Germaine de Staël
Über Deutschland
Reclam, 2013
Was ist drin?
Das Volk der Dichter und Denker: Madame de Staël prägte das Deutschlandbild der Franzosen.
- Soziologie
- Moderne
Worum es geht
Die Entdeckung Deutschlands im Spiegel Frankreichs
Als Madame de Staël sich Anfang des 19. Jahrhunderts auf eine Reise nach Deutschland begab, waren Überlegungen zu Völkerpsychologie und Nationalcharakter gerade in Mode. Was als Flucht ins Exil begann, wurde für Madame de Staël zu einer Entdeckungsreise. Die Franzosen, so ihre Bilanz, müssten von den deutschen Idealisten lernen, denn diese hätten sich vom Vorbild der klassischen Antike gelöst und seien deshalb in der Lage, wahre Gefühlstiefe auszudrücken. Die Pariser Salondame zeichnet ein durchaus subjektives Bild Deutschlands, doch gerade in ihrer Unsachlichkeit und Emotionalität sowie in der pointierten Gegenüberstellung der beiden Länder liegt der Reiz des Werks. Mit ihrer idealisierenden Darstellung prägte de Staël mehr als ein Jahrhundert lang das Deutschlandbild der Franzosen und beförderte maßgeblich den Mythos von den Deutschen als „Volk der Dichter und Denker“.
Take-aways
- Die kulturtheoretische Untersuchung des deutschen Nationalcharakters gilt als Madame de Staëls Hauptwerk.
- Inhalt: Deutschland unterscheidet sich von Frankreich hinsichtlich der Sitten, der Literatur und der bildenden Künste, der Philosophie sowie Moral und Religion. Während in Frankreich Klarheit, Form und Stil dominieren, konzentrieren sich die Deutschen auf Empfindsamkeit und Enthusiasmus und bringen dadurch große Künstler und Werke hervor.
- Die Erstauflage wurde 1810, wenige Tage vor dem Erscheinen, auf Napoleons Befehl eingestampft.
- Das Buch erschien erst 1813, während Madame de Staël in London im Exil weilte.
- Als Vertreterin der Romantik beurteilte sie künstlerische Werke nach ihrem Potenzial, Gefühle anzuregen.
- In Über Deutschland wird Frankreich ein stagnierendes Geistesleben und eine in Nachahmung der Antike erstarrte Kultur unterstellt, die es neu zu beleben gelte.
- Das Werk trug wesentlich zur Verbreitung der deutschen Romantik in Frankreich bei.
- In Deutschland wurde das Buch für seine Vereinfachungen und Klischees kritisiert.
- Das Werk prägte das Deutschlandbild der Franzosen im 19. Jahrhundert.
- Zitat: „In Frankreich studiert man die Menschen, in Deutschland die Bücher.“
Zusammenfassung
Vorbemerkungen
Man kann die europäischen Nationen auf drei Rassen zurückführen: die romanische, die germanische und die slawische. Zudem sind die Länder Europas von ihrem Klima, ihrer Regierungsform und ihrer Geschichte geprägt. Was Literatur und Philosophie betrifft, kann es kaum einen größeren Gegensatz geben als den zwischen Franzosen und Deutschen. Der französische Geist bedarf der Erneuerung, denn er ist dürr und unfruchtbar geworden. Entgegen aller Vorurteile sollte man der Literatur und Philosophie der Deutschen Beachtung schenken, auch wenn dies nicht dem französischen Zeitgeist entspricht.
Die deutschen Sitten
In Deutschland gibt es noch Natur, die vom Menschen unberührt ist. Sie ist verschlossen – genau wie die Leute dort. Diese Eigentümlichkeiten Deutschlands gewinnen nach einiger Zeit ihren eigenen, poetischen Reiz. Was die Bauwerke betrifft, sind nur die gotischen sehenswert, die neueren Bauten dürfen vernachlässigt werden. Die regionalen Unterschiede innerhalb Deutschlands sind sehr groß, daher gibt es eine Vielfalt literarischer und metaphysischer Richtungen. Entsprechend uneinheitlich ist auch der Nationalcharakter. Der Patriotismus ist wenig ausgeprägt. Insbesondere gilt es, Nord- und Süddeutschland zu unterscheiden. Was die Deutschen im Allgemeinen verbindet, ist, dass sie bieder und verlässlich sind; sie haben die Fähigkeit zu arbeiten und nachzudenken, allerdings sind sie langsam und träge. Fast alle Deutschen spielen ein Musikinstrument oder singen. Ihre Höflichkeitsformen sind steif, ihre Ausdrucksweise gekünstelt. Der kriegerische Geist wie auch die Freiheitsliebe sind schwach. Aufgrund einer starken Militarisierung der Gesellschaft sind die Deutschen Gehorsam gewohnt.
„In einem Reich, das seit Jahrhunderten zersplittert ist, und wo, fast immer durch fremden Einfluss bewogen, Deutsche gegen Deutsche kämpften, kann keine große Vaterlandsliebe existieren, und auch die Liebe zum Ruhm kann nicht sehr lebhaft sein in einem Lande, wo es kein Zentrum, keine Hauptstadt, keine Gesellschaft gibt.“ (S. 65)
Die deutschen Frauen sind zurückhaltend und redlich. In protestantischen Gegenden können Ehen problemlos geschieden werden, Partnerwechsel sind deshalb gang und gäbe. Den Deutschen ist die Liebe heiliger als die Ehe. Sie ist zudem eine ernstere Angelegenheit als in Frankreich. Die Deutschen sind wohlerzogen und seelenrein, im Gespräch fehlt es ihnen dafür an Esprit. Ein wirkliches Talent zur Unterhaltung gibt es nur in Frankreich.
Worin Deutsche und Franzosen sich unterscheiden
Im Süden, wo das Klima viel angenehmer ist als im Norden, schätzt man die Annehmlichkeiten des Lebens mehr. Das führt allerdings zu einem eintönigen Alltag und behäbigen Menschen. Die Schauspielkunst wird hier stark vernachlässigt. Ähnlich verhält es sich mit dem Kaisertum Österreich: Als Vielvölkerstaat hat die Monarchie keine starke innere Einheit. Wie die Süddeutschen wollen die Österreicher nur den Status quo wahren und haben keinerlei Bestrebungen, höhere Talente zu kultivieren. Ein Einfuhrverbot für ausländische Bücher fördert darüber hinaus die geistige Trägheit. In Wien sieht man kaum Bettler, da die Wohltätigkeit ausgeprägt und die Regierung väterlich, umsichtig und fromm ist. Die Salons allerdings sind langweilig. Im Norden beschäftigt man sich mehr mit Ideen.
„In Österreich ist die Gesellschaft nicht, wie in Frankreich, dazu da, um den Geist zu entwickeln und anzuregen, sie lässt nur Verworrenheit und Leere im Kopf zurück.“ (S. 91)
Sowohl im Norden als auch im Süden unterscheiden sich die Menschen aber von den Franzosen, die dazu neigen, durch Bonmots und Dispute auf sich aufmerksam zu machen. Die Franzosen sind Meister in der Kunst des Plauderns. Ganz anders der Humor der Österreicher und Deutschen: Er ähnelt eher der Possenreißerei als eleganter Gewandtheit. Um den Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen auszumachen, muss man gewöhnliche Menschen beobachten. In Frankreich etwa redet man weiter, selbst wenn man nichts mehr zu sagen hat, während man in Deutschland längst nicht alle Gedanken ausspricht. In Frankreich ist Sprache ein anregendes Spiel, während sie in Deutschland der eigentlichen Mitteilung dient. Unterhaltung ist hier weder Vergnügen noch Kunst. Selbst leichte Scherze sind bei den humorlosen Deutschen unangemessen. Die Franzosen hingegen haben einen Unterhaltungs- und Verhandlungssinn. Von ihrer Geselligkeit könnten die Deutschen etwas lernen. Andererseits haben die Deutschen einen größeren Unabhängigkeitssinn, sie sind gewissenhafter und ehrlicher. Die deutsche Sprache eignet sich eher für Poesie als für Prosa. Mit ihrer Abstraktheit taugt sie für metaphysische Themen.
„Ein Franzose weiß immer noch zu reden, selbst wenn er keine Gedanken hat, ein Deutscher dagegen hat immer etwas mehr Gedanken im Kopf, als er aussprechen kann.“ (S. 97)
Das auf den ersten Blick trostlose Norddeutschland bietet kaum Zerstreuung und ein raues Klima. Die Menschen hier sind ernst, bieder, schwerfällig und nachdenklich. Man interessiert sich weniger für Ereignisse als für abstrakte Ideen. Sachsen zeichnet sich durch hohe Allgemeinbildung aus: Jedermann liest hier, es wird die Musik gepflegt. Anders als in Frankreich sind bedeutende Geister in Deutschland über verschiedene Städte verstreut. Das Gesellschaftsleben ist eher langweilig, sodass man sich an ein einsames, arbeitsames Dasein gewöhnt. Weimar allerdings ist einzigartig und dank seinem geistvollen Herzog und dessen Frau eine kultivierte Residenzstadt. Preußen ist geprägt vom Geist Friedrichs II. und den damit verbundenen Werten Ordnung und Sparsamkeit. Berlin ist extrem fortschrittlich; es ist die wahre Hauptstadt des aufgeklärten Deutschland. Der Berliner Hof hat hervorragende Männer an sich gebunden, sodass hier das geistige Leben blüht. Im Unterschied zu Frankreich sind aber Frauen kaum im gesellschaftlichen Leben präsent. Auch wenn der Norden eher beschränkt wirkt, gibt es hier die besten Universitäten Europas und höchst gelehrte Professoren. Die meisten Menschen sind mit mehreren Sprachen vertraut.
Literatur und Kunst
Was Literatur und Kunst betrifft, sind sich Deutschland und Frankreich fremd. Aufgrund von Vorurteilen, mangelnden Sprachkenntnissen und politischen Wirren in der Vergangenheit haben die Franzosen die deutsche Literatur vernachlässigt. Die Franzosen legen Wert auf Stil, auf Handlung und Ereignisse, die Deutschen dagegen auf Leidenschaften. Wieland ist von allen Dichtern, die nach französischer Manier schreiben, der beste. Er besitzt wahre Empfindsamkeit und hat die deutsche Sprache vervollkommnet. Winckelmann hat die Künste in Deutschland vom Vorbild der alten Griechen befreit. Lessing forscht rastlos nach der Wahrheit und hat eine Poetik des Dramas begründet. Goethe verkörpert alle Eigenschaften, die den deutschen Geist auszeichnen. Er ist ein universaler Geist, der über allen Meinungen schwebt. Schiller ist tugendhaft und talentiert.
„Nichts aber ist weiter von diesem Talent entfernt als der Charakter und die Geistesbeschaffenheit der Deutschen. Diese wollen bei allem ein wirkliches Resultat sehen.“ (über den Unterhaltungssinn der Franzosen, S. 99)
Die deutsche Literatur zeichnet sich durch Leichtigkeit in der Darstellung und durch große Einbildungskraft aus. Wieland hat mythologischen Stoffen neue Poesie und Grazie verliehen. Klopstocks Messias markiert den Anfang der Poesie in Deutschland. Schiller hat sich auf dem Gebiet des Dramas besonders hervorgetan. Goethe vermag sich wie kein anderer in die Gebräuche fremder Völker hineinzufühlen.
Das deutsche Theater
Hauptaufgabe der Literatur ist es, Erregung auszulösen, auch wenn diese dem gesellschaftlichen Geschmack oft entgegensteht. Theaterautoren sollten das Publikum studieren, um seine Empfindungen berühren zu können. Französische Dramen zeigen zwar würdevolle Situationen, doch sind die dramatischen Werke anderer Nationen fesselnder und ergreifender. Sie legen mehr Wert auf die Schilderung der Charaktere und die Beobachtung der Sitten als auf den Versbau und die drei Einheiten. Das französische Drama ist kurz und lebhaft, das deutsche dagegen langsam und ausdrucksvoll. Das französische Theater beschränkt sich auf eine Nachahmung der griechischen Meisterwerke, ohne neue zu schaffen; seine Kunst ist starr geworden. Das deutsche Theater beruht auf völlig anderen Prinzipien und sollte dem französischen als Anregung dienen.
„Die Zeit gut auszufüllen, ist das Verdienst der Deutschen, sie vergessen zu machen, das Talent der Franzosen.“ (S. 107)
Lessing ist derjenige, der einem zersplitterten Land ohne Hauptstadt ein nationales deutsches Theater gab. Mit einfachen Mitteln zeichnet er fesselnde Charaktere, die große Leidenschaft erregen. Nathan der Weise ist sein schönstes Werk, auch wenn die Schilderungen letztlich eine aufklärerische Botschaft befördern. Auch Schillers Werke sind hervorzuheben: Die Räuber stellt Liebe und Leidenschaft als bewundernswürdig dar. Don Carlos ist in seiner Darstellung von Interessen und Gesinnungen ebenfalls sehr gekonnt. Wallenstein ist die nationalste deutsche Tragödie, ihre Gestalten sind packend und erregen romantisches Interesse. In Die Jungfrau von Orleans verarbeitet Schiller einen historischen Stoff mithilfe lyrischer Einschübe. Sein Hauptziel ist es, die Empfindungen der Figuren zu zeigen. Die Franzosen interessieren sich vor allem für den Fortgang einer Handlung, die Deutschen eher für die Entwicklung von Empfindungen. Auch schränken sich die Franzosen selbst ein, indem sie nur gewisse Hauptcharaktertypen als Heroen anerkennen.
„Mit den Ideen muss man sich auf Deutsch, mit den Personen auf Französisch messen, forschen und grübeln muss man mithilfe des Deutschen, den Endzweck erreichen mithilfe des Französischen: Das eine muss die Natur, das andere die Gesellschaft schildern.“ (S. 108 f.)
Goethe hält sich nicht an die Konventionen des Theaters, er ist in vielen Gattungen zu Hause. Aus dem Egmont spricht dieselbe Inbrunst wie aus dem Werther. Er ist Goethes schönste Tragödie. Ihr Schluss ist allerdings inkonsequent. Allgemein fällt den deutschen Dramatikern der Schluss schwer. Mit Iphigenie auf Tauris wollte Goethe die antike Form neu beleben. Er versteht es, Szenen so lebendig zu gestalten, dass man die Geschichte vor sich zu sehen glaubt. Deutsche Autoren sind allgemein reizbarer als französische, da sie eher einsam sind und Gesellschaft scheuen. Goethes Faust zeichnet durch die Kühnheit seiner Gedanken aus. Das Stück entfaltet einen Rausch, erregt zugleich Furcht, Gelächter und Trauer, insbesondere durch die Vielschichtigkeit des Mephisto.
„In Frankreich studiert man die Menschen, in Deutschland die Bücher.“ (S. 112)
Die deutschen Lustspiele sind leider nur mittelmäßig und von derber Komik. Auf deutschen Bühnen sind Komisches und Tragisches nicht so streng voneinander getrennt wie in Frankreich. Die Franzosen sind die besseren Lustspielautoren. Auch im eigentlichen Theaterspiel zeigen sich deutliche Unterschiede: Die Deutschen streben nach Einfachheit, die Franzosen nach Pomp. Während die Franzosen sehr auf Deklamation fokussiert sind, konzentrieren sich die Deutschen eher auf Mimik und Gestik. Die Deutschen spielen allerdings mit solcher Natürlichkeit, dass sie schon wieder unbeholfen wirken.
Romane und philosophische Werke
Deutsche Romane konzentrieren sich auf das häusliche Leben. Unübertroffen ist Goethes Werther, auch wenn der idealisierte Selbstmord zu tadeln ist. Beliebt sind vor allem philosophische Romane wie der Wilhelm Meister, die jedoch – anders als in Frankreich üblich – keine Moral zum Ausdruck bringen sollen. Unter den neuen deutschen Schriftstellern herrscht bedauerlicherweise die Tendenz vor, romantische Situationen mit größter Ruhe zu erzählen, sodass sie nicht mehr ergreifend wirken. Hieran kranken vor allem die Wahlverwandtschaften, denen es zudem an religiösem Gefühl mangelt. In Deutschland erwartet man von einem Schriftsteller in so hohem Maße ein vielfältiges Wissen, dass man selbst Herder geistige Beschränkung vorgeworfen hat. In deutschen philosophischen Werken finden sich Wissen und philosophischer Scharfsinn vereint, was in Frankreich selten der Fall ist. Überhaupt sind die Franzosen für ernstere Lektüre kaum empfänglich, während die Deutschen extrem wissbegierig sind. Sie sind in der Theorie stärker als in der Praxis.
„Die Franzosen beurteilen die schönen Künste wie die gesellschaftliche Schicklichkeit, die Deutschen die gesellschaftliche Schicklichkeit wie die schönen Künste.“ (S. 191)
Zum einen wirkt der starke Einfluss der Philosophie auf die Literatur einschüchternd, zum anderen geht er mit einer gewissen Unverständlichkeit einher. Während die Franzosen ihre Theorien auf Grundlage von Erfahrungen entwickeln, gehen die Deutschen umgekehrt vor. Auch wollen sie in der Kunst nicht die Natur nachahmen, sondern ideale Schönheit schaffen. Höchste Priorität hat, was empfindsam oder schwärmerisch ist.
Religion und Enthusiasmus
In religiöser Hinsicht neigt man in Deutschland mehr zum Enthusiasmus als zum Fanatismus. Der Glaube ist nicht besonders scharf ausgeprägt, denn Religion wird im Zusammenhang mit einem ganzen System literarischer und philosophischer Ansichten gesehen. Die Deutschen haben eine sehr breite Auffassung von Religion. Die Wunder der Natur sind für sie göttlich.
„Der Scherz ist für sie eine Feuerwaffe, von der sie beständig fürchten, sie möchte ihnen unter den Händen losgehen.“ (über die Deutschen, S. 283)
Wenn die Deutschen einmal von etwas überzeugt sind, beharren sie auf ihrer Meinung. Die deutschen Schriftsteller teilen sich in Anhänger des Protestantismus und solche des Katholizismus. Dabei begünstigt eher der Protestantismus als der Katholizismus den Fortschritt. Deutschland hat deshalb allen Grund, auf seine Protestanten stolz zu sein. Von allen Nationen neigen die Deutschen meisten zur Mystik. Mystiker wiederum neigen zu den schönen Künsten. Sie streben, ebenso wie idealistische Philosophen, eine intellektuelle Kultur mit vollkommener Bildung an. Der Enthusiasmus sowie die Liebe zum Schönen und Erhabenen bilden das eigentliche Charakteristikum der Deutschen und die Triebfeder des Lebens. Der Enthusiasmus hat die Philosophen inspiriert und die Geistesentwicklung beeinflusst. Er ist von allen Gefühlen das beglückendste. Er beseelt und tröstet zugleich.
Zum Text
Aufbau und Stil
Madame de Staëls Abhandlung ist in vier unterschiedlich lange Teile gegliedert: der erste widmet sich den Sitten, der zweite der Literatur und den Künsten, der dritte der Philosophie und der Moral und der vierte der Religion und dem Enthusiasmus. Autobiografische Reiseschilderungen wechseln sich ab mit analytischen Untersuchungen der deutschen Eigenart. Gerade im ersten Teil hat diese Analyse oft aphoristischen Charakter und lebt von der Antithese: hier das zentralistische Frankreich, dort das zersplitterte Deutschland; hier die geselligen, gewitzten, eleganten Franzosen, dort die humorlosen, biederen, steifen Deutschen; hier der raue, verschlossene Norden, dort der milde, gesellige Süden; hier die mediterrane Kultur der Antike, dort die christlich-germanische Kultur des Mittelalters; hier Oberflächlichkeit und dort Tiefsinn.
Interpretationsansätze
- De Staël erweist sich als typische Vertreterin der Romantik: Sie beurteilt Dramen ausschließlich danach, ob und wie sehr sie Gefühle anregen. Nicht zufällig endet sie mit einem Abschnitt über den Enthusiasmus, also die Liebe zum Schönen und Erhabenen. Der Enthusiasmus ist für sie das höchste aller Gefühle und der Inbegriff des Deutschen. Sie sieht in ihm den Motor der Bildung, der Geistesentwicklung und der Tugenden Deutschlands. Frankreich dagegen unterstellt sie ein stagnierendes Geistesleben und eine in der Nachahmung der klassischen Antike erstarrte Kultur, die es neu zu beleben gelte.
- Ihre Ansichten sind aber auch vom Geist der Aufklärung geprägt: De Staël plädiert für Weltoffenheit, Dialog und den Austausch von Ideen. Die Menschen sind ihrer Ansicht nach verständig genug, um große Ideen und bedeutende Schriftsteller von eher zweitrangigen zu unterscheiden. Zensur ist ihr zuwider – diese führe nur zu gedanklicher Trägheit.
- Bereits in ihrer Abhandlung Über die Literatur in ihren Beziehungen zu den gesellschaftlichen Einrichtungen vertrat Madame de Staël die These, dass es kein absolutes Stilideal gebe und dass die Literatur eines Landes von den jeweiligen gesellschaftlichen, klimatischen und geografischen Bedingungen geprägt sei. Diese Auffassung vertritt sie auch in Über Deutschland.
- Als Calvinistin will de Staël nicht nur beschreiben und analysieren, sondern vor allem moralische bzw. erzieherische Wirkung erzielen. Die französische Kultur ist ihrer Ansicht nach schal und träge geworden, die Franzosen sind überheblich, einseitig und wenig aufgeschlossen. Ihr Deutschlandbild muss daher gezwungenermaßen idealisierend ausfallen – um die Franzosen zu ermuntern, vom Nachbarland zu lernen.
- Zwar hat Madame de Staël viele deutsche Städte und Regionen bereist und sich intensiv mit den Literaten und Philosophen ihrer Zeit beschäftigt, doch ist ihre Auswahl und Wertung sehr subjektiv und beschränkt sich meistens auf Menschen, denen sie selbst begegnet ist. Personen wie Beethoven oder Hölderlin übergeht sie, ebenso Baustile wie den Barock, der ihr nicht zusagt. Ihrem gesellschaftlichen Stand entsprechend interessiert sie sich für das hochkulturelle Weimar, nicht für das Leben der Bauern oder Arbeiter in Deutschland. Ihre Welt ist die der feinfühligen Dichter, nicht die der dumpfen Masse.
Historischer Hintergrund
Zwischen Aufklärung und Romantik
Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich die Ideen der Aufklärung in ganz Europa verbreitet. Montesquieu hatte ein Modell der politischen Gewaltenteilung entwickelt, Jean-Jacques Rousseau behauptete, der Privatbesitz habe dem glücklichen Naturzustand des Menschen ein Ende bereitet und zur Ungleichheit geführt. Das Bürgertum war mehr und mehr am politischen und philosophischen Diskurs beteiligt. Die Französische Revolution war sowohl Kulminations- wie auch Wendepunkt dieser Ideen: Einerseits wurden nun bürgerliche Freiheitsrechte und eine konstitutionelle Monarchie umgesetzt, andererseits schlugen die freiheitlichen Bestrebungen in ein Terrorregime um. Das Bürgerheer wurde immer mehr zum Ordnungsfaktor und verhalf Napoleon Bonaparte zum Aufstieg. Er stand der Französischen Republik von 1799 bis 1804 als Erster Konsul vor. Nach einer Volksabstimmung krönte er sich 1804 selbst zum Kaiser. Frankreich wurde damit erneut zur Monarchie.
Napoleons Kulturpolitik zielte auf eine Wiederbelebung der klassischen Ästhetik, während sich in Deutschland die neuen Ideen der Romantik verbreiten. In Jena war seit 1798 die Gruppe der sogenannten Frühromantiker tätig – die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie Novalis, Ludwig Tieck und Friedrich Schleiermacher –, die mit der Zeitschrift Athenaeum ihr eigenes Organ hatte. Die Romantiker lehnten die klassische französische Tragödie vehement ab und forderten eine Ästhetik ohne Regelzwang. Als Reaktion auf das von Vernunft geprägte Zeitalter der Aufklärung stellten sie das Gefühls- und Seelenleben in den Vordergrund, setzten auf fantastische Szenerien und idyllische Naturschilderungen.
Entstehung
Von Napoleon enttäuscht, beschloss Madame de Staël im Spätsommer 1803, nach Deutschland zu reisen. Wie ihre Landsleute hatte sie ein oberflächliches und vorurteilsbehaftetes Bild des Nachbarlands; Übersetzungen deutscher Werke waren damals rar, und sie sprach kaum Deutsch. Umso neugieriger war sie auf die Deutschen. In Goethes Werther sah sie – neben Rousseaus Julie – eine der bedeutendsten literarischen Schöpfungen überhaupt, und während Frankfurt sie langweilte, war sie von Weimar begeistert. Ihr Interesse an der Denkweise der Deutschen schlug sich in ihren Aufzeichnungen nieder, und im Februar 1804 beschloss sie, auf Basis ihrer täglichen Eindrücke ein Buch über Deutschland zu schreiben. In Berlin kam sie mit der Frühromantik in Berührung, vor allem mit August Wilhelm Schlegel. Schlegel folgte ihr, bis sie die Reise wegen des Todes ihres Vaters abbrach. Im Winter 1807/08 reiste sie erneut in deutsche Gefilde, diesmal nach München und Wien, und sammelte weiteres Material. Die meisten Kapitel von Über Deutschland entstanden spontan zwischen Juli 1808 und Mai 1810 und wurden nachträglich für das Buch geordnet. 1810, im Schloss Chaumont an der Loire, brachte Madame de Staël das Manuskript in seine endgültige Fassung.
Wirkungsgeschichte
Wie sie im Vorwort schreibt, übergab Madame de Staël das Manuskript 1810 ihrem Verleger. Verschiedene Zensoren prüften das Werk und strichen einige Sätze, doch als bereits 10 000 Exemplare gedruckt waren, wurde auf Napoleons Befehl die gesamte Auflage vernichtet. Die Autorin musste binnen kürzester Zeit das Land verlassen. „Es schien mir, dass die Luft unseres Landes Ihnen nicht zusage, und wir sind noch nicht so weit gekommen, dass wir in den Völkern, die Sie bewundern, nachahmenswerte Vorbilder sähen“, schrieb das Kabinett des Polizeiministers Savary.
So konnte das Buch erst 1813, während Madame des Staëls Exil in London, erscheinen, wo es bereits nach drei Tagen vergriffen war. 1814 wurde es in Paris und im selben Jahr in deutscher Übersetzung in Leipzig gedruckt. In Frankreich wurde es bald zum Kult. Kaiser Napoleon war inzwischen gestürzt und der Krieg beendet worden, sodass die Gesellschaft für neue Ideen offen war. Die deutsche Romantik machte in Paris Furore – allerdings erst nach dem Tod der Autorin und nur bis etwa 1830. In dieser Zeit boomten Übersetzungen aus dem Deutschen. Dramen von Goethe, Lessing und Schiller fanden reißenden Absatz. De Staëls Deutschlandbild prägte die gesamte Schriftstellergeneration von Victor Hugo, Alphonse de Lamartine, Alfred de Musset und Charles-Augustin Sainte-Beuve.
In Deutschland stieß das Werk auf geteiltes Echo. Man fühlte sich – teils aus verletzter Eitelkeit – missverstanden und kritisierte die Klischees und Vereinfachungen, den starken Einfluss Schlegels und die romantischen Tendenzen der Autorin. Insbesondere der Gegensatz zwischen dem romantischen Norden und dem klassischen Süden sah man als Verzerrung an.
Über die Autorin
Anne Louise Germaine de Staël-Holstein wird am 22. April 1766 in Paris geboren. Ihr Vater ist ein reicher Bankier aus Genf und der letzte Finanzminister des Ancien Régime. Ihre Mutter ist Salondame. So kommt die Tochter schon früh mit den Vertretern der Aufklärung in Kontakt. 1786 heiratet sie den 17 Jahre älteren schwedischen Botschafter in Frankreich, Baron Staël von Holstein. Zwar hält die Ehe offiziell 14 Jahre, doch beginnt Madame de Staël bald außereheliche Affären. 1786 erscheinen ihre Lettres sur les ouvrages et le caractère de Jean-Jacques Rousseau (Briefe über den Charakter und die Schriften von Jean-Jacques Rousseau), gefolgt von zwei Dramen. In ihrem liberalen Salon treffen sich die gemäßigten Vertreter der Französischen Revolution. 1792 muss de Staël auf das elterliche Gut bei Genf fliehen, wo sie die europäischen Geistesgrößen ihrer Zeit empfängt. 1795 kehrt sie mit ihrem Liebhaber, dem Literaten Benjamin Constant, nach Paris zurück, flieht jedoch 1796 erneut vor der Jakobinerherrschaft. Anfänglich von Napoleon Bonaparte begeistert, geht sie bald zu ihm in Opposition. 1800 erscheint De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (Von der Betrachtung der Literatur im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Institutionen), worin sie für eine soziologische Betrachtung von Literatur plädiert. 1802 kommt ihr Briefroman Delphine heraus. 1803 unternimmt de Staël, da man sie aus Paris verbannt hat, eine erste Deutschlandreise und trifft mit Schiller, Goethe und August Wilhelm Schlegel zusammen. 1807 erscheint ihr zweiter Roman Corinne. Von 1807 bis 1810 arbeitet sie an ihrem Hauptwerk De l’Allemagne (Über Deutschland), das umgehend verboten wird. 1812 reist sie über Österreich und Russland nach Schweden, um gegen Napoleon aktiv zu werden. Zwei Jahre später kehrt sie, nach einem einjährigen Aufenthalt in London, nach Paris zurück, wo sie am 14. Juli 1817 an den Folgen eines Schlaganfalls stirbt.
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