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Tagebuch des Diebes

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Tagebuch des Diebes

Merlin,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
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Was ist drin?

Starker Tobak: Jean Genet beschreibt in einer verklärenden Autobiografie sein Leben unter Strichern, Zuhältern, Dieben und Gaunern.


Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Nachkriegszeit

Worum es geht

Die Poesie der Gosse

Jean-Paul Sartre definiert in seiner Existenzphilosophie den Menschen als in die Welt geworfenes Wesen, für das die Wahl seines Selbst zum Lebenskampf gehört. Jean Genet hat diese Geworfenheit in Literatur gegossen und in aller Härte erlebt – zumindest wenn man seiner Autobiografie Tagebuch des Diebes trauen kann. Darin schildert er seine Kindheit und Jugend und seine Odyssee durch Europa: Im Bodensatz der Gesellschaft haust er unter verlausten Pennern, Verbrechern und Zuhältern. Homosexualität, Diebstahl und Verrat erklärt er zu seinen Kardinaltugenden und holt als gesellschaftlich Ausgegrenzter zum Gegenschlag aus, indem er bewusst eine amoralische Existenz wählt. Genet nimmt kein Blatt vor den Mund: Sadomasochistische Spiele mit Gleichgesinnten schildert er ebenso offen wie seine Versuche, als Verbrecher auf eigenen Beinen zu stehen und sich von allen Skrupeln zu befreien. „Poesie ist die Kunst, Scheiße zu benutzen und sie euch fressen zu lassen“, sagte er einmal über seine Schriftstellerei. Inzwischen hat der Autor seinen festen Platz in der Tradition der „poètes maudits“ wie Villon, de Sade, Rimbaud und Verlaine.

Take-aways

  • Tagebuch des Diebes ist das letzte erzählerische Werk des französischen Dichters, Dramatikers und Romanautors Jean Genet.
  • Genet berichtet aus seinem Leben in der Halbwelt verschiedener europäischer Städte, einem Leben unter Zuhältern und Verbrechern.
  • Ein zentrales Element des Buches ist Genets Homosexualität; die Beziehungen zu seinen Liebhabern schildert er en détail.
  • Nach seiner Kindheit und Jugend in mehreren Erziehungsanstalten meldet sich Genet freiwillig zum Militär, bestiehlt einige Offiziere und desertiert.
  • Er haust im Elendsviertel von Barcelona, geht mit Diebesbanden auf Beutezug und arbeitet als Stricher.
  • Genet empfindet Einbrüche als religiöse Rituale und erklärt Diebstahl, Homosexualität und Verrat zu seinen drei Kardinaltugenden.
  • In einer Kneipe trifft er den heterosexuellen, einhändigen Serben Stilitano, in den er sich verliebt. Genet dient ihm als eine Art Lakai und begeht in seinem Auftrag Einbrüche.
  • Auf dem Weg nach Cádiz verlieren sich die beiden aus den Augen. Für eine Weile genießt Genet sein Vagabundenleben allein in der Natur.
  • In Antwerpen trifft Genet Stilitano wieder und beginnt eine Beziehung mit dem gewalttätigen Armand. Gemeinsam drehen sie einige Dinger.
  • Genet zwingt sich zu amoralischem Verhalten und trainiert sich Brutalität an. Dadurch steigt er in der Achtung der anderen Verbrecher.
  • In Marseille geht er eine Liaison mit einem Polizisten ein, der gleichzeitig auch Zuhälter ist: Die Verbindung von Verbrechen und Staatsgewalt reizt Genet.
  • Genets Stil ist direkt, oft pornografisch, aber auch poetisch: Heute gilt er als „poète maudit“, der sich vor allem mit Randexistenzen auseinandersetzte.

Zusammenfassung

Kindheit und Jugend

Der Ich-Erzähler – Jean Genet – wird am 19. Dezember 1910 als uneheliches Kind in Paris geboren. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr wächst er bei einer Bauernfamilie in Morvan im Burgund auf. Erst mit 21 Jahren erhält er eine Geburtsurkunde und erfährt, dass seine Mutter Gabrielle Genet hieß. Als er bei der Entbindungsanstalt nachfragt, verweigert man ihm jede weitergehende Auskunft. Seine Kindheit und Jugend sind einsam. Als man ihn in die Erziehungsanstalt von Mettray bringt, versucht er von dort wegzukommen und verpflichtet sich – auch aus Geldgründen – für fünf Jahre zum Militär. Doch schon einige Tage nach seinem Eintritt stiehlt er die Koffer der Offiziere und desertiert. Alsbald lebt er von Diebstählen und Prostitution, wobei er Letztere vorzieht. In den folgenden Jahren streift Genet durch ganz Europa und führt ein Leben in der Halbwelt. Der Gesellschaft fühlt er sich nicht zugehörig.

Barcelona: Bei den Bettlern im Barrio Chino

1932 verschlägt es ihn nach Barcelona, wo sich allerlei Bettler herumtreiben. Sie hausen im Viertel Barrio Chino und schlafen zu sechst auf einem Bett ohne Laken. Im Morgengrauen gehen sie mit einem Körbchen auf den Markt und erbetteln sich Lebensmittel, aus denen sie sich zu Mittag eine Suppe kochen. Die verwahrlosten Typen im Barrio Chino, das nach Öl, Urin und Kot riecht, sind fast ausschließlich gestrandete Ausländer. Es gibt keine festen Banden, doch die jungen Männer schließen sich älteren an, die geschickter stehlen und betteln. Einer der mächtigsten Anführer ist der einhändige Serbe Stilitano, dessen Ansehen auf seiner Männlichkeit beruht. Von Bandenchefs wie ihm, Caballeros genannt, lernen die Jüngeren allerhand Tricks. Sie gehen beispielsweise mit gefälschten Papieren zu verschiedenen Konsulaten und geben vor, in ihr Heimatland zurückkehren zu wollen. Daraufhin erhalten sie vom meist angewiderten Konsul eine Fahrkarte zur Grenzstation. Diese verkauft Stilitano anschließend am Bahnhof weiter und streicht den Gewinn ein. Er bringt ihnen auch bei, in Kirchen und Villen einzubrechen, und führt ihnen holländische und englische Matrosen zu, mit denen sie es für ein paar Peseten treiben.

Eine Tube Vaseline

Eines Tages wird der Ich-Erzähler von der Polizei verhaftet. Johlend ziehen die Polizisten eine angebrochene Tube Vaseline aus seinen Taschen. Er braucht diese, um mit Männern zu schlafen. In der Nacht in der Zelle denkt er ständig an die Tube, die vor den schönen, kräftigen Polizisten auf dem Tisch liegt, und stellt sich vor, wie er seine Geliebten mit der Vaseline einsalbt. Außerdem erinnert ihn die Vaseline an Lampenöl, und er denkt zurück an einen Traum, in dem ihm eine Bettlerin unter einer Lampe erschien: seine Mutter.

„Die Sträflingskleidung ist rosa und weiß gestreift. Es ist die Welt, die mein Herz gewählt hat, und ich entdecke ihre Bedeutungen nach meinem Belieben. Zwischen Blumen und Sträflingen besteht ein enger Zusammenhang.“ (S. 7)

Genet hat einen Freund, der für ihn mitbettelt: Salvador. Elend und schmutzig – wegen der grimmigen Kälte wagen es die Bettler nicht, sich zu waschen – kehrt Salvador eines Tages gegen Mittag vom verschneiten Markt zurück. Gerührt, dass er ihm Nahrung beschafft hat, küsst Genet ihn auf der Straße vor ihrem schäbigen Hotel. Salvador ist außer sich, denn er will nicht, dass man die beiden für „Mariconas“ (= Schwule) hält. Verborgen vor der Öffentlichkeit, ist Genet dann aber sechs Monate mit Salvador zusammen, dessen schwächlichen Körper er Abend für Abend liebt – und von Läusen befreit.

Glücksspieler

Genet findet Gefallen an Einbrüchen und empfindet sie als eine Art religiöses Ritual. Eines Abends gelingt es ihm, einem Polizisten den Regenmantel zu stehlen. Triumphierend kehrt er in das Café zurück, das sich in seinem Hotel befindet. Es ist voller Kartenspieler, denen er die Beute anbietet. Plötzlich fühlt er den Blick Stilitanos auf sich. Dieser lobt ihn für den geschickten Diebstahl und fragt ihn nach dem Preis des Regenmantels. Sofort fühlt sich Genet von Stilitanos straffem Körper und seinem erbarmungslosen Gesicht in den Bann gezogen. Er übergibt ihm den Mantel und räumt ihm zwei Tage ein, um ihn zu bezahlen.

„Auf Männer angewendet, bezeichnet das Wort ‚Schönheit‘ die Harmonie eines Gesichts und eines Körpers, zu der sich manchmal die Grazie der Männlichkeit gesellt – wunderbare, gebieterische, souveräne Bewegungen.“ (S. 20)

Auf einem freien Gelände treffen sich heruntergekommene Stricher, Huren und Bettler, um dort ihr Glück beim Spiel zu machen. Genet lässt sich von der aufgeheizten Stimmung anstecken, spielt mit – und gewinnt. Doch statt sich mit seinem Gewinn zu verabschieden, gibt Genet dem Bankhalter, einem Zigeuner namens Pépé, in einem Anfall von Mitleid das ganze gewonnene Geld zurück. Kaum hat er sich ein paar Schritte entfernt, folgt ihm der Zigeuner. Gemeinsam ziehen sie von Taverne zu Taverne und vertrinken Genets Gewinn. Am Abend will Pépé wieder spielen. Um etwas Spannung loszuwerden, sucht er erst ein Toilettenhäuschen auf und masturbiert dort. Dann gesellt er sich zu einer Gruppe von Spielern und verliert alles. Genet fühlt sich unwohl und will gehen, doch Pépé erbittet von dem Bankhalter etwas Geld aus der Spielkasse. Als dieser ablehnt und ihm einen Tritt versetzen will, ergreift Pépé das Geld, steckt es Genet zu, zieht wutentbrannt ein Messer und ersticht den Mann vor Genets Augen. Sofort darauf verschwindet Pépé in der Menge.

Freund und Gebieter

Genet bemerkt, dass Stilitano die Szene beobachtet hat. Aus Angst vor der Polizei kehrt er nicht ins Hotel zurück, sondern übernachtet bei dem Caballero. Sie bleiben zusammen. Stilitano stellt ihn seinen Kumpels vor, und gemeinsam stehlen sie sich durch den Tag, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Genet ist heftig verliebt. Er ist Stilitano vollkommen hörig, verehrt und begehrt dessen Körper. Stilitano aber steht nicht auf Männer. Gerade dadurch, dass Genet in ständiger Anspannung lebt und keine Erfüllung in der körperlichen Liebe findet, wird Stilitanos Einfluss immer größer. Noch dazu lässt sich der einhändige Serbe kleine Dienstleistungen von Genet gefallen, wie z. B. Hilfe beim An- und Auskleiden. Anderen gegenüber bezeichnet er ihn gern als seinen „rechten Arm“. Meist leben sie von dem Geld, das Genet durch Prostitution verdient. Daneben sind Einbrüche ihr Geschäft. Eines Nachts beleidigt Stilitano im Vorbeigehen drei Männer, die er für Homosexuelle hält. Sie wollen ihn verprügeln, und schnell schart sich eine Menge um die Kontrahenten, um sie aufzustacheln. Doch just als die Schlägerei unvermeidbar scheint, zeigt der Serbe seinen Armstumpf, den er wie eine Trophäe vor sich hält, und fragt, ob sie sich mit einem Krüppel schlagen wollen. Genet beschleicht zum ersten Mal das Gefühl, dass sein Freund ein Feigling ist.

Vagabundenleben

Kurz darauf fahren er und Stilitano, von Güterzug zu Güterzug umsteigend, in Richtung Cádiz in Südspanien. Sie gelangen bis San Fernando. Der Serbe verschwindet, Genet soll am Bahnhof auf ihn warten. Doch Stilitano kommt nicht zurück. Im Sommer 1934 gelangt Genet nach Cádiz. Hier führt er einige Monate ein angenehmes Vagabundenleben. Jeden Morgen genießt er auf den Felsen sitzend den Sonnenaufgang, erbettelt sich etwas vom Fang der Fischer im Hafen und brät sich daraus ein Frühstück. Er durchwandert Andalusien, hält in den Dörfern um etwas Geld an und schläft im Stroh. Obwohl selbst die Hunde vor ihm davonlaufen, sobald sie ihn riechen, fühlt er sich in der Natur weniger einsam und denkt nur noch selten an Stilitano.

„Wir bildeten keine mehr oder weniger gut organisierten Banden, sondern in diesem ausgedehnten, schmutzigen Chaos, mitten in einem Viertel, das nach Öl, Urin und Scheiße stank, vertrauten sich ein paar verlorene Männer einem anderen an, der geschickter war.“ (S. 23)

Erst Jahre später trifft er ihn wieder – in Antwerpen. Stilitano, der Pépé damals verraten hat und daraufhin von der Polizei verhaftet wurde, um vor den Brüdern des Zigeuners geschützt zu sein, ist ein bisschen dicker geworden. Inzwischen hat er Sylvia geheiratet, eine Luxusnutte, die für ihn anschaffen geht. Der Serbe ist elegant gekleidet, doch die Pracht ist nur äußerlich. Stilitano nimmt Genet mit zum Abendessen und zieht ihn erneut in seinen Bann. Sie treiben sich in den Hafenbars rum, die Docker, Seeleute und Zuhälter spendieren ihnen Drinks, und Genet ist eifersüchtig auf Stilitanos Frau und Freunde. Er verlegt sich auf Fahrraddiebstahl und lässt sich von dem Serben als Drogenkurier benutzen.

„Man wisse zunächst, dass keine christliche Tugend ihn zierte. Sein Glanz, seine Macht hatten ihren Ursprung zwischen seinen Beinen.“ (über Stilitano, S. 23)

Liaison mit Armand Eines Tages lernt Genet in Sylvias Zimmer Armand kennen, einen 45-jährigen grobschlächtigen, brutalen Kerl von entzückender physischer Kraft. Stilitano stellt die beiden einander vor. Genet darf sie in eine Bar begleiten, aber sie schenken ihm keinerlei Beachtung. Einige Tage später trifft er Armand zufällig auf der Straße. Dieser nimmt ihn mit auf sein Zimmer und „unterwirft ihn seiner Lust“. Genet bleibt bei ihm, befriedigt ihn jede Nacht und arbeitet als Stricher. Seinen gesamten Verdienst händigt er Armand aus. Im Gegensatz zu Stilitano ist Armand ein Draufgänger, der offene Kämpfe geradezu sucht. Bei einem Streifzug mit Stilitano trifft Genet auf Robert, einen attraktiven jungen Burschen, der an einem Karussell arbeitet. Der Serbe schlägt vor, gemeinsame Sache zu machen: Robert soll mit Kunden auf deren Zimmer gehen, und er und Genet wollen dann hereinplatzen, sich als seine Brüder ausgeben und den Kunden prellen. Genet ist glücklich über dieses Arrangement. Nachts schlafen sie in einem Zimmer, er drückt Robert an sich und will ihn küssen, doch der ist nicht angetan: So etwas mache er nur mit Freiern für Geld. Genet und Robert betätigen sich als Diener für Stilitano und helfen ihm auch beim Ankleiden. Doch Robert genießt mehr Privilegien als Genet, was diesen rasend eifersüchtig macht. Er denkt daran, die beiden zu töten.

Ein Verbrecher auf eigenen Füßen

In einer Bar wird Genet von einem korpulenten Mann mit goldener Uhr und Ehering aufgerissen. Er folgt ihm bereitwillig in die Docks. Als der Freier seine Hose heruntergelassen hat, tut Genet etwas, was er noch nie getan hat: Er fesselt dem Mann die Hände hinter dem Rücken und beleidigt ihn auf derbste Weise, wie er es von Stilitano gelernt hat. Bündelweise Banknoten nimmt er seinem Opfer ab. Dann rammt er dem Mann die Faust ins Gesicht und lässt drohend die Klinge seines Messers aufblitzen. Die Grausamkeit gibt seinem Körper und seiner Seele Kraft. Um einige tausend belgische Francs reicher trifft er wieder auf Stilitano und Robert. Zuerst will er vor den Freunden mit seiner Tat prahlen, doch dann behält er sie für sich. Er begeht weitere Überfälle und versteckt seine Beute. Seine devote Haltung Stilitano gegenüber gibt er allerdings nicht auf. Eines Abends, als Genet ins Zimmer zurückkehrt, liegt Armand, der lange fort war, in seinem Bett. Sie gehen zusammen aus. Armand beglückwünscht Genet zu seinen erfolgreichen Überfällen. Der ist erstaunt, dass sich seine Erfolge so weit herumgesprochen haben. Er genießt die Achtung Armands.

Schmutzige Geschäfte

Statt ihn weiterhin sexuell zu unterwerfen, gibt Armand Genet Tipps und Ratschläge für weitere Coups. Stilitano und Robert leben derweil von Sylvias Einkünften. Genet ist stolz, als Armand ihn vor den anderen lobt. Er liebt Armand inzwischen aufrichtig und steht ganz in dessen Bann. Armand benutzt ihn, befriedigt seine Lust und geht wieder. Als sich Genet eines Abends verspätet und sich demütig entschuldigt, versetzt ihm Armand zwei Ohrfeigen. Auch Stilitano ist Genet immer noch hörig. Als der Serbe ihn fragt, ob Genet ihn übers Ohr hauen würde, wenn er viel Geld hätte, sagt dieser prahlerisch Ja. Stilitano erinnert ihn an die gemeinsamen Zeiten in Spanien und fragt, ob Genet auch Armand verraten würde. Dann wird er konkreter: Genet soll für ihn ein Paket Opium klauen und es nach Holland oder Frankreich schmuggeln. Von dem Geld könnten sie beide leben. Genet ist unbehaglich zumute. Doch sollte Stilitano Robert verlassen – dann wäre er bereit dazu. Er sei ein Aas, das gefalle ihm, zischt Stilitano und lässt ihn seinen erigierenden Penis befühlen.

Liaison mit dem Polizisten Bernardini

Genet spürt ein Verlangen nach Bestrafung und fühlt, dass einzig die französische Polizei ihn in dieser Hinsicht befriedigen kann. Als er, 26-jährig, in Marseille weilt, macht ihn ein Kumpel in einer Bar auf den Polizisten Bernardini aufmerksam: Der sei ein abgefeimter Zuhälter, der immer schöne Mädchen um sich habe. Die Verbindung von Verbrechen und Staatsgewalt fasziniert Genet. Heimlich beschattet er den Polizisten. Doch erst zwei Jahre später kommt es zu einer persönlichen Begegnung: Genet wird am Bahnhof Saint-Charles verhaftet und aufs Kommissariat gebracht. Die Inspektoren peinigen ihn, und es ist Bernardini, der ihnen Einhalt gebietet. Zwei Tage nach seiner Entlassung besucht Genet ihn und lädt ihn zu einem Drink ein. In einer Bar gesteht er ihm, dass er ihn schon lange kenne. Bernardini ist geschmeichelt, dass Genet sich in ihn verknallt hat. Sie gehen häufig zusammen aus und treiben es miteinander. Daneben trifft Genet sich immer noch mit Freiern, beraubt sie und verkauft das Diebesgut an die Nutten. Dieses Leben gefällt ihm. Bernardini in seinem eleganten Anzug erscheint ihm als Gauner und Gesetzeshüter in einer Person. Schließlich verlässt Genet den Polizisten in Richtung Paris. Das Tagebuch endet mit der Ankündigung eines zweiten Teils mit dem Titel „Sittliche Verfehlung“.

Zum Text

Aufbau und Stil

Genets Tagebuch des Diebes ist eigentlich alles andere als ein echtes Tagebuch: Es ist nicht chronologisch, kennt keine Kapiteleinteilung, fängt irgendwo an, schiebt Vorgeschichten und Erklärungen nach, macht irgendwann weiter und springt munter zwischen verschiedenen Orten und Stationen hin und her. So bekommt die Biografie etwas ausgesprochen Episodenhaftes.

Zwar gibt Genet vor, sein Leben zu erzählen, doch ganz am Schluss des Buches bekennt er: „Ich habe es heroisiert, weil ich in mir diese Gabe hatte: die Poesie“. Genets Lebenserzählung handelt von der Gosse, von Gaunern und Strichern, Brutalität und Verbrechen, aber alles was geschieht, schildert der Autor mit dem Nimbus der Heiligkeit, der bedeutungsschwangeren Übertreibung, poetisch und inbrünstig. Das Wort „Heiligkeit“ gehört zu Genets Lieblingsbegriffen.

Charakteristisch für seinen Stil ist die derbe Sprache, die neben Kraftausdrücken an vielen Stellen pornografisch ist. Nichts für zarte Gemüter also. Genet schafft eine bewusste Kluft zwischen sich und der Gesellschaft – und paradoxerweise gehören seine Leser zu ebendieser Gesellschaft, die ihn verfemt und nicht haben will. „Ihr“ und „euch“ auf der einen Seite, „ich“ und „wir“ auf der anderen: Mit diesen häufig gebrauchten Personalpronomen zieht Genet eine deutliche Grenze zwischen der Gesellschaft und denen, die wie er selbst nicht dazugehören.

Interpretationsansätze

  • Genets Buch ist das Werk eines narzisstischen Kleinkriminellen, der kraft der Poesie das miese Leben aufbläht und heroisiert. Das Dreckige wird bei ihm zum Göttlichen und sein eigenes Leben zur Vita eines Heiligen.
  • Einige Interpreten sehen in Genets Selbstbildnis ein stilisiertes Abbild Christi. Insbesondere die Liebe zu den Armen und Ausgestoßenen entspricht der christlichen Heilslehre.
  • Diebstahl, Verrat und Homosexualität definiert Genet für sich radikal neu: Aus Todsünden werden Tugenden. Damit unterstreicht er seine bewusste Auflehnung gegen eine Gesellschaft, die ihn ausschließt.
  • Auf seiner Reise durch Europa kommt der Ich-Erzähler auch durch Nazideutschland, kehrt dem Land aber schnell wieder den Rücken. Der anarchistische Dieb findet, dass es ein Land von Verbrechern sei: „Ich störe nicht. Der Skandal ist unmöglich. Ich stehle ins Leere.“ In einem Land ohne Moral und Gesetz hat seine Provokation keine Wirkung.
  • Das Buch enthält keine Tipps für angehende Diebe. Obwohl es vom Stehlen handelt, erfährt der Leser kaum je, was gestohlen wird und wie. Für Genets persönlichen Bedarf sind es wohl oft Bücher gewesen, die der Wissenshungrige las und manchmal sogar zu ihren Besitzern zurückbrachte.

Historischer Hintergrund

Das amoralische Selbst erschaffen: Genet und Sartre

Das Tagebuch des Diebes enthält eine Widmung an den Philosophen Jean-Paul Sartre. Er war es, der in Genets Leben und Schriftstellerei ein Pendant des französischen Existenzialismus erblickte. Den verschiedenen Strömungen der Existenzphilosophie im 20. Jahrhundert ist gemeinsam, dass sie sich mit den Fragen der menschlichen Existenz in der Welt befassen. Angst, Tod, Freiheit, Verantwortung und Handeln sind einige ihrer Kernbegriffe. Sartre, der berühmteste Vertreter des französischen Existenzialismus, betonte, dass der Mensch das einzige Wesen sei, bei dem die Existenz (das nackte Dasein in der Welt) der Essenz (was ihn ausmacht, wie er sein sollte) vorausgeht. Das bedeutet, dass für den Menschen keine Werte, Maximen oder Richtlinien existieren, nach denen er leben und an die er sich halten kann, auch kein Gott, der ihm Sinn und Lebenshoffnung gibt. Das sieht wie eine ziemlich deprimierende Situationsbeschreibung aus; dennoch bezeichnet Sartre seine Theorie als humanistische Philosophie, weil sie den Menschen auf sich selbst zurückführt – schließlich gibt es keinen anderen Gesetzgeber, der über seine Existenz verfügt. Genets Tagebuch des Diebes zeigt genau dies: einen Menschen, der von der Gesellschaft verfemt ist und darauf angewiesen ist, sich selbst zu erschaffen. Genet will eine Existenz auf Grundlage seiner eigenen Tugenden – Diebstahl, Verrat, Homosexualität – aufbauen, was einer Umwertung der gängigen Werte gleichkommt. Dabei versucht er, möglichst amoralisch zu sein, und zeigt sich stolz, wenn es ihm gelingt: „So verwarf ich entschlossen eine Welt, die mich verworfen hatte.“ Das ist seine Wahl, seine Freiheit oder im Sinne Sartres: seine Verdammnis zur Freiheit.

Entstehung

Genet hat vermutlich ab 1943 an seinem Tagebuch des Diebes gearbeitet. Am 1. Juli 1946 erschienen einige Auszüge aus dem Werk in der von Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes. Für die Auswahl verwendete Genet eher harmlose Szenen, die mehr Poesie, aber weniger Milieu zeigten – vermutlich aus Rücksicht auf die damals immer noch schwebenden Strafverfahren gegen ihn. Die Erstauflage des Buchs war nur für Freunde und Eingeweihte gedacht: Nicht mehr als 400 Exemplare wurden im Herbst 1948 gedruckt. Ein Jahr später erschien dann eine allgemein zugängliche Edition bei Gallimard. Dies war überhaupt das erste von Genets Werken, das öffentlich gedruckt werden durfte. Gleichzeitig markiert das Buch eine deutliche Zäsur in Genets Œuvre: Es ist sein letztes erzählerisches Werk. Genet fürchtete, dass ihm die Ideen ausgehen würden: Der Inhalt des Tagebuchs lag zeitlich schon bedrohlich nahe an seiner eigenen Gegenwart; was sollte da noch kommen, aus welchen Erfahrungen der Verworfenheit sollte er noch schöpfen, jetzt wo er kein Aussätziger mehr war? Doch die Vergangenheit holte ihn ein: 1948 sollte er zu lebenslanger Zwangsarbeit inhaftiert werden, weil er in den zehn Jahren davor mehr als zehnmal im Gefängnis gesessen hatte und aus etlichen Ländern ausgewiesen worden war. Ein öffentliches Gnadengesuch aber, das von Sartre und Jean Cocteau verfasst und von mehreren französischen Künstlern unterzeichnet wurde, rettete ihn: Vincent Auriol, der Präsident der Republik, erließ Genet die Strafe. Nach seiner Rückkehr ins bürgerliche Leben legte dieser erst eine literarische Schweigepause ein, bis er sich als Autor von Theaterstücken zurückmeldete.

Wirkungsgeschichte

Das Tagebuch des Diebes war anfangs ein Nischenwerk, sein Autor galt als Skandalschriftsteller und schmutziger Pornograf. Erst der Einfluss der Existenzialisten und Surrealisten, allen voran Sartres und Cocteaus, sicherten ihm die Aufmerksamkeit der literarischen Szene. Kein Wunder: Die existenzialistischen Probleme der Identitätsfindung und Entfremdung nahmen in seinen Werken eindrücklich Gestalt an. Für die englische Erstausgabe des Tagebuchs verfasste Sartre ein Vorwort, das er mit dem Satz beschloss: „Ich fürchte mich nicht, zu behaupten, dass dies das schönste von Jean Genets Büchern ist, das Dichtung und Wahrheit der Homosexualität.“ In einem Essay erklärte er den Dichter zum „Saint Genet“, zum heiligen Genet. Manche Interpreten sehen in Sartres Bewunderung denn auch den Hauptgrund für Genets Berühmtheit, zumal sich die beiden mit ihren Werken gegenseitig inspirierten.

Heute gilt Genet als „poète maudit“, als verfemter Dichter, der zeitlebens am Rand der Gesellschaft stand. Er wird in die Tradition von François Villon, Marquis de Sade, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine gestellt. Seine Bedeutung für die französische Literatur des 20. Jahrhunderts dokumentiert der 1983 an ihn verliehene Grand Prix National des Lettres. In François Truffauts Verfilmung von Ray Bradburys Roman Fahrenheit 451 gehört Genets Tagebuch des Diebes zu den Büchern, die angeblich die Gesellschaft zersetzen und deswegen von der Feuerwehr verbrannt werden. Das Thema Homosexualität spielt u. a. in dem Werk des österreichischen Schriftstellers Josef Winkler eine große Rolle, der 1992 seine Hommage Das Zöglingsheft des Jean Genet veröffentlichte.

Über den Autor

Jean Genet wird am 19. Dezember 1910 in Paris geboren. Seine Mutter verstößt ihn und gibt den Säugling bei einer Pflegestelle ab. Diese vermittelt ihn als Pflegekind an eine Handwerkerfamilie in Morvan. Schon als Teenager beginnt er seine Pflegeeltern zu bestehlen und wandert fortan von einer Fürsorgestelle zur nächsten. Sein Freiheitsdrang ist so groß, dass er immer wieder das Weite sucht. Schließlich landet er in der berüchtigten Erziehungsanstalt Mettray. Weil er es dort nicht aushält, meldet er sich 1929 freiwillig zum Militärdienst. Er wird eingezogen und im Libanon, in Syrien und Marokko stationiert. Als Deserteur flieht er durch ganz Europa, lebt als Vagabund, Stricher und Bettler und gelangt schließlich nach Paris. Kleinere und größere Diebstähle, verbunden mit Prostitution, bringen ihn immer wieder hinter Gitter. In Anbetracht der Zahl seiner Vergehen droht ihm 1948 die dauerhafte Sicherheitsverwahrung. Nur dem Protest beinahe der gesamten intellektuellen Elite Frankreichs verdankt er die Begnadigung. Denn im Gefängnis hat Genet zu schreiben begonnen. Neben Gedichten wie Le Condamné à mort (Der zum Tode Verurteilte, 1942) verfasst er seinen ersten Roman Notre-Dame-des-Fleurs (1943), dem weitere Prosawerke folgen. In teils brutal-obszöner, teils poetischer Sprache schildert er die Halbwelt der Homosexuellen und anderer Außenseiter, Verbrechen, ausschweifende Sexualität, Gier und Verzweiflung. Trotz seines provokanten, teilweise pornografischen Stils finden die Werke großen Anklang. Jean Cocteau besorgt Genet sogar einen Anwalt, weil er trotz seines literarischen Erfolgs den Diebstahl nicht aufgibt. Große Anerkennung erlangt Genet auch mit seinen Bühnenwerken: Haute surveillance (Unter Aufsicht, 1949), Le Balcon (Der Balkon, 1957) oder Les Nègres (Die Neger, 1959) machen ihn in den 60er Jahren berühmt. Genet setzt sich zunehmend für politisch Verfolgte (Palästinenser, Black Panthers) ein. 1983 verleiht ihm die französische Regierung den Grand Prix des Arts et Lettres. Er stirbt am 15. April 1986 in Paris.

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