Claude Lévi-Strauss
Traurige Tropen
Suhrkamp, 1978
Was ist drin?
Lévi-Strauss’ Suche nach der menschlichen Ursprünglichkeit: Eine abenteuerliche Forschungsreise zu den Ureinwohnern Brasiliens.
- Ethnologie
- Moderne
Worum es geht
Die ursprüngliche Gesellschaft
Auf der Suche nach der ursprünglichen Gesellschaft, die noch nicht durch die Zivilisation deformiert und zerstört worden ist, stieß der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in den 1930er Jahren auf die Ureinwohner Brasiliens. Unter abenteuerlichen Bedingungen bereiste er die Mato-Grosso-Hochebene in Zentralbrasilien, wo er verschiedene Indianergruppen besuchte. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit analysierte er ihre Lebensweisen und Gesellschaftsstrukturen. Lévi-Strauss glaubte, dass alle Gesellschaften auf einer gemeinsamen Grundlage aufbauen. Die Erforschung dieser ursprünglichen Strukturen menschlicher Gesellschaften stellte er ins Zentrum seines Schaffens und knüpfte damit an das Denken Rousseaus an. Traurige Tropen ist eine faszinierende Mischung aus Reisebericht, Autobiografie, ethnologischem Handbuch und philosophischem Traktat. Die kurzweilige Lektüre entführt den Leser in die brasilianische Tropenwelt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und ermöglicht einmalige Einblicke in eine heute in Vergessenheit geratene Kultur.
Take-aways
- Traurige Tropen ist eine Mischung aus Reisebericht, Autobiografie, ethnografischem Handbuch und philosophischem Traktat.
- Inspiriert von seiner zweiten Reise nach Amerika in den 1940er Jahren, berichtet Lévi-Strauss rückblickend von seinen ethnologischen Expeditionen zu den Eingeborenen Brasiliens in den 1930ern.
- Damals besuchte er in Zentralbrasilien die einheimischen Bevölkerungsgruppen der Caduveo, Bororo, Nambikwara und Tupi-Kawahib.
- Detailliert beschreibt Lévi-Strauss deren Siedlungsstil, Riten, Bekleidung, Gesang, Körperbemalung und Sprache.
- Ebenso analysiert er in akribischer Arbeit ihre gesellschaftlichen Strukturen.
- Als Vertreter des Strukturalismus hat der Ethnologe die Meinung, dass allen Gesellschaften eine gemeinsame Struktur zugrunde liegt.
- Diese allgemeinen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft will er erforschen.
- Die ursprünglichen Gesellschaftsstrukturen sind bei den „Wilden“, die noch nicht durch die Zivilisation kultiviert worden sind, am offenkundigsten.
- Auf seinen Reisen muss Lévi-Strauss feststellen, dass die Kultur der Eingeborenen Brasiliens dem Untergang geweiht ist.
- Für den Ethnologen ist die weltweite Zerstörung der Natur und des Menschseins die unselige Konsequenz der fortschreitenden Zivilisierung.
- Traurige Tropen ist eines der bedeutendsten Werke der Ethnologie und steht am Anfang der strukturalistischen Sozialanthropologie.
- Das Werk beeinflusste darüber hinaus auch Philosophen wie Foucault oder Derrida.
Zusammenfassung
Auf Reisen
Im Februar 1941 tritt der 33-jährige französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in Marseille eine Schiffsreise nach Amerika an. Der jüdische Akademiker, der seit der deutschen Besatzung Frankreichs in Lebensgefahr schwebt, folgt einer Einladung der New School for Social Research in New York. Nach längeren unfreiwilligen Aufenthalten in Martinique und Puerto Rico erreicht er nach einer monatelangen Odyssee endlich sein Ziel. Er reist höchst ungern, denn die überall anzutreffende menschliche Zerstörung der Natur und der exotischen Völker deprimieren ihn. Die einstige Ursprünglichkeit verschwindet immer mehr. Viele Arbeitskollegen aus der Ethnologie beschleunigen diesen Prozess sogar noch mit ihren realitätsfremden Reiseberichten und Herangehensweisen. Ein guter Forscher hingegen zeigt immer nur die wahren Verhältnisse auf. Die Reise nach New York weckt in Lévi-Strauss Erinnerungen an seinen ersten Aufenthalt in der Neuen Welt und veranlasst ihn zur Reflexion der damaligen Erlebnisse.
Die Berufung zum Ethnologen
1927 nimmt Lévi-Strauss an der Sorbonne ein Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie in Angriff. Fünf Jahre später schließt er es mit einem Staatsexamen in Philosophie ab. Seine Hingabe und sein Interesse für das Fach bleiben jedoch bescheiden, denn für den jungen Akademiker konzentriert sich die Philosophie zu einseitig auf das Training der Intelligenz und den Erwerb von Know-how. Dabei bleiben die wahren Zusammenhänge und Eigenschaften der Dinge auf der Strecke. Inspiriert von Freuds Psychoanalyse, dem Marxismus und der Geologie vertritt Lévi-Strauss die Ansicht, dass zur Erörterung eines Gegenstands sowohl dieser selbst als auch seine Bedeutung für das große Ganze erkannt werden muss. Nur so gelingt es, ein Untersuchungsobjekt wahrhaft zu erfassen und zu verstehen. Seine Lehrtätigkeit an den Gymnasien von Mont-de-Marsan und Laon während zweier Jahre erfüllt Lévi-Strauss ebenfalls nicht. Begeistert von Robert Lowies Buch Primitive Society wächst die Begeisterung des jungen Mannes für die Ethnologie. Als ihm dann Célestin Bouglé, Direktor der École Normale Supérieure eine Stelle als Professor der Soziologie an der Universität São Paulo anbietet, beschließt Lévi-Strauss, seine große Chance zu packen. Im Februar 1934 schifft er sich in Marseille Richtung Brasilien ein.
Unterwegs nach São Paulo
Nachdem sich Lévi-Strauss in Dakar (Senegal) von der Alten Welt verabschiedet hat, passiert der Reisende den Atlantik und erreicht schließlich die Meeresbucht Guanabara, wo das Schiff für einen Zwischenhalt im Hafen von Rio de Janeiro anlegt. Bei der Erkundung Rios zeigt sich, dass sich im Gegensatz zu Europas Städten in der etwas altmodisch anmutenden Metropole Brasiliens das menschliche Leben vorwiegend auf den Straßen abspielt. Neuartig ist für Lévi-Strauss auch sein plötzlicher Reichtum. Er, der vorher immer arm gewesen ist, erlebt als Forscher nun einen rasanten Aufstieg in der sozialen Hierarchie. In Rio spiegeln sich die gesellschaftlichen Unterschiede augenscheinlich in der Höhe der Wohnlage: Während die Ärmsten hoch oben auf den wasserarmen Hügeln leben, bauen die Reichen ihre Villen unten in der Küstenebene. Das Schiff nimmt die letzte Wegstrecke nach Santos in Angriff. In den vorbeiziehenden Küstenorten wurden früher das im Landesinnern geschürfte Gold und die dort gefundenen Diamanten nach Europa verschifft. Später folgte der Export von Zucker und Kaffee. Von Santos aus führt die Reise mit dem Auto durch Bananenhaine und durch den Urwald hinauf auf die Hochebene von São Paulo. In der Millionenstadt wirkt Lévi-Strauss bei der Gründung der Universität mit und nimmt seinen Unterricht als Soziologieprofessor auf.
Land und Menschen
An den Wochenenden bereist der Ethnologe die Umgebung São Paulos. Während sich die nördlich und westlich gelegenen Küstenorte unter dem blühenden Handel rasant zu modernen Städten entwickeln, finden sich im Landesinnern nur kleine, einfache Siedlungen, die so schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind. Seine ersten Ausflüge führen Lévi-Strauss in den Süden Brasiliens, wo bis vor Kurzem noch der Tropenwald den Siedlern getrotzt hat. Jetzt frisst sich ein englisches Unternehmen im Auftrag der Regierung für den Bau von Straßen, Siedlungen und einer Eisenbahnlinie durch den Wald. Nicht nur im Süden schießen synthetische Städte wie Pilze aus dem Boden. Auch im Innern werden Metropolen auf dem Reißbrett geplant, die sich dann plötzlich aus der Wüstenlandschaft erheben, so etwa Curitiba und Goiânia. Das arme Brasilien besitzt fruchtbare Erde, die von den Menschen auf individuelle Art und Weise bewirtschaftet wird. Die kleinen Überschüsse der häuslichen Tätigkeiten werden auf dem Markt verkauft. So herrscht eine ausgewogene Beziehung zwischen Individuum und Raum vor, eine Bedingung, die beispielsweise in Indien nicht erfüllt ist, wo die Erde aufgrund der Überbevölkerung völlig ausgelaugt ist. Daraus wiederum resultieren das dort anzutreffende Elend und die Unmenschlichkeit.
Die Caduveo
Auf einer Dienstreise mit einem Beamten des Büros zum Schutz der Eingeborenen begegnet der Ethnologe erstmals Indianern. Fasziniert von den Ureinwohnern im Reservat São Jeronymo beschließt Lévi-Strauss, während seiner Semesterferien 1935/36 eine längere Reise zu weiteren Eingeborenengruppen in Angriff zu nehmen. So lernt der Europäer die Mato-Grosso-Hochebene in Zentralbrasilien kennen. Das ausgedehnte Plateau wird von einer buschigen Vegetation dominiert, die sich jedoch im Südwesten im größten Sumpf der Welt verliert, dem Pantanal. Über Porto Esperança erreicht Lévi-Strauss nach einer anstrengenden Reise das linke Ufer des Rio Paraguay, den Lebensraum der Caduveo-Indianer. Die Gruppe, auf die der Ethnologe trifft, lebt in primitiven Hütten ohne Mauern. Mit Jagen, dem Sammeln wilder Früchte, dem Halten von einigen Ochsen und etwas Geflügel sowie mit dem Anbau von Maniok sichern sich die Eingeborenen ihren Lebensunterhalt. Zudem stellen die Caduveo Keramik her. Die Tongefässe werden von den Frauen mithilfe von Schnüren verziert. Neben eckigen, geometrischen Mustern werden auch freie, kurvenreiche Motive eingearbeitet. Weiter bemalen die Frauen einer langen Tradition folgend auch ihr Gesicht und ihren Körper. Früher gab die Bemalung Auskunft über die Stellung der Frau in der Gruppe und ihr Alter. Mittlerweile verzieren die Frauen ihren Körper zum Vergnügen. Außerdem soll die Malerei den Naturzustand durchbrechen und den Einzelnen von der Stufe des Tieres zum Menschsein erheben. Die Kunst spielt bei den Caduveo eine wichtige Rolle, indem sie für die Gruppe als zusätzliche Ausdrucksmöglichkeit eine soziale Ventilfunktion darstellt.
Die Bororo
Die Forschungsreise führt Lévi-Strauss weiter nach Corumbá und von dort per Schiff nach Cuiabá. Von dieser ehemaligen Goldgräberstadt aus fährt er mit einem Lastwagen wochenlang durch unwegsames und sumpfiges Gelände, bis er endlich die Bororo-Dörfer am Rio Vermelho erreicht. Die Männer dieser Indianergruppe bemalen ihren nackten Körper mit roter Farbe, durchbohren ihre Nase mit einem Stab, die Unterlippe mit einem Lippenpflock und schmücken sich mit Federn. Ihre Frauen hingegen tragen einen Lendenschurz, und über die Brust, an Knöcheln, Oberarmen und Handgelenken sind Baumwollbänder gebunden. Alle Bororo sind vernarrt in Schmuck, zu den beliebtesten Stücken gehören Federn sowie Affen- und Jaguarzähne. Die Bororo-Hütten sind in einem Kreis angeordnet, in dessen Mitte das Männerhaus steht, das Frauen nicht betreten dürfen. Zusätzlich teilt sich das Dorf in zwei Untergruppen ein: in die Cera und Tugaré. Heiraten darf man nur ein Mitglied aus der jeweils anderen Gruppe. Nach der Eheschließung zieht der Mann in die Familienhütte seiner Frau. Der wichtigste Ort im Dorf für alle männlichen Bororo ist das erwähnte Männerhaus, das gleichzeitig als Klub, Schlafstelle, Aufenthaltsraum, Atelier und Tempel dient. Jede Nacht stimmen die Männer religiöse Gesänge an, begleitet von Kürbisrasseln. Geschlafen wird von Sonnenaufgang bis Mittag. Wenn ein Dorfmitglied stirbt, werden wochenlange Zeremonien durchgeführt, um die Seele des Verstorbenen der Gemeinschaft der Seelen einzuverleiben. Frauen bleiben von diesen Riten ausgeschlossen.
Die Nambikwara
Nach seiner Rückkehr von den Bororo erlangt Lévi-Strauss mit seinen Vorträgen, Artikeln und einer Ausstellung seiner Objektsammlung ein gewisses Ansehen als Ethnologe, sodass ihm die nötigen Mittel für eine neue Expedition zugesprochen werden. Im Juni 1938 bricht er in Cuiabá zu einer einjährigen Reise durch bislang noch unerforschtes Gebiet im Mato-Grosso-Plateau auf, begleitet von 30 Ochsen, 15 Männern und ebenso vielen Maultieren. Wie geplant erreicht die Reisegruppe nach mehreren Wochen den ehemaligen Telegrafenposten Juruena, der seit kurzer Zeit von drei Jesuiten bewohnt wird. In der Nähe dieses Postens hat eine Gruppe von Nambikwara ihr Lager aufgeschlagen. Diese im Vergleich zu den Bororo in Armut lebenden Eingeborenen verbringen die Regenzeit im Dorf, wo sie Maniok und Mais anbauen. Während der Trockenzeit spaltet sich die Gruppe in mehrere Nomadenhorden auf. Dann leben die Nambikwara von der Jagd der Männer und den Sammelkünsten der Frauen. Diese strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern sorgt für ökonomische und soziale Stabilität in der Gruppe. Da die männliche Jagd sehr unberechenbar ist, stellt die weibliche Sammelbeute oftmals die einzige Rettung vor dem sicheren Hungertod dar. Die Nambikwara leben ihre Sexualität ungezwungen aus. So sind Liebesspiele in aller Öffentlichkeit ein alltägliches Bild und Grund zur allgemeinen Freude. An der Spitze jeder Horde steht ein Häuptling, der für seine Schützlinge und ihre Ernährung sorgen muss. Kann er diese anspruchsvolle Aufgabe nicht erfüllen, wandern seine Leute zu anderen Gruppen ab. Daraus ergibt sich ein ständiger Wandel der sozialen Strukturen innerhalb einer Horde. Von einem guten Häuptling werden Großzügigkeit, Einfallsreichtum und ausgezeichnete Kenntnisse der Territorien erwartet. Als Ausgleich für seine schweren Aufgaben gesteht ihm die Gruppe das Privileg der Polygamie zu. Die meist jungen Nebenfrauen stehen dem Häuptling in erster Linie als Mätressen zur Verfügung, während die häuslichen Pflichten der Hauptfrau vorbehalten sind. Wegen diesem dem Oberhaupt zugestandenen Sonderrecht mangelt es auf dem Heiratsmarkt aber an jungen Frauen, sodass viele Männer auf eine Partnerin warten müssen und vorübergehend in homosexuellen Beziehungen Ersatz suchen.
Die Tupi-Kawahib
Lévi-Strauss und seine Forschungsgruppe setzen die Durchquerung der Mato-Grosso-Hochebene auf ihren Maultieren fort. Die Reisetage sind von Routine, Langeweile und kargem Essen geprägt. Dementsprechend groß ist die Begeisterung, als man in Barão de Melgaço das fruchtbare Amazonasgebiet erreicht. Mehrere Tage lang schlagen sich die ausgehungerten Männer die Bäuche mit Köstlichkeiten voll. Wegen kräftigen Regens kann Lévi-Strauss nicht wie geplant weiterziehen. Er erfährt jedoch, dass in der Nähe ein noch unbekannter Indianerstamm lebt. Kurz entschlossen reist der Ethnologe den Fluss Pimenta Bueno hinauf, wo er als erster Weißer auf das einfache, liebenswürdige und geduldige Volk der Mundé-Indianer trifft. Doch auf die Freude über diese einmalige Entdeckung folgt schnell die Ernüchterung. Unüberwindbare Sprachprobleme und Zeitmangel machen es dem Forscher unmöglich, die „wahren Wilden“ kennenzulernen. So reist er weiter zu einem der letzten Clans der Tupi-Kawahib. Diese Indianer wohnen in quadratischen, bemalten Hütten. Sie leben vom Gartenbau und vom Sammeln wilder Früchte. Ihr Häuptling hat den Status eines Königs und besitzt das Anrecht auf mehrere Frauen. Während seine Nebenfrauen sich um Haus und Kinder sorgen, ist die Hauptfrau für sein persönliches Wohlergehen verantwortlich. Auch bei diesem Stamm führt die Polygamie des Oberhaupts zu einem Frauenmangel. Das Problem lösen die Tupi-Kawahib, indem sie sich unter Brüdern die Frau ausleihen oder indem die Frau nach dem Tod ihres Mannes an dessen Bruder weitervererbt wird.
Erkenntnisse eines Ethnologen
Das abenteuerliche Leben führt Lévi-Strauss schließlich zurück zu seinen Wurzeln nach Frankreich, von dessen einengenden Sitten und Bräuchen er sich eigentlich hat befreien wollen. Ihm wird bewusst, dass nur die Ablehnung der eigenen Gesellschaft ihm ermöglicht hat, fremden Gesellschaften mit Respekt und Neugier zu begegnen. Ein guter Ethnologe nähert sich einer anderen Kultur immer nur als Beobachter und enthält sich jeder moralischen Wertung. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaften scheinen auf den ersten Blick groß zu sein. Schaut man aber genauer hin, so ist allen Kulturen gemeinsam, dass keine von ihnen vollkommen ist. In jeder Gemeinschaft gibt es sowohl Vor- als auch Nachteile für ihre Mitglieder. Daraus schließt Lévi-Strauss, dass allen Gesellschaften eine gemeinsame Struktur zugrunde liegt. Er sieht sich der Suche nach diesen allgemeinen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft verpflichtet. Damit will er dem natürlichen, ursprünglichen Menschsein auf die Spur kommen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Lévi-Strauss’ Traurige Tropen mischt Reiseberichte und Autobiografisches mit ethnografischen Aufzeichnungen und philosophischen Passagen. Der stufenlose Übergang der literarischen Formen führt zu einem komplex gebauten Werk, dessen Gliederung den verschiedenen Reisen des Autors und den durch sie inspirierten Gedankenausflügen folgt. Das Buch ist in neun Abschnitte unterteilt, in denen der Autor in detailreichen, aber kurzweiligen Beschreibungen die Beobachtungen seiner Expeditionen nach Zentralbrasilien wiedergibt. Mit wissenschaftlicher Gründlichkeit schildert Lévi-Strauss die Merkmale der verschiedenen Indianerstämme, wie Siedlungsstil, Riten, Bekleidung, Traditionen, Gesang, Tänze, Werkzeuge und Sprache. Hie und da fließen auch Wert- und Gefühlsurteile des Autors in die Beschreibungen ein, obwohl dies eigentlich Lévi-Strauss’ Vorstellung einer idealen Ethnologie widerspricht. In einem zweiten Schritt deckt der Autor in präziser Arbeit die gesellschaftlichen Strukturen der Eingeborenengruppen auf, wobei manchmal eine offenbar marxistisch inspirierte Klassenkritik durchschimmert. Mit seinem anschaulichen und einnehmenden Erzählstil vermag Lévi-Strauss dem Leser das Gefühl zu geben, selbst an den Orten des Geschehens gewesen zu sein.
Interpretationsansätze
- Die Zentralthese des Strukturalisten Lévi-Strauss lautet: Allen Völkern liegt ursprünglich eine gemeinsame Gesellschaftsstruktur zugrunde. Keine Gesellschaft ist vollkommen, jede bringt ihren Mitgliedern sowohl Vor- als auch Nachteile. Somit sind alle Gesellschaften in ihrem Kern als gleichwertig zu betrachten, keine ist der anderen überlegen oder vorzuziehen.
- Die Aufgabe eines Ethnologen ist es, die allgemeinen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft zu erforschen, indem er zu ihren Ursprüngen zurückgeht. Am wenigsten vom ursprünglichen, natürlichen Menschen entfernt haben sich für Lévi-Strauss die so genannten Wilden, die Gesellschaften also, die von der Zivilisation noch weitgehend verschont geblieben sind. Der Autor erweist sich in diesen Gedankengängen als Nachfolger Rousseaus und seiner Idee des „edlen Wilden“.
- In Lévi-Strauss’ Sichtweise wird die Ursprünglichkeit der Natur und des Menschseins durch die fortschreitende Zivilisierung der Welt zerstört. Während die Natur sich durch die Eingriffe des Menschen immer weiter von ihrem ursprünglichen Zustand entfernt und in ihrer Unberührtheit verletzt wird, bewegt sich der Mensch immer weiter weg von seiner ursprünglichen Menschlichkeit.
- Im Titel des Buches Traurige Tropen drückt sich Lévi-Strauss’ Bedauern über den unaufhaltsamen Verlust der tropischen Urkulturen aus. Schon zu seiner Zeit, und erst recht heute, war die vollständige Zerstörung der primitiven Kulturen durch die technische Zivilisation absehbar. Dabei wird ein unschätzbarer Wert vernichtet, der in der Verschiedenartigkeit der Kulturen liegt. Zugleich stellt gerade die wachsende einseitige Fixierung auf die eigene Kultur eine der größten Bedrohungen unserer Gesellschaft dar.
Historischer Hintergrund
Frankreich im Zweiten Weltkrieg
Als im September 1939 die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte und der Zweite Weltkrieg ausbrach, erklärte Frankreich Deutschland sofort den Krieg. Doch die französische Armee war auf diesen Krieg nicht vorbereitet, sodass die deutschen Truppen nach ihrem Einmarsch in Belgien 1940 innerhalb weniger Wochen die Franzosen besiegen konnten. Am 22. Juni unterzeichnete Frankreich einen Waffenstillstand, dessen Bedingungen Adolf Hitler den Besiegten mehr oder weniger diktiert hatte.
Wenige Tage später bildete sich unter Marschall Henri Philippe Pétain eine neue Regierung mit Sitz in Vichy. Das konservativ-autoritäre Vichy-Regime kooperierte mit Deutschland. So erklärte man sich teilweise sogar freiwillig dazu bereit, die deutschen Behörden bei der Erfassung, Verhaftung und Deportation von Juden und anderen verfolgten ethnischen Minderheiten zu unterstützen.
Die Kollaboration des Vichy-Regimes mit den Deutschen zwang zahlreiche französische Juden zur Flucht ins Exil. Etliche jüdische Wissenschaftler aus Frankreich, die nach Übersee emigrierten, fanden sich an der New School for Social Research in New York ein. Die Universität wurde 1919 von intellektuellen Pazifisten gegründet und integrierte 1933 eine „University in Exile“ in ihren Lehrbetrieb, die später zur Fakultät für Politik und Sozialwissenschaft umbenannt wurde. Mehr als 180 Akademiker aus ganz Europa fanden hier während des Zweiten Weltkriegs Arbeit. Nach der deutschen Besatzung Frankreichs stieß eine Reihe angesehener französischer Sozialwissenschaftler hinzu, wie etwa der Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der Sprachwissenschaftler Roman Jakobson oder der Politikwissenschaftler Henri Bonnet.
Entstehung
Lévi-Strauss musste Frankreich als Jude 1941 verlassen und reiste zum zweiten Mal in seinem Leben nach Amerika. Unterwegs zur neuen Wirkungsstätte wurden seine Erinnerungen an den ersten Aufenthalt auf dem amerikanischen Kontinent in den 1930er Jahren geweckt. Damals war er Soziologieprofessor an der Universität São Paulo und unternahm mehrere Forschungsreisen zu den Eingeborenen Zentralbrasiliens. Die erneute Reise an den Ort seines ersten Wirkens inspirierte ihn 15 Jahre später dazu, die Eindrücke und Gedanken seiner damaligen abenteuerlichen Expeditionen zu Papier zu bringen. Traurige Tropen wurde 1955 in Paris veröffentlicht.
Großen Einfluss auf Lévi-Strauss’ Schaffen übten die Psychoanalyse und der Marxismus aus. Gemäß diesen Theorien ging der Ethnologe davon aus, dass hinter allem ein tieferer Sinn erkennbar sei, der wiederum Teil eines großen Ganzen darstelle. Der Aufgabe, diese tiefer liegenden Zusammenhänge sichtbar zu machen, widmete sich Lévi-Strauss in Traurige Tropen und stellte sich damit in die Tradition des vom Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure begründeten Strukturalismus. Ebenfalls einen bedeutenden Platz im Denken des Ethnologen nahm Jean-Jacques Rousseau ein. Wie der Philosoph suchte auch Lévi-Strauss nach dem, was im Menschen natürlich und ursprünglich bzw. künstlich und kulturell ist.
Wirkungsgeschichte
Traurige Tropen ist einer der bedeutendsten Texte der ethnologischen Literatur. Die im Buch präsentierten ethnologischen Studien zeigten der Öffentlichkeit die Eingeborenen Brasiliens plötzlich in einem ganz neuen Licht und revolutionierten das traditionelle Bild der Ureinwohner Amerikas. Zugleich sensibilisierte das Werk die Leser für den fortschreitenden und unaufhaltsamen Verlust der indigenen Kulturen sowie der Naturschätze Brasiliens.
Das Buch wurde jedoch auch kritisch beurteilt. So wurde Lévi-Strauss und seinen Feldforschungen in Zentralbrasilien mangelnde Professionalität vorgeworfen. Die Kritiker beanstandeten, dass er sich niemals bemüht habe, die Muttersprache seiner Informanten zu erlernen, und auch nie lange genug bei einer Eingeborenengruppe geblieben sei, um diese wirklich kennenzulernen. Weiteren Tadel erntete der Ethnologe für seine angeblich vorschnellen Interpretationen, die vor allem den Zweck hätten, seine Thesen zu untermauern, dabei aber empirische Fakten vernachlässigen würden.
Mit Traurige Tropen begründete Lévi-Strauss die französische strukturalistische Anthropologie, die im Gegensatz zur eurozentrisch ausgerichteten britischen Anthropologie stand. Das Buch fand zunächst vor allem im französischen Sprachraum Anerkennung und beeinflusste in der Folge poststrukturalistische Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida. Heute werden Lévi-Strauss’ Theorien insbesondere in Bezug auf die Globalisierung und die Verschmelzung der Kulturen wieder diskutiert.
Über den Autor
Claude Lévi-Strauss wird am 28. November 1908 als Sohn eines jüdischen Kunstmalers in Brüssel geboren. 1914 siedelt die Familie nach Versailles um. Im Alter von 18 Jahren besucht der junge Lévi-Strauss die Sorbonne in Paris, wo er erfolgreich ein Philosophie- und Jurastudium absolviert. Nach zweijähriger Tätigkeit als Gymnasiallehrer folgt 1934 seine Berufung zum Professor für Soziologie an die Universität im brasilianischen São Paulo. Bei ausgedehnten Expeditionen nach Zentralbrasilien widmet sich Lévi-Strauss ethnologischen Studien. 1939 kehrt er nach Frankreich zurück, muss aber aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1941 aus der von den Deutschen besetzten Heimat fliehen. Bis zum Kriegsende ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der New School for Social Research. 1946/47 arbeitet Lévi-Strauss als Kulturattaché an der französischen Botschaft in den USA, bevor er nach Paris zurückkehrt, wo 1949 sein Werk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (Les Structures élémentaires de la Parenté) veröffentlicht wird. Ein Jahr später wird der Ethnologe zum Direktor der Abteilung Anthropologie an der École Pratique des Hautes Études gewählt. 1955 erscheint Traurige Tropen (Tristes Tropiques), 1958 folgt der erste Band seiner Strukturale Anthropologie (Anthropologie structurale); der zweite erscheint 1973. Vom Collège de France wird er 1959 zum Professor für Sozialanthropologie ernannt. Dieser Aufgabe widmet sich der zurückgezogen lebende Lévi-Strauss bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1982. Weitere wichtige Werke des Autors sind Das Ende des Totemismus (Le Totémisme aujourd’hui, 1962), Das wilde Denken (La Pensée sauvage, 1962) sowie Mythologica (Les Mythologiques, 1971). Als Erster seines Faches wird Lévi-Strauss 1973 Mitglied der Académie Française. Für seine Arbeit erhält er mehrere Ehrendoktortitel und Auszeichnungen. Claude Lévi-Strauss stirbt am 30. Oktober 2009 in Paris, einen Monat vor seinem 101. Geburtstag.
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