Thorstein Veblen
Theorie der feinen Leute
Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen
Fischer Tb, 2007
Was ist drin?
Sport, Religion, Fremdsprachenstudium? – Spielwiesen einer dekadenten Oberschicht, sagt Thorstein Veblen in seinem bissigen Soziologie-Klassiker.
- Soziologie
- Moderne
Worum es geht
Reich und faul
Soziologisches Sachbuch, beißende Gesellschaftssatire oder einfach nur die sonderbaren Gedankenergüsse eines verbitterten Eigenbrötlers? Lange Zeit war sich die Kritik nicht einig, was Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute nun eigentlich darstellen soll. Sicher ist, dass das Buch ein Erfolg war: Als Satire fand es zahlreiche amüsierte Leser, als soziologische Untersuchung hatte es großen Einfluss auf die Wissenschaft. Veblens Ausführungen sind zum großen Teil zeitbezogen; der offen zur Schau getragene Müßiggang, wie der Autor ihn um 1900 beobachtete, ist heute eher verpönt. Unter dem Deckmantel des ökonomischen Aktivismus aber lebt die Kaste der Nichts- und Wichtigtuer fröhlich weiter, und deshalb lohnt sich die Lektüre dieses ungewöhnlichen Buches auch noch nach hundert Jahren. Die bissige, polemische Darstellung bereitet so viel Vergnügen wie damals, und auch wenn sich vieles geändert hat, kommen einem manche Typen, die Veblen aufs Korn nimmt, erstaunlich bekannt vor.
Take-aways
- Theorie der feinen Leute ist eine eigenwillige Mischung aus Wissenschaft und Satire. Ein Klassiker der amerikanischen Soziologie.
- Inhalt: Die Oberklasse der Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie reich ist und keine produktive Arbeit leistet. Das kommt daher, dass sie von Kriegern abstammt, die auf ihren Raubzügen Besitz und Sklaven erbeuteten und nicht mehr selbst arbeiten mussten. Weil Reichtum auch Ansehen bedeutet, stellen die Menschen ihr Vermögen offen zur Schau.
- Veblen verbindet Erkenntnisse aus Anthropologie, Soziologie und Psychologie.
- Die Menschen, sagt er, handeln nicht vernunftgesteuert, sondern gehorchen archaischen, instinktiven Verhaltensmustern.
- Das Buch entspricht nicht den üblichen Anforderungen an ein wissenschaftliches Werk: Der Autor stellt z. T. gewagte Thesen auf, ohne sich um Beweise zu kümmern.
- Wegen seiner polemischen Tendenz wurde das Buch vor allem als Satire gelesen.
- Veblen hat die amerikanische Soziologie entscheidend beeinflusst.
- Er war Professor für Ökonomie, geriet jedoch wegen seiner eigenwilligen Lehrmeinungen und seiner eigenbrötlerischen Art immer wieder in Schwierigkeiten mit seiner Umwelt.
- Die letzten beiden Lebensjahre verbrachte er in einer einsamen Holzhütte, wo er schließlich auch starb.
- Zitat: „Die einzige andere Schicht, die der erblichen müßigen Klasse die Ehre einer gewohnheitsmäßig kriegerischen Gesinnung streitig machen könnte, sind die Kriminellen.“
Zusammenfassung
Die müßige Klasse
Die Vorstellung, dass sich eine Gesellschaft aus verschiedenen Klassen unterschiedlicher Ränge zusammensetzt, ist historisch gewachsen. Sehr primitive Gesellschaften unterscheiden nicht nach Klassen. Diese bilden sich erst dann aus, wenn eine Gesellschaft den Krieg und die Jagd kennt, wenn sie also räuberisch ist. Die vornehmste Klasse einer solchen Gesellschaft formt sich zunächst einmal aus den erfolgreichsten Kriegern, weil diese in der Gruppe einen besonderen Rang einnehmen. Das heißt also, je brutaler jemand mit seinen Gegnern umgeht und je gerissener er ist, umso höher ist seine Stellung in der Gesellschaft. Hinter ihnen rangieren die Priester in der archaischen Hierarchie. Zusammen bilden sie die Oberschicht, die müßige Klasse der Gesellschaft.
„Die Institution einer Klasse, die nicht arbeitet, also einer müßigen Klasse, hat in den Hochformen der barbarischen Kultur, etwa im feudalen Europa oder in Japan, ihre höchste Entwicklung gefunden.“ (S. 21)
Auch heute noch gibt es die müßige Klasse. Müßig deshalb, weil sie keiner produktiven Tätigkeit nachgeht. Sie beschäftigt sich stattdessen mit unproduktiven Dingen wie Krieg, Politik, Religion und Sport. Andere, produktivere Arbeiten werden als minderwertig angesehen und dem gemeinen Volk überlassen. Ein wichtiges Kennzeichen der müßigen Klasse ist ihr Reichtum. Wer zur Oberschicht gehört, verfügt über einigen Besitz und arbeitet nicht selbst, sondern lässt andere für sich arbeiten. Auch dies ist aus der Entwicklung der Gesellschaft erklärbar: Die besten Krieger erwarben das höchste Ansehen. Und wer das Kriegshandwerk beherrschte, machte reiche Beute, hatte also am meisten Besitz. Bei solchen Beutezügen wurden nicht nur Gegenstände, sondern auch Menschen geraubt: Sklaven, die dann für ihren Herrn die Arbeit leisten mussten, und Frauen – weshalb die Frau auch lange Zeit als Besitz des Mannes galt. Reichtum und Müßiggang waren also ein Indiz der Stärke solcher Krieger, ein Zeichen ihres Erfolgs und gesellschaftlichen Rangs. Dieser kriegerische Hintergrund ist heute vergessen, doch noch immer gilt ein Mensch als besonders erfolgreich und vornehm, wenn er reich genug ist, um keine produktive Arbeit leisten zu müssen.
Das Vergleichsprinzip
Wettbewerb und Gütervergleich sind der wichtigste Antrieb des menschlichen Handelns; die Menschen beziehen ihr Selbstwertgefühl aus dem, was sie besitzen. Bei der Frage, wie viel Aufwand sie für ihren Besitz betreiben sollen, orientieren sie sich an der nächsthöheren gesellschaftlichen Klasse und vergleichen sich mit ihr. Wenn sie jedoch wohlhabender werden, sind sie nicht zufrieden, sondern legen die Messlatte einfach höher. Umgekehrt fällt es ihnen sehr schwer, auf bereits erworbene Annehmlichkeiten und Prestige zu verzichten, wenn sie ihren Reichtum plötzlich verlieren.
„Reichtum bringt Ehre, und die Unterscheidung zwischen Reichen und Armen ist neiderfüllt.“ (S. 43)
Konsum und Müßiggang finden sich übrigens auch im sakralen Bereich. In allen religiösen Kulten wird für die Gottheit Verschwendung und Prunk betrieben. Priester leisten als Vertreter der höchsten Mächte keine produktive Arbeit, und an Feiertagen wird dieser Müßiggang einiger weniger auf alle Gläubigen ausgedehnt.
Müßiggang und Werkinstinkt
Arbeit wird in der Gesellschaft mit Sklaventum bzw. einer wenig vornehmen Herkunft in Verbindung gebracht. Dementsprechend halten es Angehörige der Oberschicht für unwürdig, produktive Arbeit zu leisten, mehr noch: Sie zeigen durch ihren Verzicht darauf, dass sie diese Arbeit nicht nötig haben. Stattdessen widmen sie sich wirtschaftlich nutzlosen Betätigungen wie dem Studium alter Sprachen.
„In jeder Gesellschaft, die das Privateigentum kennt, muss der Einzelne im Interesse seines inneren Friedens mindestens ebenso viel besitzen wie jene, mit denen er sich auf dieselbe Stufe stellt; und es ist außerordentlich wohltuend, etwas mehr zu haben als die andern.“ (S. 47)
Ebenso erklärt es sich, dass Menschen, die als vornehm gelten wollen, so großen Wert auf gute Manieren legen: Solche Verhaltensweisen zu lernen, ist auch nichts anderes als eine Form der Zeitverschwendung. Wer aber gute Manieren an den Tag legt, kann auf diese Weise jederzeit seinen gesellschaftlichen Rang demonstrieren. Das Einzige, was dem demonstrativen Nichtstun entgegenwirkt, ist der Werkinstinkt des Menschen: der Wunsch, im Leben etwas Sinnvolles zu leisten. Doch dieser wird in der Oberklasse in der Regel mit unproduktiven Beschäftigungen ausgelebt.
Die Rolle der Frauen
Die Ehefrau stand in primitiven, barbarischen Gesellschaften zunächst auf der gleichen Stufe wie die Dienstboten. Sie war Eigentum des Mannes und für einfache Arbeiten zuständig. Doch weil ein Mann, der als vornehm gelten wollte, sich eine entsprechende Frau wünschte, wurde in vornehmen Familien bald auch dem weiblichen Geschlecht ein gewisser Rang zugesprochen. Das Privileg, wie ihr Mann nicht mehr arbeiten zu müssen, wurde auf die Frau ausgedehnt; sie kümmerte sich bald nur noch um so unproduktive Dinge wie das Ausschmücken des Heims. Für alle niederen Arbeiten gab es eigenes Personal. In ganz vornehmen Familien wurden sogar manche Dienstboten stellvertretend für ihren Herrn in den Müßiggang eingeschlossen. Sie waren nur noch für die persönliche Bedienung ihres Herrn oder für repräsentative Zwecke da, leisteten also auch keine produktive Arbeit mehr. Ebenso wie diesen stellvertretenden Müßiggang gibt es auch stellvertretenden Konsum: Ist der Hausherr reich, lebt auch seine Frau im Luxus, und seine Leibdiener tragen kostbare Livreen, an denen sich der Reichtum der Familie ablesen lässt.
„Die Beschäftigung der vornehmen Klasse ist also räuberischer und nicht produktiver Art.“ (S. 55)
In der modernen Industriegesellschaft hat sich dieses Bild etwas gewandelt. In der Regel kann sich heute auch ein wohlhabender Mann keinen totalen Müßiggang mehr leisten. Der stellvertretende Konsum der Ehefrau ist dagegen noch selbstverständlich. Wenn der Mann reich ist, kann die Frau unproduktiven Beschäftigungen nachgehen. Sie kümmert sich allenfalls um den Haushalt oder engagiert sich im sozialen Bereich. Auf diese Weise demonstriert sie den Reichtum ihres Mannes. Das ist vor allem in einem relativ anonymen Umfeld wichtig, z. B. in einer Großstadt. Wenn einen niemand kennt, müssen alle auf den ersten Blick sehen können, dass man wohlhabend ist. In letzter Zeit protestieren viele Frauen gegen diese Untätigkeit, die ihnen die Gesellschaft aufzwingt.
Wert und Schönheit
Der Wunsch, durch Konsum den gesellschaftlichen Rang zur Schau zu stellen, bestimmt auch unser ästhetisches Empfinden. Was teuer ist, finden wir automatisch schön, Billiges scheint immer auch hässlich. Diese Vorstellung sitzt tief im menschlichen Bewusstsein. So sind wir uns gar nicht mehr im Klaren darüber, dass wir bei schönen Gegenständen eigentlich nur ihren materiellen Wert schätzen. Pflanzen, deren Pflege sehr aufwändig ist, werden bewundert, aber ein einfaches Unkraut, das genauso schön blüht, beachtet niemand – eben weil es nichts kostet. Ähnlich ist es bei den Tieren: Nutztieren wie Kühen oder Geflügel schreibt man keinen ästhetischen Wert zu, aber das hässlichste Schoßhündchen gilt als etwas Besonderes, denn es kostet seinen Besitzer Geld, ohne irgendeinen Nutzen zu bringen.
„Frauen und andere Sklaven besitzen sowohl als Zeugen des Reichtums wie auch als Werkzeuge zur Anhäufung von Gütern einen hohen Wert.“ (S. 67)
Sogar in der Bewertung weiblicher Schönheit lassen sich diese Grundsätze erkennen. In einer Gesellschaft, in der die vornehme Frau keine andere Aufgabe erfüllt, als den Reichtum ihres Mannes zu demonstrieren, gelten Merkmale von Schwäche und Nutzlosigkeit als schön: vornehme Blässe, ein zarter Körperbau, eine eng geschnürte Taille oder, wie im alten China, verkrüppelte Füße.
Konservative Unterdrückung
Die Oberklasse ist konservativ und hemmt den Fortschritt der Gesellschaft. Es geht ihr unter den herrschenden Bedingungen gut, und deshalb hat sie kein Interesse daran, etwas zu verändern. Weil man konservative Ansichten schon ganz selbstverständlich mit der Oberklasse in Verbindung bringt, gelten sie als anständig und umgekehrt wird alles Revolutionäre als vulgär bezeichnet. Die Armen haben indes kaum Möglichkeiten zur Revolution, denn die reiche Klasse sorgt dafür, dass auch sie in einer konservativen Einstellung verharren: Sie raubt ihnen möglichst viel von den Mitteln zum Lebensunterhalt und nimmt ihnen damit auch die Energie, die sie bräuchten, um etwas zu verändern.
„So sind jene Ämter edel, die nach altem Recht die eigentliche Beschäftigung der müßigen Klasse bilden, nämlich Regieren, Kämpfen, Jagen, die Pflege der Waffen und Rüstungen usw., kurz, Tätigkeiten, die man alle als scheinbar räuberisch bezeichnen kann.“ (S. 88)
Die Oberschicht hat sich Verhaltensweisen aus der barbarischen Zeit bewahrt, sie neigt zu räuberischen Handlungen. Das äußert sich vor allem in ihrem Bedürfnis, zu kämpfen und zu töten, wie etwa die Vorliebe für das Duell und die Jagd sowie für das Kriegshandwerk zeigt. Das Regieren, das ja in eine ähnliche Richtung geht, ist ebenfalls Sache der Oberschicht. Ein weiterer Punkt ist der Sport. Man sagt ihm zwar positive Wirkungen auf die Entwicklung eines Menschen nach, aber das lässt sich nicht beweisen. Sport fördert nur barbarische Eigenschaften, wie die Lust am Kämpfen und am Betrug. Den Hang zu räuberischem Verhalten zeigen außer der Oberschicht nur noch die Mitglieder der untersten Schicht, die Kriminellen. Er stammt offenbar aus einer frühen Entwicklungsstufe der Menschheit – ein Zeichen dafür, dass vornehme Leute und Kriminelle in ihrer Entwicklung zurückgeblieben und unreif sind.
Der Glaube an das Übernatürliche
Zum ursprünglich barbarischen Kampf und Wettbewerb gehört auch das Glücksspiel. Wer an einem solchen teilnimmt, glaubt an das Glück bzw. daran, dass es in irgendeiner Form eine übernatürliche Macht gibt, die das Schicksal des Menschen beeinflusst. Doch wenn jemand an übernatürliche Mächte glaubt, kann er ganz normale Kausalzusammenhänge nicht mehr wahrnehmen und geht entsprechend oft in die Irre. Glaubensvorstellungen mindern die Intelligenz eines Menschen und damit auch seine Befähigung zur Arbeit.
„Nur Verschwendung bringt Prestige.“ (S. 103)
Wie der Sport und das Glücksspiel gründet natürlich auch die Religion auf dem Glauben an eine höhere Macht, die in das Leben der Menschen eingreift und sich durch bestimmte Verhaltensweisen günstig stimmen lässt. Der Unterschied liegt nur darin, dass man in der Religion dieser Macht eine konkrete, menschenähnliche Gestalt gibt. Dass gerade die Kirchen in ihren Jugendorganisationen viel Wert auf Sport legen, erstaunt also nicht unbedingt. Übrigens legen auch Kriminelle häufig eine große Schicksalsgläubigkeit an den Tag.
Religion: ein Zeichen von Unreife
Die Religion ist eng mit der Vorstellung von Hierarchien, mit Herrschaft und Unterwerfung verbunden. Sie fördert noch heute das Standesdenken in der Gesellschaft: Ein religiöser Mensch lehnt sich nicht gegen Unterdrückung auf, sondern nimmt sie als gottgegeben hin. Frömmigkeit hemmt auch das Wirtschaftsleben, indem sie das logische Denken, das für den Fortschritt unbedingt nötig ist, aushebelt. Sie erfordert zudem viel Zeit, die man auch sinnvoller nutzen könnte. Schließlich zieht sie Ausgaben nach sich, etwa für Kirchenbauten und Priesterkleidung. Dieses Geld könnte nutzbringender investiert werden. Alles in allem kann man Religiosität also als ein Zeichen von Unreife ansehen.
„Mit Ausnahme des Selbsterhaltungstriebs gehört wohl der Wettbewerb zu den stärksten, regsten und hartnäckigsten der eigentlich wirtschaftlichen Motive.“ (S. 115)
Umgekehrt lässt sich beobachten, dass Menschen sich von religiösen Kulten distanzieren, sobald sie in der modernen, industriellen Arbeitswelt tätig sind. Diese erfordert logisches Denken, und wer darin geübt ist, sieht den Glauben kritischer. Man erkennt das u. a. daran, dass heute hauptsächlich noch die Frauen und Kinder ein frommes Leben führen, also diejenigen, die mit dieser Arbeitswelt nichts zu tun haben.
Nutzlose Geisteswissenschaften
Die Religion ist im Zerfall begriffen. In diesem Prozess nimmt sie Elemente auf, die ihr ursprünglich fremd waren, wie Vorstellungen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Zugleich beginnen die Angehörigen der Oberschicht, sich vom barbarischen Verhalten abzuwenden. Das mag daran liegen, dass die ursprünglichen Betätigungsfelder der Oberklasse – Jagd, Religion, Politik – an Bedeutung verlieren: Es gibt immer weniger Wild, das man jagen könnte, die Religion hat ihre zentrale Stellung verloren, und in die Politik drängen auch Angehörige anderer Gesellschaftsschichten. Als Ersatz dafür beschäftigt sich die müßige Klasse vermehrt mit sozialen Engagements – schließlich will der Werkinstinkt befriedigt sein –, aber selbst diese Tätigkeit zielt oft nur darauf ab, sich vor anderen auszuzeichnen.
„Die höhere Befriedigung, die Gebrauch und Betrachtung teurer und angeblich schöner Dinge verschaffen, ist im Allgemeinen nichts anderes als die Befriedigung unserer Vorliebe für das Kostspielige, dem wir die Maske der Schönheit umhängen.“ (S. 130)
Das höhere Bildungswesen wurde von der Oberklasse begründet. Nicht zufällig waren Bildung und Religion über Jahrhunderte eng miteinander verknüpft. Ähnlich wie bei religiösen Kulten werden an Universitäten denn auch gern Rituale gepflegt. Lange Zeit standen vor allem die Geisteswissenschaften hoch im Kurs – kein Wunder, schließlich fehlt ihnen der praktische Nutzen, und damit entsprechen sie dem Hang der Oberklasse zum Nichtstun. Praxisbezogene Fächer wie die Naturwissenschaften setzen sich dagegen nur zögerlich durch.
Zum Text
Aufbau und Stil
Thorstein Veblens Theorie der feinen Leute ist in 14 Kapitel untergliedert, die sich mit verschiedenen Bereichen der menschlichen Gesellschaft befassen. Die Struktur ist nicht linear, die wichtigsten Thesen wiederholt Veblen schlagwortartig immer wieder. Das Buch lässt sich nur schwer einer bestimmten Textgattung zuordnen. Auf den ersten Blick wirkt es wie eine wissenschaftliche Abhandlung (wenn auch ohne Fußnoten und Literaturverzeichnis) über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Der Hochschullehrer Veblen benutzt zahlreiche Fach- und Fremdwörter und legt seine Gedanken in langen, verschachtelten Sätzen dar. Doch anders als in wissenschaftlichen Texten üblich stellt Veblen gewagte, ja teilweise haarsträubende Thesen auf, ohne sich um schlüssige Beweise allzu sehr zu bemühen. So kann man das Buch ebenso gut auch als Gesellschaftssatire verstehen: Die Thesen sind oft reichlich übertrieben, die Darstellung polemisch und teilweise zynisch – und dadurch umso amüsanter.
Interpretationsansätze
- Veblen übt harsche Kritik an der amerikanischen Geldaristokratie. Für diese Oberschicht, die eigentlich als Elite der Gesellschaft gilt, hat er nur Verachtung übrig. Seiner Ansicht nach ist sie komplett nutzlos, führt ein Parasitendasein und bewahrt uralte Verhaltensmuster aus der Feudalzeit. Auch an der Religion lässt er kein gutes Haar, sie ist für ihn eine kostspielige Zeitvergeudung.
- In der Theorie der feinen Leute wird eine dekadente, pervertierte Gesellschaft beschrieben, deren Handlungen sich von ihrem ursprünglichen Sinn entkoppelt haben. So dient das Streben nach Reichtum – zumindest in der Oberschicht – nicht mehr der materiellen Bedürfnisbefriedigung, sondern nur noch der Erhöhung des sozialen Status.
- Das Buch ist geprägt von Veblens Sinn für soziale Gerechtigkeit einerseits, für Effizienz und Nützlichkeit andererseits sowie von seinem Bestreben, die gesellschaftlich gering geschätzte produktive Arbeit aufzuwerten. In der konsumkritischen Haltung schlägt sich auch Veblens Sympathie für den Sozialismus nieder.
- Veblen führt das menschliche Handeln auf archaische Verhaltensweisen zurück. Seiner Ansicht nach wird der Mensch noch von den gleichen Instinkten getrieben wie zu prähistorischer Zeit. Das Verhalten der modernen Menschen wird dementsprechend nicht von der Vernunft gesteuert, sondern vor allem vom Wunsch nach Prestige.
- In seiner Haltung gegenüber Frauen ist Veblen modern: Für ihn ist es selbstverständlich, dass auch Frauen eine sinnvolle Betätigung brauchen und deshalb einem Beruf nachgehen sollten.
- Viele der Thesen sind zeitbezogen und treffen auf die heutige Gesellschaft nicht mehr zu. So kann es sich inzwischen kaum noch jemand leisten, den Müßiggang zu pflegen und andere für sich arbeiten zu lassen. Ebenso hat sich die Stellung der Frau grundlegend geändert, und auch Dienstpersonal gibt es heute nur noch selten.
- Veblen argumentiert spekulativ, aber im Großen und Ganzen plausibel. Um seine Thesen zu stützen, scheut er allerdings nicht davor zurück, z. T. kühne Behauptungen in den Raum zu stellen, ohne diese weiter zu begründen. Dies z. B., wenn er Religion, Sport und Kriminalität über einen Leisten schlägt.
Historischer Hintergrund
Die USA im ausgehenden 19. Jahrhundert
Nach dem Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten und dem nachfolgenden Wiederaufbau begann für die USA etwa ab 1876 eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs: Zahlreiche Erfindungen und technische Weiterentwicklungen trieben den Fortschritt an und ließen die Vereinigten Staaten zur wichtigsten Wirtschaftsmacht der Zeit werden. Doch der Boom hatte auch eine Schattenseite: Während die Gewinner des Wirtschaftsaufschwungs immer reicher wurden, ging es der einfachen Bevölkerung zunehmend schlechter. Trotz sehr langer Arbeitszeiten und Kinderarbeit konnten sich viele Familien nur mit Mühe über Wasser halten. Arbeitskräfte gab es reichlich, denn auch die Einwanderung erreichte in diesen Jahren einen Höchststand. Die Gewerkschaftsbewegung, die den Interessen der Arbeiter hätte Nachdruck verleihen können, wurde von Politik und Wirtschaft nach Möglichkeit unterdrückt. In den Städten entstanden Elendsviertel, in denen Menschen unter unwürdigsten Bedingungen lebten. Die Wohlhabenderen dagegen konnten es sich mit der Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs leisten, im Grünen zu wohnen und zum Arbeitsplatz zu pendeln.
So wuchs die Kluft zwischen Arm und Reich nicht nur finanziell, sondern auch räumlich. Staatliche Unterstützung war so gut wie nicht vorhanden; die Notleidenden waren auf private Initiativen angewiesen. Tatsächlich gab es eine Vielzahl von Reichen, die sich sozial betätigen wollten, doch ihre Hilfe ging oft am eigentlichen Bedarf vorbei. So kam es in den 1890er Jahren zu Streiks und Unruhen, die schließlich dazu führten, dass sich die Politik vermehrt des Themas annahm. Erste soziale Reformen wurden in die Wege geleitet. Die so genannte „Progressive Era“ (ca. 1900–1917), zu deren herausragenden Denkern Veblen gezählt wird, begann. Die meisten Anführer der progressiven Bewegung stammten aus der protestantischen, städtischen Mittelklasse. Ihr berühmtester politischer Vertreter war Theodore Roosevelt, der 26. Präsident der Vereinigten Staaten. Er setzte während seiner Amtszeit (1901–1909) Verbesserungen der Arbeitsbedingungen durch, u. a. den Achtstundentag, sowie die staatliche Kontrolle von Wirtschaftsmonopolen.
Entstehung
Thorstein Veblen verfasste die Theorie der feinen Leute Ende der 1890er Jahre, während seiner Zeit als Professor für Ökonomie an der Universität Chicago. Obwohl er sich in dem Werk hin und wieder auf ökonomische Themen bezieht, ist es nicht wirklich ein Wirtschaftsbuch – und war auch vom Autor vermutlich auch nicht als solches geplant.
Eher unternahm Veblen den Versuch, die damals aktuellen Erkenntnisse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Anthropologie, Psychologie und Soziologie miteinander zu verknüpfen. Dabei ist der Einfluss von Charles Darwin deutlich erkennbar, ebenso wie der des Soziologen Herbert Spencer, der als Erster Darwins Erkenntnisse auf die menschliche Gesellschaft übertrug. In Veblens Kritik an der Elite der Gesellschaft mögen Erfahrungen aus seiner eigenen Kindheit als Sohn schwer arbeitender Farmer eingeflossen sein.
Wirkungsgeschichte
Theorie der feinen Leute, erschienen 1899, ist Thorstein Veblens bekanntestes Werk. Erfolg hatte das Buch vor allem im englischsprachigen Raum. Zum einen fand es als Gesellschaftssatire rasch eine breite Leserschaft. Zum anderen wurden Veblens Theorien, trotz aller Polemik, auch von der Wissenschaft beachtet. Vor allem auf die Soziologie, aber auch auf die Wirtschaftswissenschaften hatte das Werk einigen Einfluss.
Auf die Theorie der feinen Leute geht der Veblen-Effekt, ein Begriff der Volkswirtschaftslehre, zurück: das Phänomen, dass manche Güter gerade deswegen gekauft werden, weil sie teuer sind und Menschen damit ihren Reichtum demonstrieren können. Auch andere Begriffe der Wirtschaft und Soziologie hat Veblen mit diesem Buch geprägt. Er war einer der Ersten, die Kritik an der Konsumgesellschaft übten. Mit seiner Theorie, dass die Menschen nicht von der Vernunft gesteuert würden, sondern von Verhaltensmustern, die bis in prähistorische Zeiten zurückreichen, stellte er sich gegen die herrschende Meinung seiner Zeit und wurde damit für andere Forscher richtungsweisend. Er gilt auch als Begründer der Institutionenökonomik, eines Zweigs der Wirtschaftswissenschaften, der sich mit der Wechselwirkung von Institutionen, Wirtschaft und Gesellschaft befasst. Zudem war Veblen ein Vorreiter der technokratischen Bewegung in den USA nach dem Ersten Weltkrieg, die das Heil der Gesellschaft vor allem in der technischen Entwicklung suchte.
Über den Autor
Thorstein Veblen wird am 30. Juli 1857 in Cato geboren, einem kleinen Ort in Wisconsin in den USA, in dem nur norwegische Einwanderer leben; auch Veblens Eltern sind einige Jahre zuvor aus Norwegen gekommen. Sie haben insgesamt zwölf Kinder und bringen es als Farmer durch harte Arbeit zu einigem Wohlstand. Thorstein wächst mit der norwegischen Sprache und Kultur auf, Englisch lernt er erst in der Schule. 1881 beginnt er ein Studium der Philosophie und Ökonomie, das er drei Jahre später mit dem Doctor of Philosophy abschließt. Danach arbeitet er erst einmal nicht, sondern zieht sich auf den Hof seiner Eltern zurück, kuriert eine Krankheit aus und betreibt private Studien. Nach seiner Hochzeit 1888 lebt er auf einer Farm der Schwiegereltern. Erst 1891, sieben Jahre nach Studienabschluss, kehrt Veblen an die Universität zurück. Ab 1892 ist er Professor für Ökonomie an der Universität Chicago. 1899 erscheint sein bekanntestes Werk, Theory of the Leisure Class (Theorie der feinen Leute). Doch Veblen ist kein erfolgreicher Hochschullehrer. Seine Theorien sind eigenwillig, er gilt als Eigenbrötler und als ungeschickt im Umgang mit anderen Menschen. Als dann noch bekannt wird, dass er außereheliche Beziehungen unterhält, muss er die Universität verlassen. Ab 1906 lehrt er in Stanford. Auch hier bleibt er nur wenige Jahre, schon 1911 wechselt er zur Universität von Missouri und lässt sich bald darauf scheiden.1914 heiratet Veblen ein zweites Mal. 1918 gibt er die Stelle als Hochschullehrer ganz auf, betätigt sich als Publizist und ist einer der Mitbegründer der New School for Social Research in New York. Veblen bezeichnet sich nie offiziell als Kommunist, doch er sympathisiert mit dem Kommunismus und plant eine Reise in die Sowjetunion, die allerdings nie zustande kommt. 1927 zieht er sich endgültig aufs Land zurück und lebt in einer Holzhütte in Kalifornien bis zu seinem Tod am 3. August 1929.
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