Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Diogenes Verlag, 1977
Was ist drin?
Eines der perfidesten Weibsbilder der Weltliteratur – und es befindet sich in bester Gesellschaft.
- Gesellschaftsroman
- Realismus
Worum es geht
Der Sündenpfuhl Paris
Balzacs Roman Tante Lisbeth ist ein breit angelegtes Porträt der Pariser Bourgeoisie Mitte des 19. Jahrhunderts – einer Gesellschaft, die dekadenter kaum sein könnte. Die Hauptfigur Tante Lisbeth setzt aus Hass, Neid und purer Bosheit alles daran, die Familie Hulot zu vernichten. Baron von Hulot ist mit Lisbeths Cousine verheiratet, einer geduldigen, treuen, still vor sich hin leidenden Frau. Ihr alternder und immer fetter werdender Ehemann setzt in seiner unersättlichen sexuellen Gier seine Karriere und sein gesellschaftliches Ansehen aufs Spiel und droht damit zugleich die eigene Familie zu ruinieren. Die Besessenheit des Barons wird von einer nach Geld und Einfluss dürstenden Dirne ausgenutzt, die wiederum von Tante Lisbeth unterstützt und beraten wird. Es kommt zu zahlreichen Intrigen, erotischen Verwicklungen und Ehedramen, es wird gelogen, betrogen und sogar gemordet. Tante Lisbeth ist ein spannendes, unterhaltsames, psychologisch meisterhaftes Werk über eine zutiefst amoralische Gesellschaft, die rettungslos der Geldgier und der Heuchelei verfallen ist.
Take-aways
- Tante Lisbeth (im Original: La Cousine Bette) ist das zweitletzte Werk des französischen Romanciers Honoré de Balzac: ein finsteres Porträt der Pariser Gesellschaft.
- Das Buch erschien 1846 als Bestandteil des großen Romanzyklus Die menschliche Komödie.
- Den historischen Hintergrund des Romans bilden die 1840er Jahre, in denen das Pariser Bürgertum seine Macht mit allen Mitteln zu festigen versuchte.
- Der Staatsbeamte Baron von Hulot, ein ehemaliger Offizier, kann es auch im fortgeschrittenen Alter nicht lassen, ständig junge Frauen zu erobern.
- Trotz seines kostspieligen Lasters hält seine duldsame Gattin Adeline ihm die Treue.
- Adelines neidische und boshafte Cousine Lisbeth wünscht sich nichts sehnlicher, als die Hulots ins Unglück zu stürzen.
- Lisbeth ist eine begnadete Heuchlerin; sie gilt als gute Seele, obwohl sie laufend intrigiert.
- Ihre Komplizin ist die Kurtisane Valerie Marneffe. Sie zieht Hulot gnadenlos das Geld aus der Tasche und verführt seinen Schwiegersohn.
- Nachdem sie Hulot endgültig ruiniert hat, wird Valerie Marneffe von einem ehemaligen Geliebten vergiftet. Lisbeth stirbt aus Verbitterung.
- Frau Hulot muss feststellen, dass ihr Ehemann sie selbst als finanziell ruinierter Greis noch betrügt, und stirbt an gebrochenem Herzen.
- Tante Lisbeth zählt bis heute zu Balzacs beliebtesten Romanen; die Hauptfigur gilt als Prototyp weiblicher Perfidie.
- Honoré de Balzac gehört zu den Begründern des realistischen, gesellschaftskritischen Erzählens.
Zusammenfassung
Ein unmoralisches Angebot
Der ehemalige Seifenhändler Crevel, der zu Reichtum und politischem Einfluss gekommen ist, macht der Baronin Adeline von Hulot seine Aufwartung. In schmieriger Freundlichkeit will er sie zu einem skandalösen Pakt nötigen: Der Ehemann der Baronin habe ihm seine junge Geliebte ausgespannt, eine Schauspielerin namens Josepha. Nun will sich Crevel rächen, indem er die Baronin von Hulot zu seiner Mätresse machen und damit dem verhassten Nebenbuhler Hörner aufzusetzen möchte. Die 47-jährige, ebenso gepflegte wie tugendhafte Baronin ist über die Unverschämtheit des Mannes empört, doch dieser hat einige Druckmittel in der Hand. Zum einen ist seine Tochter Celestine mit Viktor, dem Sohn der Hulots, verheiratet. Zum anderen bestätigt Crevel einen Verdacht, den die Baronin aus Liebe zu ihrem Mann immer wieder zu verdrängen sucht: Der Baron von Hulot führt ein derart ausschweifendes Liebesleben und gibt so viel Geld für seine Mätressen aus, dass die Familie finanziell am Abgrund steht. Unter diesen Umständen scheint es kaum möglich, die junge Tochter Hortense standesgemäß zu verheiraten. Sollte die Baronin dem Ansinnen Crevels nachgeben, will dieser das Mädchen mit einer reichlichen Mitgift ausstatten. Andernfalls jedoch werde er seinen ganzen Einfluss dazu nutzen, jede Eheschließung zu hintertreiben. Die Baronin bleibt trotz dieser perfiden Drohungen standhaft und weist Crevel aus dem Haus. Danach fällt sie völlig entkräftet auf einen Diwan.
Die Hulots und ihre Tante
Der Baron von Hulot war in seiner Jugend ein schneidiger, attraktiver Offizier, der von Napoleon für seine Tapferkeit ausgezeichnet wurde. Für das einfache Landmädchen Adeline war die Heirat mit diesem faszinierenden Mann die Erfüllung eines Traums. 20 Jahre danach ist sie sich bewusst, dass der Baron, inzwischen Beamter des Kriegsministeriums, sie mit zahllosen Geliebten betrogen hat und trotz seines fortgeschrittenen Alters und seinem längst verwelkten Sexappeal nicht daran denkt, auf dieses Laster zu verzichten. Dennoch ist die Baronin von Hulot ihrem Gatten treu ergeben; sie frisst ihren Kummer in sich hinein und versucht, ihren Kindern eine gute Mutter zu sein. Ein regelmäßiger Gast der Familie ist Adelines fünf Jahre jüngere Cousine Lisbeth, die von allen Tante Lisbeth genannt wird. Die ehemalige Bäuerin hatte es einst in Paris zur Leiterin eines Stickereibetriebs gebracht, der jedoch nach dem Zerfall des Kaiserreiches zugrunde ging. Jetzt lebt sie in kargen Verhältnissen, ohne jedoch ihre Gier nach Reichtum eine einzige Sekunde aufgegeben zu haben. Obwohl sie im Palais der Familie Hulot wohnen könnte, zieht sie eine Dachkammer vor, denn mit einer untergeordneten Stellung innerhalb des Haushalts könnte sie sich nie und nimmer abfinden. Tante Lisbeth spielt die gute Seele, die den Hulots mit Rat und Tat zur Seite steht. In Wirklichkeit zerfrisst sie aber der Neid auf ihre Cousine und sie sähe nichts lieber, als dass die Familie Hulot in den Ruin getrieben würde.
Der polnische Liebhaber
Zur Überraschung der jungen Tochter Hortense deutet Tante Lisbeth an, dass sie einen Liebhaber habe. Hortense vermag ihre Neugier kaum zu zügeln und fordert Lisbeth unermüdlich auf, Einzelheiten zu erzählen. Der Auserwählte ist laut Lisbeth ein polnischer Flüchtling, der Graf Wenzeslaus Steinbock, von Beruf Bildhauer. Hortense macht sich über ihre Gesprächspartnerin lustig und verlangt Beweise. Beim nächsten Besuch bringt Tante Lisbeth eine kleine Skulptur mit, die ihr Geliebter geschaffen hat. Diese besteht aus drei Figuren, Personifikationen von Glaube, Liebe und Hoffnung. Hortense ist von dem Werk derart hingerissen, dass sie in Liebe zu dem Unbekannten entbrennt und beschließt, ihn zu erobern. Mit ihm hat es folgende Bewandtnis: Lisbeth hat den verzweifelten jungen Mann, der in der über ihr gelegenen Dachkammer haust, vor dem Selbstmord gerettet. Seit einer Weile bemuttert sie ihn, lässt ihre Launen an ihm aus, kommandiert ihn herum und quält ihn mit einer egoistischen Liebe, die allerdings keusch bleibt. Im Lauf der Zeit hat Lisbeth ihre Ersparnisse aufgebraucht, um dem jungen Polen eine Karriere als Bildhauer zu ermöglichen. Dafür hat er ihr einen Schuldschein ausgestellt.
„Der Menschenkenner weiß sehr wohl, dass wohlerzogene, aber lasterhafte Menschen sich weit liebenswürdiger geben als Tugendbolde. Da sie stets ein schlechtes Gewissen im Nacken schleppen, suchen sie schon im Voraus die Nachsicht ihrer Richter zu erkaufen,“
Unter dem Vorwand, eine seiner Skulpturen kaufen zu wollen, lernt Hortense den polnischen Flüchtling kennen. Die beiden verlieben sich augenblicklich ineinander und versprechen sich gegenseitig die Heirat, was Tante Lisbeth als schmählichen Verrat empfindet. Sie schwört Rache und beschließt, ihren Schützling hinter Schloss und Riegel zu bringen, indem sie ihren Schuldschein geltend macht. Tatsächlich wird Steinbock kurz darauf verhaftet. Sogleich besucht Tante Lisbeth die Familie Hulot, um ihr mitzuteilen, dass der Künstler in seine Heimat zurückkehren wolle und gerade damit beschäftigt sei, die Koffer zu packen. Vor Schreck bricht Hortense ohnmächtig zusammen. Dann aber erlebt die Intrigantin selbst eine unliebsame Überraschung, denn plötzlich steht der vermeintliche Insasse des Schuldenturms höchstpersönlich vor dem Haus der Hulots. Wie sich herausstellt, hat ihn ein befreundeter Künstler freigekauft. Hortense kommt augenblicklich wieder zu sich, während Lisbeth gleich doppelt heuchelt: Sie gibt vor, über Steinbocks Freilassung glücklich zu sein, und erklärt sich mit der Heirat der beiden jungen Leute einverstanden. Das Ehepaar Hulot nimmt den Polen als künftigen Schwiegersohn auf, eilig wird ein Hochzeitstermin festgesetzt. Zur Erleichterung des Barons verzichtet Steinbock auf jede Mitgift. Er erklärt, sich ganz der Arbeit widmen zu wollen, worauf ihm der Baron saftige Staatsaufträge in Aussicht stellt.
Die Kurtisane
Der Baron von Hulot seinerseits hat sich in die attraktive Valerie Marneffe verliebt, die im selben Haus wie Tante Lisbeth wohnt und mit einem hässlichen und kranken Staatsangestellten verheiratet ist. Valerie gibt sich zunächst abweisend und versucht Hulot glauben zu machen, sie sei nicht an seinem Geld interessiert. In Wahrheit ist sie jedoch besessen vom Gedanken an Reichtum und sozialen Aufstieg, den ihr der Baron ermöglichen könnte. Schließlich wird sie seine Geliebte. In Lisbeth findet sie eine ideale Komplizin. Als der Seifenhändler Crevel von der Beziehung erfährt, sieht er eine neue Chance, sich an seinem Nebenbuhler zu rächen. Er bittet Lisbeth, ihn selbst mit Valerie zu verkuppeln – ein Wunsch, dem die Intrigantin gerne und erfolgreich nachkommt. Nun hat Valerie Marneffe gleich zwei alternde Liebhaber, die sie an der Nase herumführen und finanziell ausnehmen kann. Außerdem profitiert sie von der Tatsache, dass ihr Ehemann ein Untergebener Hulots ist. Sie fordert den Baron auf, für die Beförderung des Kanzleisekretärs zu sorgen, und genießt den plötzlichen Geldsegen. Sie lässt ihre Wohnung renovieren und macht daraus einen Salon, in dem sowohl Hulot als auch Crevel verkehren, ohne vom Verhältnis des jeweils anderen zu ahnen. Lisbeth wird von Valerie als Hausdame eingestellt.
Tante Lisbeth ist in ihrem Element
Die immer höheren Ausgaben für seine Geliebte bringen Hulot an den Rand des Ruins, was er vor seiner Familie kaum mehr verbergen kann. Er überredet deshalb einen Onkel zu einem illegalen Geschäft in Algerien. Hulot verspricht, von Paris aus die Fäden zu ziehen. Außerdem nimmt er immer mehr Schulden auf und gerät in die Fänge skrupelloser Wucherer. Einen Teil des Geldes verwendet er für die Heirat seiner Tochter Hortense mit dem Künstler Steinbock, wofür er von seiner lammfrommen Gattin Anerkennung erntet. Während der nächsten drei Jahre kostet ihn die Liebschaft mit Valerie Marneffe doppelt so viel, wie er einst für die Schauspielerin Josepha ausgegeben hat. Abend für Abend veranstaltet die Edeldirne begehrte gesellschaftliche Anlässe. Jeweils um Mitternacht gibt der Baron das Zeichen zum Aufbruch, kehrt jedoch eine Viertelstunde später heimlich in die Wohnung zurück. Crevel zeigt sich ihr gegenüber ebenso großzügig. Valerie hat sich derweil in den Kopf gesetzt, auch Wenzeslaus Steinbock zu verführen – wobei sie selbstverständlich auf Lisbeths Hilfe zählen kann.
„Keinem Menschen, der dieses Familienbild sah, wäre der Gedanke gekommen, dass der Baron dicht vor dem Ruin stand, dass die Mutter sich in Verzweiflung krümmte, dass der Sohn in steter Angst um seines Vaters Zukunft lebte und dass die Tochter mit dem Geda“
Der Pole wird von Hortense geradezu vergöttert und erzielt darüber hinaus als Künstler erste Erfolge. Gleichzeitig aber wird er fauler und dünkelhafter. Tag für Tag findet er eine neue Ausrede, um den Gang in sein Atelier zu vermeiden. Schon beim ersten Besuch in Valerie Marneffes Salon verliert Steinbock den Kopf und ist der Kurtisane fortan rettungslos verfallen. Als Valerie schwanger wird, erzählt sie jedem ihrer drei Liebhaber, er sei der Vater des Kindes. Um die Ehe des Künstlers zu zerstören, schreibt sie ihm einen Brief, in dem sie von seiner künftigen Rolle als Vater spricht. Mit Lisbeths Hilfe sorgt sie dafür, dass das Schreiben Hortense in die Hände fällt. Diese kehrt darauf in Tränen aufgelöst zu ihren Eltern zurück und schwört, den untreuen Gatten nie mehr sehen zu wollen. Vor ihren Verwandten bezeichnet Tante Lisbeth Valerie heuchlerisch als Ausgeburt der Hölle; nie wieder werde sie einen Fuß in deren Haus setzen. Die Hulots sind von der Loyalität der Tante zutiefst gerührt.
Der Ruin der Familie Hulot
Plötzlich erscheint ein zusätzlicher Liebhaber auf der Bildfläche: ein Brasilianer, dem Valerie einst ewige Treue versprochen hat. In seinem Heimatland hat er es zu Reichtum gebracht und ist nun nach Frankreich zurückgekehrt, um seine vermeintliche Geliebte zu heiraten. Valerie hält ihn hin, während Hulot und Crevel rasend eifersüchtig werden. Sie schwören sich gegenseitig, die liederliche Ausbeuterin zu verstoßen – allerdings nur, damit danach jeder für sich zu ihr schleichen und ihr noch saftigere Versprechen machen kann. Als Valeries Mann stirbt, entscheidet sie sich, den finanzkräftigsten ihrer Verehrer zu heiraten: Crevel. Der Baron von Hulot schlittert indessen endgültig in den Ruin: Der Onkel, der in seinem Auftrag nach Algerien gereist ist, um sich Geld zu ergaunern, ist enttarnt worden. Auch dass der Baron ihn gedeckt hat, lässt sich nicht länger verheimlichen. Hulot hat nun nicht nur sein gesamtes Vermögen verloren, sondern auch seine berufliche Stelle und sein gesellschaftliches Ansehen. Um der Familie aus der Klemme zu helfen, ist die Baronin nun bereit, sich Crevel hinzugeben. Doch dazu kommt es nicht mehr, denn in Algerien begeht der angeschuldigte Onkel Selbstmord, und der verzweifelte Baron nimmt mithilfe seiner ehemaligen Geliebten Josepha einen falschen Namen an und taucht unter. Die Ungewissheit über sein Schicksal lässt die Baronin derart schwer erkranken, dass die Familie um ihr Leben fürchtet. Einzig Tante Lisbeth weiß, wo sich der Ausreißer aufhält, und weidet sich an den Tränen ihrer Cousine. Als diese einmal kurz davor ist, das Versteck ihres Gatten zu entdecken, lässt Lisbeth ihm eilig eine Warnung zukommen.
Die Rache des Brasilianers
Viktor, der als Anwalt arbeitende Sohn des Barons, beschließt, die Frau zu bestrafen, die so viel Unglück über seine Familie gebracht hat. Dazu bedient er sich einer alten Kupplerin, Verbrecherin und Intrigantin namens Frau Nourisson. Diese wiederum teilt dem nach wie vor unsterblich in Valerie Marneffe verliebten Brasilianer mit, dass er seit Jahren nach Strich und Faden betrogen wird und seine Angebetete kurz davor steht, den fetten, alten Crevel zu heiraten. Die Rache des Betrogenen ist schrecklich: Er verabreicht dem Paar kurz nach dessen Hochzeit ein Tropengift, gegen das die Ärzte kein Gegenmittel kennen. Valerie verfault bei lebendigem Leibe, auch Crevel stirbt. Tante Lisbeth ist angesichts des furchtbaren Endes ihrer Freundin erschüttert und schwört einmal mehr Rache.
„Sie liebte Steinbock stark genug, um auf seinen Körper zu verzichten, und doch so maßlos egoistisch, um ihn keiner anderen Frau zu gönnen.“ (über Lisbeth, S. 130)
Die Baronin von Hulot hingegen erholt sich von ihrer Krankheit und wendet sich mildtätigen Werken zugunsten verwaister Kinder zu. Gleichzeitig sehnt sie sich danach, ihren Mann wiederzufinden. Wenzeslaus Steinbock kehrt reumütig zu seiner Gattin zurück. Seine Künstlerkarriere gibt er auf, um fortan als Kritiker und Salontheoretiker zu leben. Eines Tages betritt die Baronin eine ärmliche Schreibstube, in der ein alter Mann zusammen mit einem halbwüchsigen Mädchen lebt. Die Baronin will sich um das Kind kümmern. Fassungslos stellt sie fest, dass der Schreiber und Liebhaber des Mädchens niemand anderer ist als ihr Gatte. In ihrer grenzenlosen Großzügigkeit nimmt sie ihn wieder in die Familie auf, alles scheint sich zum Guten zu wenden. Tante Lisbeth ist über das neue Familienglück derart verbittert, dass sie stirbt.
Der Erotomane kann’s nicht lassen
Als die Baronin von Hulot eines Nachts aufwacht, stellt sie fest, dass sich ihr Gatte heimlich aus dem Schlafzimmer geschlichen hat. Aus der Kammer eines Küchenmädchens dringt Licht. Fassungslos muss die Frau mit anhören, wie ihr unverbesserlicher Gemahl die Hausangestellte bedrängt und ihr sogar die Heirat verspricht: Seine Gattin werde ohnehin nicht mehr lange leben, und dann mache er sie zur Baronin. Dieser letzte Schlag wirft die lebenslang Betrogene auf das Sterbebett. Vor ihrem Tod entfährt ihr das einzige vorwurfsvolle Wort gegen ihren Mann. Doch dieser lässt sich auch dadurch nicht von seinem erotischen Wahn abbringen. Wenige Tage nach dem Begräbnis verlässt er Paris. Ein Jahr später erfährt sein Sohn Viktor, dass er die Hausangestellte geheiratet hat und mit ihr in der Provinz ein Landgut bewirtschaftet.
Zum Text
Aufbau und Stil
Tante Lisbeth ist ein umfangreicher Roman von mehr als 600 Seiten, dessen Aufbau ein wenig an eine klassische Tragödie erinnert. Auffällig ist beispielsweise, dass die Handlung wie in kaum einem anderen Werk Balzacs an die Stadt Paris gebunden ist, wodurch – gemäß der klassischen Dramentheorie – die „Einheit des Ortes“ gewahrt ist. Die verschiedenen Figuren in Tante Lisbeth werden zunächst in ihren jeweiligen sozialen Milieus gezeigt, wonach Balzac mit großer psychologischer Raffinesse ihren Charakter zeichnet und ihre Handlungsweise ergründet. Im Lauf des Romans schlägt das Schicksal mehrfach zu, es kommt zu Intrigen, dramatischen Wendungen und erotischen Verwicklungen. Schließlich mündet das Werk gleich in mehrere Katastrophen – auch dies ein Kennzeichen klassischer Tragödien.
Neben der spannenden Handlung und der Anschaulichkeit der Figuren besticht der Roman durch die beißende Kritik an einer Gesellschaft, in der Geld und Reichtum zum Maß aller Dinge geworden sind. Balzacs Sprache ist geradlinig und mitreißend; darüber hinaus beweisen die pointierten Dialoge seinen Sinn für theatralische Wirkungen.
Interpretationsansätze
- Um zu Prestige und Vergnügen zu kommen, sind Balzacs Figuren fast ausnahmslos bereit, sich über jegliche moralischen Schranken hinwegzusetzen. Diese Unmoral ist kein klassenspezifisches Phänomen: Alle sozialen Schichten sind davon befallen, es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die als Hoffnungsträgerin einer künftigen Läuterung gelten könnte. Die einzige ehrenhafte Figur des Romans ist die Baronin von Hulot, die jedoch gerade an ihrer Tugendhaftigkeit elend zugrunde geht.
- Die Titelfigur ist die Verkörperung der Perfidie schlechthin: Tante Lisbeth verbirgt ihren Neid, ihren Hass und ihre Schadenfreude hinter perfekter Heuchelei. Balzac bezeichnete denn auch die Verlogenheit als prägendes Merkmal der Gesellschaft, in der sein Werk spielt.
- Die Liebe wird instrumentalisiert, um andere zu berauben, zu demütigen oder um die eigene Macht zu vergrößern. Zwar gibt es im Roman auch echte Gefühle. Diese sind allerdings stets von kurzer Dauer und vermögen vor allem die männlichen Figuren nicht davon abzuhalten, aus Triebhaftigkeit immer wieder Ehebruch zu begehen. Die männliche sexuelle Begierde wird als Kraft geschildert, die jede Einsicht und alle guten Vorsätze hinwegfegt.
- Der Baron von Hulot repräsentiert das Scheitern ökonomischer Vernunft und sozialer Verantwortung. Sein einzig verbliebener Lebenszweck besteht darin, sich sexuelle Lust zu verschaffen. Dass ihn Napoleon einst für seine militärischen Verdienste auszeichnete, verdeutlicht die Unbeständigkeit der Tugend.
- Tante Lisbeth ist von Balzacs Gesellschaftstheorie geprägt, wonach das Verhalten der Menschen ähnlich wie das der Tiere von ihrer Umgebung bestimmt wird. Im Unterschied zu den Tieren kann der Mensch laut Balzac seine ursprüngliche soziale Stellung verlassen – durch eigenes Wirken, Glück oder Pech –, was für unablässige Spannung und Dynamik sorgt.
Historischer Hintergrund
Zwischen Monarchie und Republik
Nach Napoleons Untergang verhalfen die Siegermächte am Wiener Kongress von 1814/15 den europäischen Königsdynastien wieder an die Macht. In Frankreich wurden die Bourbonen zwar in der Julirevolution des Jahres 1830 erneut gestürzt, doch die konstitutionelle Monarchie blieb unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe bestehen. Die Industrialisierung des Landes machte rasche Fortschritte, das Bürgertum wurde reicher und gewann an politischem Einfluss. Gleichzeitig wuchs das Arbeiterproletariat, dessen Elend zunehmend gesellschaftliche Spannungen provozierte. In der Hauptstadt Paris waren die 1840er Jahre eine Zeit, in der das Bürgertum seine wirtschaftliche und politische Macht mit allen Mitteln zu sichern und zu vergrößern trachtete. Während sich die alten, reaktionär-monarchischen Kreise nach einem uneingeschränkt herrschenden König zurücksehnten, fanden Frühsozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon zunehmenden Rückhalt bei der Arbeiterschaft.
Zwischen 1845 und 1847 sorgten Missernten und Wirtschaftskrisen für Unruhen, die in der Februarrevolution 1848 gipfelten: Regierung und König mussten zurücktreten, eine von Republikanern und Sozialisten geführte Übergangsregierung rief die Zweite Französische Republik aus. Bei den ersten allgemeinen Wahlen zur Nationalversammlung errangen allerdings die gemäßigten bürgerlichen Republikaner eine Mehrheit, was die Arbeiterschaft zum so genannten Juniaufstand trieb. Die neue Regierung sprach von einer „roten Gefahr“ und ließ die Revolte blutig niederschlagen. Die Verfassung der Zweiten Republik sah vor, dass das Volk einen Präsidenten wählen konnte. Von den vorangegangenen Unruhen erschüttert, entschied sich die Mehrheit für einen Mann, der Ordnung und Sicherheit zu garantieren schien: Louis Napoleon, ein Neffe von Napoleon Bonaparte. Genau wie sein berühmter Verwandter zeigte er allerdings bald autoritäre Züge und ließ sich im Jahr 1852 als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen ausrufen. So mündeten die großen gesellschaftspolitischen Spannungen des vorangegangenen Jahrzehnts erneut in ein diktatorisches System, das erst 1870 zusammenbrechen sollte, als Napoleon III. den Deutsch-Französischen Krieg gegen Preußen verlor.
Entstehung
Tante Lisbeth ist Honoré de Balzacs zweitletzter Roman. Er erschien zunächst 1846 als Serie in der Zeitschrift Le Constitutionnel, ein Jahr darauf folgte die Buchausgabe. Das Werk ist Bestandteil des großen Romanzyklus Die menschliche Komödie. Zur Zeit der Niederschrift wurde Balzac von schweren gesundheitlichen Problemen gequält, was er durch unentwegtes Schreiben zu verdrängen suchte. Zeitgleich entstand unter dem Titel Vetter Pons ein weiterer Roman, dessen Hauptfigur in seiner gütigen Naivität als Gegenfigur zur verworfenen Lisbeth angelegt ist. Innerhalb der weit verzweigten Struktur der Menschlichen Komödie gehören beide Romane zu den unter dem Titel Szenen aus dem Pariser Leben gruppierten Werken, wo sie die Untergruppe Die armen Verwandten bilden.
Wirkungsgeschichte
Tante Lisbeth war beim zeitgenössischen Publikum ein großer Erfolg und ist bis heute eines von Balzacs beliebtesten Werken geblieben. Der Autor beschreibt die moralische Verkommenheit der französischen Hauptstadt mit analytischem Scharfsinn und radikalem Pessimismus, was faszinierend und verstörend zugleich wirken kann. Dasselbe gilt für die Heldin des Romans, die innerhalb des gesamten Balzac’schen Werks durch ihre kompromisslose Bosheit hervorsticht und zum literarischen Prototyp weiblichen Intrigantentums geworden ist. Für den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig war Tante Lisbeth „eine ins Dämonische transponierte alte Jungfer, die nicht genießt und nur beneidet, die kuppelt aus einer bösen und verborgenen Lust“. Zweigs Landsmann Hugo von Hofmannsthal äußerte sich begeistert über das Werk: „Ein grandioses Buch, das ich nicht finster nennen kann, obwohl es fast nur Hässliches, Trauriges und Schreckliches enthält, da es von Feuer, Leben und Weisheit glüht.“
Die ungeschminkte Darstellung der gesellschaftlichen Realität, die zielstrebige Handlung, die vielschichtigen Figuren und Balzacs auktoriale Erzählweise haben Tante Lisbeth zu einem Musterbeispiel realistischen Erzählens werden lassen und dem Naturalismus den Weg geebnet. So bedeutende Autoren wie Charles Dickens, Gustave Flaubert, Marcel Proust und Henry James wurden davon beeinflusst. Das Prinzip, eine ganze Reihe von Romanen durch wiederkehrende Themen und Figuren zu einer übergeordneten Einheit zu verbinden, hat der französische Naturalist Émile Zola in seinem Zyklus der Rougon-Macquart übernommen. Tante Lisbeth wurde mehrmals verfilmt, u. a. 1998 mit Jessica Lange in der Hauptrolle.
Über den Autor
Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgearbeitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schriftsteller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schriftstellerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adelskreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Liebschaften mit zumeist verheirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkontakt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gelegentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekanntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Romanfiguren in verschiedenen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Romanuniversum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Menschlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Untergruppen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schriftsteller ein unglaubliches Arbeitspensum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fertigstellen. Zu den bekanntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Chagrinleder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des literarischen Realismus in Frankreich. Die ständige Überanstrengung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.
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