Boethius
Trost der Philosophie
Artemis & Winkler, 2004
Was ist drin?
Trost in schwerer Stunde: Die Dame Philosophie erläutert dem zum Tode verurteilten Boethius die essenziellen Fragen des Lebens.
- Philosophie
- Spätantike
Worum es geht
Trost in schwerer Stunde
Was ist Glück? Warum, so scheint es, haben immer nur die Ruchlosen Geld und Macht, während die Ehrlichen allzu oft die Dummen sind? Wieso gibt es überhaupt das Böse, wenn doch über den Wolken ein gerechter Gott die Zügel der Welt in der Hand hält? Das sind einige der zentralen Fragen, die im Trost der Philosophie erörtert werden. Der Titel ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Philosophie tritt hier als weise Dame auf, die einem Todgeweihten mit ihren Worten die Angst nehmen will. Im Verurteilten porträtiert der Autor sich selbst: Boethius, kometenhaft zum Berater des Gotenkönigs Theoderich aufgestiegen und danach ebenso tief gesunken, wartet in einem Kerker einige Kilometer von Ravenna auf seine Enthauptung. In dieser Situation verfasst er sein Hauptwerk, in dem er sich selbst als Figur auftreten lässt. Manche halten das Buch für das schönste in lateinischer Sprache: Prosastücke wechseln sich mit zahlreichen Gedichten unterschiedlichster Verstakte und Formen ab. Boethius, gleichzeitig „letzter Römer“ und erster Scholastiker, steht für die Verschmelzung von antiker Philosophie und mittelalterlichem Christentum.
Take-aways
- Boethius gilt als der „letzte Römer“: Mit ihm endet die spätantike Philosophie. Trost der Philosophie ist sein Hauptwerk.
- Das Manuskript verfasste er 524 n. Chr., während er im Kerker auf seine Hinrichtung wartete.
- Das Buch besteht aus unterschiedlich langen Prosaabschnitten und Gedichten verschiedenster Versformen.
- Aufgrund der zahlreichen handschriftlichen Kopien lässt sich sagen, dass Trost der Philosophie zu den beliebtesten Büchern des Mittelalters gehörte.
- Boethius lässt das Werk mit der Schilderung beginnen, wie er, einem verzweifelten Kranken gleich, auf seinen Tod wartet.
- Da tritt, in weiblicher Gestalt, die Philosophie hinzu und versucht ihn zu trösten.
- Er solle nicht verzweifeln: Seine Seele sei unsterblich, da spiele es keine Rolle, dass ihm das Schicksal übel mitspiele.
- Geld und Ruhm sind laut der Philosophie ohnehin nichtig; einzig das Streben nach dem Guten führt zur Glückseligkeit.
- Der Autor wirft das Theodizee-Problem auf: Warum gibt es das Böse in der Welt, wo Gott doch allmächtig und gut ist?
- Seine Erklärung: Auch böse Menschen streben nach dem Guten. Aber weil sie schwach sind, scheitern sie.
- Aus nichts kann auch nichts entstehen: So etwas wie Zufall kann es nicht geben.
- Göttliche Vorsehung und menschliche Willensfreiheit widersprechen sich nur scheinbar: Gott kann die Pläne der Menschen sehen, ohne ihnen die Freiheit zu verwehren.
Zusammenfassung
Besuch von der Philosophie
Boethius befindet sich in Gefangenschaft in der Nähe von Ravenna. Ihm wird unterstellt, die Auslieferung von Beweisstücken verhindert zu haben, die zeigen sollten, dass der römische Senat den König beleidigt habe. Dadurch ist Boethius als Vertrauter des Königs in Ungnade gefallen und wartet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Verzweifelt über seine Lage, und um sich abzulenken, beginnt er eine Schrift zu verfassen, an deren Anfang ein Klagegedicht steht. Da erscheint ihm eine Frau mit durchdringendem Blick, die Philosophie höchstpersönlich. Sie trägt Bücher in ihrer Linken, ein Zepter in der Rechten, ihre jugendlich wirkende Gestalt wechselt die Größe: Mal scheint sie die Decke zu berühren, mal krümmt sie sich zusammen. Aus ihrem selbst gewebten, dicken und glänzenden Gewand sind einige Fetzen gewaltsam herausgerissen worden. Als Erstes verscheucht die Philosophie die nutzlosen Musen, die um Boethius’ Lager herumstehen, und beginnt diesen zu trösten. Er sei krank und sie werde ihn heilen, sagt sie, setzt sich ans Fußende seines Bettes und trocknet seine Tränen mit ihrem Gewand.
Unschuldig gefangen
Boethius erklärt ihr seinen Fall: Wie sie ja bereits durch Platons Mund gesagt habe, sollten die Weisen die Macht im Staat übernehmen, da es sonst Schurken und Verbrecher täten – und aus diesem Grund habe er nach einem Amt gestrebt. Unredlichen und ungesetzlichen Taten von Politikern sei er stets unerschrocken entgegengetreten. Durch dieses Verhalten aber habe er den Hass und die Feindschaft anderer Amtsinhaber auf sich gezogen und sei so in die jetzige Lage geraten. Ob er glaube, dass alles auf der Welt zufällig geschehe, oder ob eine „Leitung der Vernunft“ herrsche, fragt ihn die Philosophie daraufhin. Boethius erwidert, er sei gewiss, dass Gott seine Hand über alles halte und nichts auf sinnlosen Zufällen beruhe. Mit welchen Mitteln Gott denn die Welt regiere? – Boethius weiß nicht, wie er die Frage beantworten soll. Das sei sein Problem, diagnostiziert die Philosophie: Er habe vergessen, wie Gott die Welt lenke und dass alles einen Endzweck habe. Deshalb jammere er und halte böse Menschen für mächtig. Sie wolle ihm helfen, den Nebel um seinen Geist zu lichten, damit er wahre Erkenntnis gewinne und geheilt werde.
Fortuna, die Unbeständige
Die Philosophie ist überzeugt, dass Boethius durch die äußeren Veränderungen seine innere Ruhe verloren hat. Sie erklärt ihm, dass das Glück immer unbeständig ist. Daher glaube er, es habe sich von ihm abgewendet. Sie schlüpft selbst in die Rolle der Göttin Fortuna und fragt, worüber er sich denn beklage. Gleich bei seiner Geburt habe sie sich seiner angenommen und ihm ihre Gunst erwiesen. Er habe Reichtum und Ehre genossen. Diese Zufallsgüter aber, so nun wieder die Philosophie, seien vergänglich und könnten deshalb nicht das wahre Glück eines Menschen ausmachen. Macht, Ehre und Geld seien es allesamt nicht wert, nach ihnen zu streben. Die Philosophie weist Boethius darauf hin, dass er in seinem Leben sehr viel Glück gehabt habe, ohne es gleich wieder zu verlieren. Aber jeder Mensch trachte nach weiteren Gütern und sei daher nie zufrieden: Wer eine glückliche, aber kinderlose Ehe führe, verzehre sich nach Kindern. Jemand, der ein Vermögen angehäuft habe, schäme sich seines niedrigen Standes. Niemand sei zufrieden mit dem, was er habe. Deshalb sei das Glück unbeständig, erklärt die Philosophie. Wäre die menschliche Seele nicht unsterblich, würde ohnehin jegliches Glück mit dem Tod des Körpers hinfällig. Boethius aber weiß, dass die menschliche Seele unsterblich ist, und muss einsehen, dass das Glück demnach nicht mit dem Tod erlischt. Die Philosophie glaubt gar, dass ein widriges Schicksal dem Menschen mehr nützt als ein glückliches, denn es stärke und erziehe ihn. Außerdem seien die Menschen, die einem in schlimmen Situationen beistünden, die wahren Freunde. Diese Gedanken der Philosophie sollen dem Kranken ein erstes, mildes Heilmittel sein.
Wahre Glückseligkeit
Tatsächlich fühlt sich Boethius durch die Ausführungen der Philosophie erquickt und seinem Schicksal schon eher gewachsen. Also fordert er sie auf, ihm nach den milden nun auch schärfere Heiltränke zu verabreichen. Die Philosophie verspricht, ihm den Weg zur wahren Glückseligkeit zu weisen. Diese erreiche man, wenn man alle erstrebenswerten Güter auf sich vereinige, sodass einem nichts mehr zu wünschen übrig bleibe. Wie die Philosophie erklärt, haben alle Menschen von Geburt an den Drang nach dem wahren Guten, doch viele gehen falsche Wege. So türmen einige Reichtümer auf, um niemals Mangel zu erleiden. Andere streben nach der Herrschaft über ein Volk oder buhlen um die Gunst des Herrschers. Auch auf körperliche Eigenschaften wie Größe und Stärke, Geschicklichkeit oder Schönheit sind sie aus. Würden aber Macht, Ehre, Geld, Ruhm und Lust zu wahrer Glückseligkeit führen, dann müssten sie so beschaffen sein, dass den Menschen kein Mangel mehr droht. Sind sie es nicht, hält die Philosophie fest, dann ist der Weg über Geld und Ehre der falsche. Sie fragt Boethius, der bis zu seiner Gefangennahme ein reicher Mann gewesen ist, ob er deshalb ein sorgenfreies Leben gehabt habe. Boethius muss verneinen. Es habe immer etwas gegeben, das ihn gequält habe. Reichtum macht also nicht glücklich, folgert die Philosophie – vielmehr hat man große Sorgen, ihn vor anderen nicht schützen zu können. Ähnlich verhält es sich mit Ruhm, Herrschaft und Macht. All das muss verteidigt werden und gilt zudem nur in bestimmten Kreisen oder einem bestimmten Land. Wahres Glück muss aus dem Inneren, der Seele des Menschen, kommen.
Was ist Gott?
Im Weiteren führt die Philosophie aus, wer oder was Gott ist. Ihr Ausgangspunkt: Was vollkommen ist, dem mangelt es an nichts. Alle Lebewesen streben die Einheit an und die Einheit aller Dinge ist das Gute. Gott lenkt die Erscheinungen der Natur und hält sie trotz ihrer Verschiedenheit zusammen. Gäbe es ihn nicht, so gäbe es auch keine Ordnung, keine Ursache und Wirkung und keine Verwandlungen. Gott ist der Ursprung aller Dinge. Es lässt sich nichts vorstellen, das besser ist als er, und deshalb ist er selbst das Gute und Vollkommene. Kann Gott also Böses tun? – Sicherlich nicht, sieht Boethius ein. Da aber Gott der Allmächtige ist, für den es nichts gibt, was er nicht kann – so die Argumentation der Philosophie –, und er dennoch das Böse nicht zu tun vermag, muss das Böse ein Nichts sein. Alles unterwirft sich freiwillig der Herrschaft Gottes. Gott selbst ist zugleich das höchste Gut und die vollkommene Glückseligkeit. Nur wer sich nach ihm richtet, kann Glückseligkeit erlangen. Boethius hat dieser verblüffenden Argumentation nichts entgegenzusetzen.
Wie kommt das Übel in die Welt?
Nun fragt der Todgeweihte verwundert, wie es dann das Böse auf der Welt geben könne, wenn Gott doch gut und allmächtig sei. Die Philosophie holt zu einer Antwort aus: Laster werden immer bestraft, für Tugenden aber wird man belohnt. Da „gut“ und „böse“ gegensätzliche Eigenschaften sind und das Gute das Mächtige ist, muss das Böse das Schwache sein. Alle menschlichen Handlungen beruhen auf zwei Kräften: Auf dem Willen etwas zu beginnen und der Macht, das Begonnene umzusetzen. Wenn jemand eine Sache nicht will, fängt er erst gar nicht damit an. Fehlt ihm aber die Macht, etwas zu tun, so bleibt die Sache unvollendet. Hat schließlich jemand eine Sache geplant und ausgeführt, so besteht kein Zweifel daran, dass Wille und Macht dazu vorhanden waren.
„Der ich Gesänge vordem in blühendem Eifer vollendet, / Wehe, wie drängt das Geschick traurige Weisen mir auf.“ (Boethius, S. 3)
Was bedeutet das nun, wenn – wie wir gesehen haben – alle Menschen nach Glückseligkeit streben?, fragt die Philosophie. Nichts anderes, als dass ein Mensch, der etwas Schlechtes tut, sein Streben nach dem Guten aufgrund seiner Schwäche nicht durchsetzen kann. Jemand, der nach dem Guten strebt und es auch erreicht, hat hingegen den nötigen Willen und die Macht dazu. Dies liegt daran, dass die Guten eine Sache auf dem von der Natur vorgegebenen Weg, nämlich der Tugend, zu erreichen suchen, während die Bösen dasselbe durch das ungeeignete Mittel falscher Begierden erlangen wollen. Warum tun sie das? Kennen sie die Tugend nicht, oder wissen sie um die Tugend, werden aber von der Begierde übermannt? Oder ignorieren sie die Tugend gar? Wenn Letzteres zutrifft, dann existieren sie eigentlich gar nicht, so komisch das klingt, da sie das gemeinsame Endziel alles Existierenden nicht anstreben. Sie existieren so wenig, wie eine Leiche wahrhaft ein Mensch ist.
Unglück als Therapie und Läuterung
Die Schlechten verüben zwar beliebige Taten, aber sie erreichen nie das, was sie wirklich wollen, und ihre Verbrechen werden stets bestraft. Die Schlechtigkeit eines Menschen macht ihn elend, und nur der Tod kann ihn davon erlösen. Je länger ein Schlechter also lebt, desto länger dauert sein Elend. Ein Verbrecher leidet deshalb unter seiner Tat viel mehr als sein Opfer – er ist es ja, der vom Pfad der Tugend abgekommen ist. Daher, empfiehlt die Philosophie, sollte man die Bösen mitleidsvoll und wie Kranke betrachten.
„Wer hat diesen Dirnen der Bühne den Zutritt zu diesem Kranken erlaubt, ihnen, die seinen Schmerz nicht nur mit keiner Arznei lindern, sondern ihn obendrein mit süßem Gift nähren möchten?“ (die Philosophie, S. 5)
Boethius aber fragt sich, warum diejenigen, die nach dem Guten streben, so häufig Schicksalsschläge hinnehmen müssen, während die Schlechten, wie es scheint, für ihre Schlechtheit auch noch belohnt werden. Er könne dies nur verstehen, wenn er davon ausgehe, dass der Zufall dafür verantwortlich sei und nicht Gott. Die Philosophie entgegnet, alle Handlungen würden einer göttlichen Planung unterliegen, die der Einzelne nicht durchschauen könne. Das liege daran, dass der Mensch nicht in der Lage sei, zu beurteilen, was für ihn gut oder schlecht sei. Gott aber, als der Wissende, erkenne es und gebe jedem, was gerade zu ihm passe. So würden manche Schicksalsschläge der Prüfung dienen und als Erinnerung daran, dass es auch Unglück und Elend gebe. Böse Menschen wiederum, denen Gutes widerfahre, würden dadurch geläutert.
Sind Zufälle möglich?
Boethius erkundigt sich bei der Philosophie, ob es überhaupt einen Zufall geben könne oder ob alle Dinge auf göttlicher Vorsehung beruhten. Ihre sinngemäße Antwort: Da nichts aus nichts entsteht, kann es keinen Zufall geben. Scheinbar zufällige Ereignisse ergeben sich aus einer Verknüpfung verschiedener Ursachen. Wenn ein Bauer beim Pflügen seines Ackers zufällig einen Schatz findet, so muss dieser dort vorher vergraben worden sein. Dabei haben weder der Eigentümer noch der Finder beabsichtigt, dass der Schatz vom Bauer entdeckt wird. Dass es dennoch so geschehen ist, beruht auf der Vorsehung, jener von Gott vorgegebenen Ordnung.
„Eine ängstliche Sache ist es um das Los menschlicher Güter; entweder kommen sie nie voll zur Geltung oder sie dauern nicht beständig.“ (die Philosophie, S. 59)
Wenn aber alles Vorsehung ist, so fragt Boethius, haben die Menschen dann überhaupt einen freien Willen? – Durchaus, antwortet die Philosophie, denn ohne einen freien Willen der Wesen, die durch ihre Vernunft gute von schlechten Handlungen unterscheiden können, hätten Belohnung und Strafe, Hoffen und Beten keinen Sinn, und Gott selbst trüge die Verantwortung für die menschlichen Laster. Es sei aber vielmehr so, dass grundsätzlich jeder Mensch über Urteilskraft verfüge, und zwar umso mehr, je näher er dem göttlichen Geist komme. Wer allerdings der eigenen Vernunft nicht folgen könne, der habe auch keinen freien Willen.
Freier Wille und göttliche Vorsehung
Wie aber kann sich ein freier Wille entfalten, wenn doch die göttliche Vorsehung alles erkennt und Gott sämtliche Handlungen voraussieht? Muss nicht alles, was Gott vorhersieht, notwendigerweise auch geschehen? Gott als der allmächtige Lenker kann sich zwar nicht irren, stellt die Philosophie klar, doch der menschliche Wille ist deshalb nicht eingeschränkt, denn der Mensch ist ein Wesen, das seine Umwelt durch die Sinne, die Vorstellungskraft und letztlich die Vernunft wahrnimmt. Die göttliche Wahrnehmung aber geht weit darüber hinaus. Gott ist ewig, seine Erkenntnis und sein Wissen überschreiten jeglichen Zeitrahmen. Daher sieht er die Dinge nicht in einem zeitlichen Sinne voraus, sondern betrachtet alles, was eintreffen kann, in einer fortwährenden Gegenwart.
„Ich glaube nämlich, dass den Menschen ein widriges Geschick mehr als ein günstiges nützt.“ (die Philosophie, S. 87)
Wenn der Mensch durch eine plötzliche Änderung seines eigenen Plans eine Handlung ausführt, kann er dann die Vorsehung ändern? – Nein, denn Gott hat bereits gewusst, dass der Mensch sein Vorhaben ändert und welche Handlung er stattdessen ausführt. Die Möglichkeit einer solchen Entscheidung und ihr Ausgang liegen für den Menschen in der Zukunft – für Gott sind sie, wie alles, Gegenwart. Dem Menschen bleibt also ein freier Wille, und die daraus resultierenden Handlungen werden von Gott belohnt oder bestraft. Deshalb, so die Philosophie, rufe sie jeden dazu auf, Lastern zu widerstehen und tugendhaft zu leben.
Zum Text
Aufbau und Stil
Boethius’ Werk folgt der Form eines Prosimetrums, d. h. Prosa wechselt sich mit eingestreuten Gedichten und Liedern ab. Trost der Philosophie ist ein spätrömisches Glanzstück dieser ursprünglich griechischen Textgattung. Die Ausgangssituation erinnert an die des Sokrates: Genauso wie der große Philosoph wird auch Boethius zum Tode verurteilt und harrt in seinem Gefängnis der Vollstreckung des Urteils. Als Beistand tritt die personifizierte Philosophie an sein Bett. Der folgende Dialog, der sich über die insgesamt fünf Bücher, also Kapitel, hinzieht, ist sorgsam didaktisch aufgebaut und gleichzeitig eine Art „Psychotherapie“ des Kranken: Von einfachen, fast banalen Weisheiten des Lebens schwingt sich das Gespräch über die Definition von Glück zu diversen Fragen der Ethik und schließlich zur Erörterung komplexer theologischer Gebiete auf. Insbesondere das fünfte Buch mit dem Thema der göttlichen Vorausschau im Verhältnis zur menschlichen Willensfreiheit dürfte für Boethius’ Zeitgenossen nicht einfach zu verstehen gewesen sein. Auch der moderne Leser muss sich ordentlich konzentrieren, um dem Autor folgen zu können. Frappierend ist der Schluss: Das Werk endet relativ abrupt mit einem Appell der Philosophie. Die ursprüngliche Dialogsituation, das Gespräch zwischen Boethius und der Philosophie, wird mit keiner Silbe mehr erwähnt, geschweige denn zu einem runden Abschluss gebracht. Es scheint, als sei das Buch hastig beendet worden, womöglich sogar von einem zweiten Autor, wie einige Forscher mutmaßen. Stilistisch bietet der Text schon aufgrund des Wechsels zwischen Prosa und Lyrik eine große Bandbreite rhetorischer Finessen.
Interpretationsansätze
- Boethius zeigt sich zu Beginn seiner „Therapie“ von der Philosophie entfremdet. Er hat seine Bestimmung vergessen, ist niedergeschlagen und versteht die Welt nicht mehr. Da er zur philosophischen Welterkenntnis zurückgeführt werden soll, ist das Buch ein „Protreptikos“, eine Mahn- oder Lehrschrift.
- Das Werk ist stark von Platon geprägt. Wissenschaftler konnten rund 300 Gedanken, Bilder oder Formulierungen nachweisen, die sich ähnlich auch beim griechischen Vorbild finden. Boethius war ein Anhänger des Neuplatonismus, des letzten großen Philosophiesystems der Spätantike.
- Zu den wichtigsten Themen des Buches (und des Mittelalters überhaupt) gehört die Frage der Theodizee: der Erklärungsversuch, wie es trotz eines guten und allmächtigen Gottes das Böse in der Welt geben kann. Boethius’ Hauptargument (das ebenfalls auf Platon zurückgeht): Die Bösen streben wie die Guten nach der Tugend, kommen aber von ihrem Weg ab und sind deshalb schwach. Das Schlechte hat seine Berechtigung als Prüfung und Heilmittel für die Tugendhaften.
- Wenn Gott alles vorhersieht, wie ist dann menschliche Willensfreiheit möglich? Dieses Problem löst Boethius, indem er den göttlichen Zeit- und Erkenntnisbegriff vom menschlichen unterscheidet. Für Gott ist alles gleichzeitig, während der Mensch Gleichzeitigkeit nicht einmal denken kann: Sie fällt in eine Abfolge von Zeitpunkten auseinander. Eine Überlegung, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts bei Kant wiederfindet und am Ende des 20. in der Stringtheorie der Physik.
- Dass man die Bösen mit demselben Mitleid wie Kranke betrachten soll, ist eine für die damalige Zeit revolutionäre Ansicht. Erst die im 19. Jahrhundert begründete moderne Psychologie nahm diesen Gedanken wieder auf.
Historischer Hintergrund
Theoderich und das Oströmische Reich
Mitte des 5. Jahrhunderts war die römische Welt in zwei Reiche unterteilt, das West- und das Oströmische. Im Westen wurde der letzte Kaiser Romulus von revoltierenden germanischen Truppen und ihrem Heerführer Odoaker im Jahr 476 abgesetzt. Das war das Ende des Weströmischen Reiches. Übrig blieb das Oströmische oder Byzantinische Reich. Dessen Kaiser Zenon I. hatte den weströmischen Herrscher ohnehin nicht anerkannt, die Übernahme der Macht in Italien durch Odoaker war deshalb ganz in seinem Sinne. Dieser sollte die Vereinigung des Ost- und Westreiches vorbereiten. Odoaker machte seine Sache gut, eroberte Dalmatien und Sizilien von den Vandalen zurück und sicherte sich durch eine geschickte Politik die Loyalität seiner Untertanen. Zenon wurde angesichts dieser Erfolge immer unruhiger und beschloss, seinen einstigen Statthalter anzugreifen.
Dazu verbündete er sich mit dem Ostgotenkönig Theoderich, den er zuvor zum Heermeister ernannt hatte und der 484 die römischen Bürgerrechte erhalten hatte. Theoderich marschierte 488 in Italien ein, drängte Odoaker nach Ravenna zurück und belagerte ihn dort drei Jahre lang. 493 triumphierte Theoderich: Er ermordete den Germanen eigenhändig und übernahm als Statthalter des oströmischen Kaisers die Regentschaft in Ravenna. Vier Jahre später wurde er vom Kaiser als König in Italien anerkannt. Theoderich wusste sich durch kluge Politik beliebt zu machen und hievte fähige Römer – wie Boethius – in die wichtigsten Ämter. Die Beziehungen zum neuen Kaiser des Oströmischen Reiches Justin I. und ab 527 Justinian I. verschlechterten sich jedoch zusehends, was schließlich zu Feldzügen gegen die Gotenherrschaft führte.
Entstehung
Im Jahr 524 wurde Boethius vom Ostgotenkönig Theoderich zum Tode verurteilt. Vor der Vollstreckung scheint er allerdings eine gewisse Gnadenfrist genossen zu haben. Er wurde nicht wie ein normaler Verbrecher ins Gefängnis geworfen, sondern in Pavia mehrere Monate unter „Hausarrest“ gestellt. Auch wenn ihm hier die Annehmlichkeiten seiner umfangreichen Bibliothek abgingen, fand er immerhin die Gelegenheit, den Trost der Philosophie zu verfassen. Dabei stützte er sich auf sein Gedächtnis und eine breite literarische Tradition; viele seiner Gedanken haben antike Vorbilder. Unter den lateinischen Autoren sind dies vor allem Cicero und Seneca, aber auch eine ganze Anzahl griechischer Philosophen beeinflussten ihn, insbesondere Platon, bzw. dessen späte Nachfolger, die Neuplatoniker. Der genaue Nachweis von Vorlagen steht jedoch bis heute aus. Es wird vermutet, dass Boethius sein zuvor zusammengetragenes Wissen im Trost der Philosophie zu einem neuen Ganzen geformt hat, ohne direkt aus den Quellen zitieren zu können. Auch nimmt man an, dass Boethius’ letztes Werk in gewisser Weise nicht nur Trost spenden, sondern ihm auch die Fürsprache seiner Leser sichern sollte. Im ersten Kapitel beschreibt er, dass er sich unschuldig fühle, und bringt so die Diskussion zwischen ihm und der personifizierten Philosophie in Gang.
Genützt hat ihm diese Rechtfertigung nicht: Theoderich stand offenbar noch Monate nach der Verhaftung seines ehemaligen Vertrauten zu seinem harten Urteil und ließ den Philosophen und Politiker ungerührt hinrichten.
Wirkungsgeschichte
Aus der Anzahl der handschriftlichen Kopien (rund 400) lässt sich folgern, dass der Trost der Philosophie zu den beliebtesten Büchern des Mittelalters gehörte. Im Jahr 1022 wurde es vom Benediktinermönch Notker Labeo ins (Althoch-)Deutsche übersetzt. Kommentare und Auseinandersetzungen lassen sich bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgen. Besonderes Interesse zeigten in der Frühen Neuzeit die Humanisten: Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen rund 50 Ausgaben des Trosts, teilweise bereits kommentiert. Im 18. Jahrhundert wurden die ersten Monografien über Autor und Werk geschrieben. Ein kniffliges Problem rückte in den Vordergrund: Warum tröstete sich Boethius in der Stunde seines Todes mit der heidnischen Philosophie und nicht mit dem christlichen Glauben? Christus, die Bibel oder die Kirchenväter werden an keiner Stelle im Werk erwähnt. War Boethius vielleicht gar kein Christ? Die vorhandenen theologischen Abhandlungen, die von ihm stammen sollten, wurden Boethius abgesprochen; es entspann sich ein regelrechter Gelehrtenstreit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand dieser ein Ende, nachdem 1877 mit dem Anecdotum holderi eine Schrift gefunden wurde, in der sich der römische Staatsmann und Schriftsteller Cassiodor zu Boethius’ theologischen Werken äußert. Dessen Autorschaft war nun hinreichend bewiesen. Es wurden verschiedene Deutungsversuche für Boethius’ „heidnische“ Perspektive unternommen, u. a. war man der Ansicht, dass die neuplatonische und aristotelische Philosophie einen größeren Einfluss auf das Leben des römischen Christen hatte als angenommen. Boethius wird heute sowohl als „letzter Römer“ als auch als erster Scholastiker (d. h. Gelehrter des Mittelalters) bezeichnet. Sein Einfluss auf berühmte Scholastiker wie Thomas von Aquin war immens.
Über den Autor
Über Boethius’ Leben ist im Grunde genommen nur das bekannt, was er selbst mitgeteilt hat – abgesehen von einigen verstreuten Notizen. Geboren wird er als Anicius Manlius Severinus Boethius etwa um das Jahr 480 n. Chr. Einer mächtigen römischen Senatorenfamilie (der Gens Anicia) entstammend, kommt er in den Genuss einer umfassenden Bildung. Er ist vermutlich Christ (einige Biografen sprechen ihm dies jedoch ab), macht sich aber ebenso mit den antiken philosophischen Strömungen seiner Zeit vertraut. Neben Latein spricht Boethius wahrscheinlich auch Griechisch. In seinen theologischen und philosophischen Büchern vermischt er aber nicht etwa klassisches und christliches Gedankengut, sondern trennt beides streng voneinander. So ist der Trost der Philosophie ausschließlich aus Sicht eines neuplatonischen Philosophen geschrieben. Um das Jahr 510 wird Boethius mit gerade einmal 30 Jahren an den Hof des Ostgotenkönigs und späteren Königs von Italien, Theoderich, berufen und zum Konsul ernannt. Obwohl noch minderjährig, erhalten auch seine beiden Söhne im Jahr 522 diese Ehre. Boethius bezeichnet den Tag ihres Amtsantritts als den glücklichsten seines Lebens. Noch vor der Berufung an den Hof Theoderichs beginnt Boethius mit seinen naturwissenschaftlichen Schriften, darunter Werke über die Mathematik und Geometrie sowie Kommentare zu Cicero und Aristoteles. Als sich Boethius jedoch für den wegen Hochverrats angeklagten Senator Albinus einsetzt, kommt es zum Zerwürfnis zwischen ihm und Theoderich. Der Konsul wird gefangen genommen, vom senatorischen Gericht ebenfalls wegen Hochverrats verurteilt und mehrere Monate in Pavia festgehalten. Er hofft vergeblich auf Gnade: 524, möglicherweise auch erst 526, wird das Todesurteil vollstreckt.
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