Prinzip der Psychoanalyse vergleichen: In beiden Fällen geht es darum, Unbewusstes bewusst zu machen und Konflikte auf eine neue Ebene zu transportieren, auf der sie gelöst werden können. Magie und Psychoanalyse sind einander sehr ähnlich, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen: Bei Letzterer erzeugt ein schizophrener Patient den Mythos, während der Analytiker handelt; bei Ersterer erzeugt ein Schamane den Mythos, während der Kranke handelt. Die Unterschiede der Mythen und Märchen verschiedener Kulturen finden sich in ihren inhaltlichen Ausprägungen; Strukturen und Typen hingegen ähneln einander. Ein Mythos ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, wie der mythische Charakter der heutigen politischen Ideologien beweist.
Kunst in Asien und Amerika
Vergleiche zwischen Werken primitiver Kunst aus unterschiedlichen Weltteilen haben einen schlechten Ruf – und das aus gutem Grund: Zu oft wurden sie dazu missbraucht, angebliche Kontakte zwischen geografisch und historisch weit auseinanderliegenden Völkern nachzuweisen, für die jedoch nie Beweise erbracht werden konnten. Dennoch lassen sich die Analogien zwischen Kunstwerken von der Nordwestküste Amerikas, aus Altchina und von den neuseeländischen Maori nicht leugnen. Die Kunst dieser Völker ähnelt sich kaum äußerlich, sondern bezüglich der angewandten Schemata, Symbole und Attribute, das heißt der ihnen zugrundeliegenden technischen und künstlerischen Prinzipien.
„Ein primitives Volk ist kein zurückgebliebenes oder rückständiges Volk; es kann auf diesem und jenem Gebiet einen Erfinder- oder Schöpfergeist bezeugen, der die Errungenschaften der Zivilisierten weit hinter sich lässt.“ (S. 116)
Ein Beispiel ist die Zweiteiligkeit von Tierdarstellungen: Der Tierkörper wird als „Doppelbildnis“ dargestellt, indem das eigentlich frontal gesehene Tier in zwei spiegelbildliche Profilbilder aufgespalten wird. Eine erweiterte Technik, praktiziert vor allem in der Gesichts- und Körperbemalung der südbrasilianischen Caduveo-Indianer, fügt der Zweiteilung weitere Zerlegungsschritte hinzu, die bewusst die Symmetrie stören. Diese Motive und Techniken finden sich auch in der Tätowierungskunst der Maori wieder. In beiden Fällen sind die Kunstwerke Ausdruck von Schönheit, sozialem Stand und Weisheit.
„Durch den Vergleich mit der Psychoanalyse ist es uns gelungen, verschiedene Aspekte des schamanischen Heilverfahrens zu erklären. Vielleicht wird eines Tages umgekehrt die Untersuchung des Schamanentums dazu führen, unklare Stellen der Freudʼschen Theorie zu erläutern.“ (S. 222)
Die entscheidende Frage ist: Selbst wenn man dereinst beweisen könnte, dass weit zurückliegende gemeinsame Ursprünge zwischen den Kulturen vorliegen – weshalb haben sich die ähnlichen Muster, Techniken und sozialen Bedeutungen erhalten können? Die Antwort liegt in einem Dualismus, der sich auf verschiedenen Ebenen zeigt: Schnitzkunst und Zeichnung, Gesicht und Gesichtsbemalung, Individuum und soziale Rolle. Die Zweiteilung und Zerlegung in der Malerei verleiht den Gegenständen oder Körpern, die sie schmückt, eine mystische Bedeutung. Sie ist insofern mit der Maske des Schauspielers vergleichbar.
Soziale Strukturen
Die Strukturforschung ist kein eigenes Forschungsgebiet, sondern eine Methode, die in vielen Gesellschaftswissenschaften angewandt werden kann. Eine soziale Struktur ist ein Modell, das nach der empirischen Wirklichkeit gestaltet wurde. Damit ein solches Modell als Struktur gelten kann, muss es unter anderem folgende Bedingungen erfüllen:
- Systemcharakter: Die Veränderung eines der Elemente des Modells verursacht die Veränderung aller anderen Elemente.
- Prognosecharakter: Es erlaubt Voraussagen darüber, wie es reagiert, wenn eines seiner Elemente verändert wird.
- Realitätscharakter: Das Modell muss den festgestellten empirischen Tatsachen entsprechen.
„Es gibt viele Sprachen, aber nur sehr wenige phonologische Gesetze, und die gelten für alle Sprachen.“ (S. 224)
Jede Gesellschaft besteht aus Gruppen oder Individuen, die untereinander mindestens dreierlei austauschen: Frauen, Güter bzw. Dienstleistungen und Mitteilungen. Daher lassen sich zwischen Verwandtschafts-, Wirtschafts- und Sprachsystemen Analogien finden. Den Strukturalisten wird manchmal vorgeworfen, sie würden lebendigen, einzigartigen Gesellschaften eine starre, verallgemeinernde Struktur aufzwingen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der Analyse geht immer mühsame, jahrelange Feldarbeit voraus. Es geht nicht darum, absolute Aussagen über Gesellschaften zu machen – das wäre unmöglich –, sondern differenzielle, also darum, die Unterschiede zwischen ihnen hervorzuheben. So versucht die strukturale Analyse unter anderem zu verhindern, dass man jeder Kultur die gleiche Vorstellung von Fortschritt überstülpt.
Das Studium der Sozialanthropologie
Die Sozialanthropologie tut sich schwer, innerhalb der Sozialwissenschaften ihren Platz zu finden. Sie hat kein eigenes Studienobjekt, vor allem seit die primitiven Völker zunehmend verschwinden oder ihre Eigenarten verlieren und Anthropologen sich auch den zivilisierten Gesellschaften zuwenden. Eine Schwierigkeit liegt darin, dass sie eine Schnittmenge der Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften darstellt. Doch anstatt die Anthropologie von verwandten Disziplinen zu trennen, sollte sie als deren Synthese gelehrt werden. Der Anthropologe muss völlig neue Denkmethoden und -kategorien entwickeln, um zu verhindern, dass man fremde Gesellschaften immer über einen Mangel (zum Beispiel an Schrift, Landwirtschaft oder Zivilisation) definiert. Schließlich fußen alle primitiven Gesellschaften auf authentischen Beziehungen von Mensch zu Mensch – ein Kriterium, das auf viele moderne Gesellschaften nicht mehr zutrifft. Ihnen ermöglicht die Schrift, eine unendliche Zahl von indirekten Kommunikationsbeziehungen zu unterhalten.
„Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie. In unseren heutigen Gesellschaften hat diese möglicherweise jenes nur ersetzt.“ (S. 230)
In der angewandten Anthropologie ergeben sich fortwährend neue Arbeitsfelder: Während viele indigene Völker vom Aussterben bedroht sind, steigt die Zahl der Subkulturen und Einwandergemeinden innerhalb der westlichen Welt. Niemand ist kraft seiner Distanz besser als Übersetzer und Vermittler zwischen den Kulturen geeignet als der Anthropologe.
Zum Text
Aufbau und Stil
Für seine Strukturale Anthropologie wählte Claude Lévi-Strauss besonders gelungene Aufsätze und Vorträge seiner bis dahin fast 30-jährigen Schaffenszeit aus und gruppierte sie nach den Themen Sprache und Verwandtschaft, Soziale Organisation, Magie und Religion, Kunst sowie Unterrichtsmethoden. Das Buch ist als Arbeitsprogramm und Aufforderung an die Kollegenzunft zu verstehen, die vorgeschlagenen Thesen weiterzuverfolgen. Als Laie stolpert man über zahlreiche Fachbegriffe, verheddert sich in Schachtelsätzen oder verliert sich in abstrakten Überlegungen. Zum Glück unterbricht Lévi-Strauss lange Durststrecken mit erfrischenden Erzählungen aus seiner Praxis als Feldforscher. Er untermauert seine Ideen mithilfe gewagter Gegenüberstellungen und kunstvoller Metaphern und läuft zur Höchstform auf, wann immer es gilt, die Argumente seiner Kritiker abzuschmettern. So widerlegt er die Vorwürfe eines marxistischen Historikers mit den Worten von Marx und Engels, auf die sich jener beruft.
Interpretationsansätze
- Laut Lévi-Strauss liegen allen Gesellschaften universelle Strukturen zugrunde. Diese lassen sich nicht durch banale Kulturvergleiche ermitteln, sondern nur durch die Zerteilung von Organisationsformen, Kunstwerken, Mythen und Riten in kleinstmögliche Einheiten und die Analyse ihrer Beziehungen untereinander.
- Lévi-Strauss betont, dass der Ursprung des Strukturalismus in der Sprachwissenschaft liegt. Nach Ansicht des Linguisten Roman Jakobson erlangen Worte ihre Bedeutung nicht durch die Laute an sich, sondern über die Beziehungen von Lauteinheiten (Phonemen) untereinander – etwa den Gegensatz zwischen stimmhaften und stimmlosen Konsonanten.
- Analog dazu lässt sich gemäß Lévi-Strauss die Mythologie jeder Kultur auf Gegensatzpaare herunterbrechen: heiß/kalt, roh/gekocht, Mensch/Tier. Nur über solche Dualismen erhalte die Welt für uns einen Sinn.
- Tatsächlich gibt es mehr Gemeinsamkeiten zwischen primitiven und zivilisierten Gesellschaften als angenommen: Zum Beispiel erzählen sich fast alle Kulturen Varianten der Ödipusgeschichte. Schamanentum und Psychoanalyse sind demnach nur zwei Seiten derselben Medaille. Anders als sein Vorbild Jean-Jacques Rousseau verklärt Lévi-Strauss die Naturvölker nicht zu „edlen Wilden“, die einen kindlichen Urzustand der Menschheit repräsentieren, sondern versucht, sie in ihrer Komplexität zu begreifen.
- Nach Lévi-Strauss ist Kultur der Satzbau der Gesellschaft: Die Gesetze der Verwandtschafts-, Wirtschafts-, und Sprachsysteme unterliegen bestimmten Tauschregeln. Sind die Regeln eines Systems bekannt, folgen für den Strukturalisten daraus logischerweise die aller anderen Systeme.
- Mit ihrer Methode führten die Strukturalisten die Anthropologie näher an die Naturwissenschaften heran: Lévi-Strauss übertrug die binären Codes der Kultur in mathematische Modelle und baute dreidimensionale Mythen-Mobiles, die von der Decke seines Arbeitszimmers hingen.
Historischer Hintergrund
Vom edlen zum echten Wilden
Die moderne Anthropologie hat ihren Ursprung im europäischen Kolonialismus: Erste ethnografische Studien über die eingeborenen Völker der neu eroberten Gegenden wurden von den Kolonialverwaltungen in Auftrag gegeben. Zwar gestanden einige den „Wilden“ in der Tradition des Aufklärers Jean-Jacques Rousseaus Naivität und Unverdorbenheit zu. Doch viele sahen in ihren Gesellschaften nur Frühformen der westlichen Zivilisation ohne eigenständigen kulturellen Wert. Noch 1931 wurden auf der Pariser Kolonialausstellung die Ureinwohner Neukaledoniens in einem menschlichen Zoo zur Schau gestellt und wie lebende Fossilien studiert.
Die „Wilden“ galten gemeinhin als einfallslos, irrational und triebgesteuert; ihr Leben, ihre Bräuche und Spiritualität, so die allgemeine Auffassung, waren der Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse unterworfen. Es ist kein Zufall, dass die Kunst der Schriftkultur Chinas neben der europäischen in Kunstmuseen gezeigt wurde, während Artefakte aus Afrika, Amerika oder Polynesien lange nur in Naturkundemuseen neben Dinosaurierknochen ihren Platz fanden. Erst, als nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten ehemals britischen und französischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangten, setzte ein Umdenken ein. Die Zeit war reif für neue Ideen. 1958 wurde am Collège de France der erste französische Lehrstuhl für Sozialanthropologie eingerichtet und kurz darauf mit Claude Lévi-Strauss besetzt.
Entstehung
Lévi-Strauss war mit Traurige Tropen 1955 über Wissenschaftskreise hinaus bekannt geworden. Das Werk handelt von seinen Expeditionen zu den Indianerstämmen im brasilianischen Mato Grosso zwischen 1935 und 1938 und ist poetisches Reisetagebuch und Wissenschaftsreflexion in einem. Seine ersten und letzten Erfahrungen in intensiver ethnografischer Feldforschung führten Lévi-Strauss von der Soziologie zur Anthropologie – ein Feld, das er in den 1940er-Jahren in New York vertiefte. An der New School for Social Research, an der während des Zweiten Weltkriegs 180 Akademiker aus ganz Europa Arbeit fanden, freundete er sich mit dem deutsch-amerikanischen Anthropologen Franz Boas und dem russischen Linguisten und Strukturalisten Roman Jakobson an. Letzterer hatte in Anlehnung an Ferdinand de Saussure die Phonologie mitbegründet, die sich mit der Funktion von Lauten beschäftigt.
Während Jakobson nach vergleichbaren Strukturen in unterschiedlichen Sprachen suchte, begann Lévi-Strauss mit der Erforschung von Gemeinsamkeiten in menschlichen Bräuchen, Riten und Verhaltensweisen. Außerdem ging er mit seinen Künstlerfreunden Max Ernst und André Breton in den Antiquitätenläden Manhattans auf Schatzsuche und erstand zahllose Artefakte aus dem pazifischen Nordwesten. Später erinnerte er sich an die Jahre in New York als an die „fruchtbarste Periode meines Lebens“. Viele der in Strukturale Anthropologie gesammelten Texte stammen aus dieser Zeit oder sind von ihr inspiriert.
Wirkungsgeschichte
Strukturale Anthropologie erschien 1958 und fand vor allem in Wissenschaftskreisen Beachtung. Es war der Startschuss für den langjährigen Philosophenstreit zwischen Existenzialisten und Strukturalisten: Während Jean-Paul Sartre den Einzelnen in den Mittelpunkt historischer Prozesse stellte, sah Lévi-Strauss dafür keinen Raum inmitten von gesellschaftlichen Strukturen. Das Ich sei „hassenswert“, schrieb er in Traurige Tropen, ohne Daseinsberechtigung „zwischen einem Wir und einem Nichts“. Dass französische Poststrukturalisten wie Jacques Lacan, Louis Althusser, Michel Foucault und Roland Barthes sich in den 1960er- und 1970er-Jahren auf seine Ideen beriefen, ließ ihn kalt. Er selbst konnte mit seinen selbsterklärten Nachfolgern nichts anfangen, und im Alter wandelte er sich von einem linken Progressiven zum konservativen Traditionalisten.
Unter Anthropologen bleibt Lévi-Straussʼ Ansatz umstritten. So wird ihm vorgeworfen, dass er nur wenig Feldforschung betrieb und eher die Fakten seinen Theorien anpasste als umgekehrt. Unbestritten sind jedoch seine Verdienste um die vermeintlich primitiven Gesellschaften, zu deren Imageaufwertung er wesentlich beitrug. Während er den indigenen Völkern beim Verschwinden zusah, ermahnte er stets den Westen, seinen Zerstörungs- und Gleichmachungswahn im Namen des Fortschritts infrage zu stellen. Heute wird Claude Lévi-Strauss als Vater der modernen Anthropologie und als einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts verehrt. Sein 100. Geburtstag im November 2008 wurde in 25 Ländern gefeiert.
Über den Autor
Claude Lévi-Strauss wird am 28. November 1908 als Sohn eines jüdischen Kunstmalers in Brüssel geboren. 1914 siedelt die Familie nach Versailles um. Im Alter von 18 Jahren besucht der junge Lévi-Strauss die Sorbonne in Paris, wo er erfolgreich ein Philosophie- und Jurastudium absolviert. Nach zweijähriger Tätigkeit als Gymnasiallehrer folgt 1934 seine Berufung zum Professor für Soziologie an die Universität im brasilianischen São Paulo. Bei ausgedehnten Expeditionen nach Zentralbrasilien widmet sich Lévi-Strauss ethnologischen Studien. 1939 kehrt er nach Frankreich zurück, muss aber aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1941 aus der von den Deutschen besetzten Heimat fliehen. Bis zum Kriegsende ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der New School for Social Research. 1946/47 arbeitet Lévi-Strauss als Kulturattaché an der französischen Botschaft in den USA, bevor er nach Paris zurückkehrt, wo 1949 sein Werk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (Les Structures élémentaires de la Parenté) veröffentlicht wird. Ein Jahr später wird der Ethnologe zum Direktor der Abteilung Anthropologie an der École Pratique des Hautes Études gewählt. 1955 erscheint Traurige Tropen (Tristes Tropiques), 1958 folgt der erste Band seiner Strukturalen Anthropologie (Anthropologie structurale); der zweite erscheint 1973. Vom Collège de France wird er 1959 zum Professor für Sozialanthropologie ernannt. Dieser Aufgabe widmet sich der zurückgezogen lebende Lévi-Strauss bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1982. Weitere wichtige Werke des Autors sind Das Ende des Totemismus (Le Totémisme aujourd’hui, 1962), Das wilde Denken (La Pensée sauvage, 1962) sowie Mythologica (Les Mythologiques, 1971). Als Erster seines Faches wird Lévi-Strauss 1973 Mitglied der Académie Française. Für seine Arbeit erhält er mehrere Ehrendoktortitel und Auszeichnungen. Claude Lévi-Strauss stirbt am 30. Oktober 2009 in Paris, einen Monat vor seinem 101. Geburtstag.
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