Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen
in einer Reihe von Briefen
Reclam, 2000
Was ist drin?
Hehre Ideale: In seinem „politischen Glaubensbekenntnis“ erklärt Schiller, wie die Kunst den Menschen vervollkommnen soll.
- Philosophie
- Weimarer Klassik
Worum es geht
Erziehung durch Kunst
Fünf Jahre nach der Französischen Revolution wurde Friedrich Schiller zum Ehrenbürger der Französischen Republik ernannt. Die Ehrerbietung gegenüber dem deutschen Dichter, der mit seinen Räubern bereits gezeigt hatte, dass er den Begriff der Freiheit hochhielt, ging allerdings gründlich nach hinten los. Der Rechtschreibfehler im Namen – die Urkunde ging an einen „Monsieur Gille“ – war noch der kleinste Fauxpas. Schwerer wog, dass Schiller, anfänglich begeistert von der Revolution, mittlerweile angewidert nach Paris blickte, wo die Guillotinen im Akkord fielen. In seinen Augen war die Revolution entartet und hatte die Despotie des Adels bloß durch die Despotie des dritten Standes ersetzt. Warum nur musste etwas, was so gut begonnen hatte, in einem solchen Desaster münden? Schiller schrieb sich seinen Erklärungsversuch in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen vom Herzen. Das Grundübel lag seiner Meinung nach im Ungleichgewicht zweier widerstrebender Kräfte im Menschen, der deshalb zu Extremen neige. Zum Glück glaubt Schiller ein Allheilmittel zu kennen: die Kunst! So naiv dieser Lösungsvorschlag heute klingen mag, so scharf bleibt Schillers Gesellschaftsanalyse.
Take-aways
- Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung sind das philosophische Fundament der Weimarer Klassik.
- Inhalt: Der Mensch wird von zwei Trieben bestimmt. Der Stofftrieb klammert sich an die Materie, der Formtrieb an die Vernunft. Einen Ausgleich zwischen den beiden Extremen schafft nur die Kunst. Sie ist das Resultat eines dritten Triebs – des Spieltriebs –, der die anderen beiden in sich vereint. Ziel der Kunst muss es sein, den Menschen zu veredeln.
- Bei der Abhandlung handelt es sich nicht um echte Briefe, sie beruhen aber auf solchen – gerichtet an Schillers Gönner Friedrich Christian von Augustenburg.
- Anstoß zu den Briefen gab die Französische Revolution, deren unmenschliche Entwicklung Schillers Abscheu erregte.
- Schiller sah die Diktatur des Adels von einer Diktatur des Pöbels abgelöst.
- Manche glauben in den Briefen eine Rechtfertigung des Feudalsystems zu erkennen.
- Im Gegensatz zu Jean-Jacques Rousseau wollte Schiller die Verbesserung des Menschen nicht über eine „Rückkehr zur Natur“ erreichen, sondern über Bildung und Kunst.
- Schillers Anspruch ist universalwissenschaftlich; die Briefe vereinen Fragen der Soziologie, Politiktheorie, Ästhetik, Pädagogik und Bewusstseinsphilosophie.
- Die Briefe festigten Schillers Ruhm als Philosoph und die Freundschaft mit Goethe.
- Zitat: „Es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als dass man denselben zuvor ästhetisch macht.“
Zusammenfassung
Naturstaat und Vernunftstaat
Auf der politischen Bühne wird derzeit über das Schicksal der Menschheit entschieden. Schönheit spielt dabei kaum eine Rolle. Sie wird als nicht nützlich betrachtet – und die Gegenwart huldigt nur Dingen, die nützlich sind. Man gelangt jedoch nur über die Schönheit zur Freiheit. Sie ist entscheidend für die politisch-moralische Bildung des Menschen.
„Sie wollen mir also vergönnen, Ihnen die Resultate meiner Untersuchungen über das Schöne und die Kunst in einer Reihe von Briefen vorzulegen.“ (S. 7)
Zunächst schlummert der Mensch in einem Staat, den er sich aus der schieren Not gebildet hat. Der Notstaat oder Naturstaat gehört also zu den Bedingungen des menschlichen Zusammenlebens. Dieser von natürlichen Zwängen geprägte Staat kann dem moralisch veranlagten Menschen aber nicht genügen. Genauso wie er den reinen physischen Vorgang der Liebe durch Sittlichkeit veredelt, weil er ihm als solcher nicht genügt, tut er dies auch mit dem Staat. Was er anstrebt, ist ein Vernunftstaat. Das ist ein schwieriges Unterfangen: Der Staat kann nicht in Ruhe veredelt werden, sondern ist wie ein Uhrwerk, das bearbeitet werden soll, während es weiterläuft. Wenn dem Naturmenschen der faktische Naturstaat unter den Füßen weggezogen wird – mit der Verheißung eines rein theoretischen Vernunftstaates –, sorgt das für Chaos und Unsicherheit. Die staatliche Vervollkommnung kann nur gelingen, wenn der Mensch einen Helfer hat. Seine Natur ist es nicht, denn die ist zerstörerisch und selbstsüchtig. Seine Moral ist es auch nicht, denn die gilt es ja erst herauszukitzeln. Nur die Ästhetik kann diese Helferrolle übernehmen. Sie muss zwischen den beiden Teilen des Menschen vermitteln.
„Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen.“ (S. 9)
Die Vernunft ist im Menschen angelegt. Um aber tatsächlich zum Vernunftmenschen zu werden, muss er beeinflusst und erzogen werden. Ein Mensch, der seiner Natur gehorcht und keine Grundsätze hat, ist ein Wilder. Ein Mensch, der zwar Grundsätze hat, aber die Natur missachtet, ist ein Barbar. Der harmonisch gebildete Mensch vereint die Gegensätze und ehrt die Natur, zügelt aber ihre Unberechenbarkeit. Ähnliches gilt für den Staat, der weder repressiv noch verwirrend pluralistisch sein darf. Sinnliche und geistige Kräfte müssen sich auch im Staatswesen zu einer harmonischen Einheit verschmelzen. Nur so wird aus dem Staat der Not ein Staat der Freiheit.
Die Revolution frisst ihre Kinder
Doch was geschieht derzeit? Die niederen Klassen schlagen zu und holen sich die Privilegien mit Gewalt, die ihnen die höheren Klassen genommen haben. Statt harmonischer Freiheit sieht man die hässliche Fratze der rohen, gesetzlosen Triebe: pure Verwilderung. Derweil zeigt die zivilisierte Klasse Tendenzen zur Blasiertheit, Gleichgültigkeit, Depravation und Schlaffheit. Hier die rohe Natur, dort die Unnatur. Hier der Aberglaube, dort der Unglaube. Welches ist das größere Verbrechen? Beide sind zutiefst verachtenswert.
„Hier Verwilderung, dort Erschlaffung: die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls, und beyde in Einem Zeitraum vereinigt.“ (S. 18)
Der moderne Mensch ist nicht mehr ganzheitlich gebildet und harmonisch, wie es die antiken Griechen waren. Die Gegenwart ist auf Spezialisierung aus: Jeder moderne Mensch ist in seinem Fach den alten Griechen haushoch überlegen, aber er ist innerlich zerrissen – was die Harmonie der Persönlichkeit und die Ausgeglichenheit des Charakters betrifft, stehen wir den Griechen nach. Die Arbeitsteilung hat den Menschen von der Totalität seines Daseins und seines Handelns entfremdet. Die Menschen der Antike waren Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Athleten gleichzeitig. Ihre Persönlichkeit war harmonisch. Heute müssen wir versuchen, uns diesem Ideal wieder anzunähern.
Staat und Kunst
Ist der Staat imstande, diese verlorene Totalität wiederherzustellen? Das erscheint unmöglich, weil ein fortschrittlicher Staat nur von fortschrittlichen Menschen geformt werden kann. Der gegenwärtige Situation der Staaten – ein Seitenblick aufs revolutionäre Frankreich genügt – hat ja gerade dazu geführt, dass der Mensch in seinen viehischen Zustand zurückgefallen ist. Die Entwicklung und Reife des Staates und der Menschen wird lange Zeit, vielleicht Jahrhunderte, beanspruchen.
„Stolze Selbstgenügsamkeit zieht das Herz des Weltmanns zusammen, das in dem rohen Naturmenschen noch oft sympathetisch schlägt, und wie aus einer brennenden Stadt sucht jeder nur sein elendes Eigenthum aus der Verwüstung zu flüchten.“ (S. 20)
Die Menschen leben im Zeitalter der Aufklärung, die Geheimnisse sind enthüllt, der Aberglaube ist enttarnt. Und doch sind alle nach wie vor Barbaren. Woran liegt es, dass sie den weisen Umgang mit dem Wissen der Aufklärung nicht gelernt haben? Vielleicht am fehlenden Empfindungsvermögen. Nur über das Herz kann der Kopf erreicht werden. Dahin gehend gilt es den Charakter der Menschen zu veredeln. Wenn der Staat es nicht kann, dann vielleicht der Künstler. Denn die schöne Kunst ist frei, egal welche weltlichen Schranken zu überwinden sind. Ihr Instrument ist der Künstler: Er kann die Welt in Harmonie versetzen. Allerdings nur, wenn er autonom ist und kein Zögling oder gar Günstling seiner Zeit, denn er soll seine Zeit belehren, sie säubern und reinigen. Der wahre Künstler achtet das Urteil seiner Zeitgenossen gering und orientiert sich an höheren Werten einer ganz anderen, fernen Zeit.
Die traurige Realität
Die Geschichte zeigt, dass die Ausbildung einer verfeinerten Kultur nicht notwendigerweise zur Verbesserung der Sitten beiträgt. Im Gegenteil: Immer dann, wenn die politische Freiheit schwand, erblühte die Kunst. Im antiken Rom war das nach der Republik, nach dem Ende des Bürgerkriegs und unter der Herrschaft eines Kaisers der Fall. Ähnlich war es bei den Arabern, die erst dann eine kulturelle Glanzzeit erlebten, nachdem die Abbasiden die Macht and sich gerissen hatten. In Italien dämmerte ein Zeitalter der Kunst herauf, als sich Florenz unter die Befehlsgewalt der Medici begab. Ästhetische Kunst und politische Freiheit begegnen uns in der Geschichte als Widersacher.
„Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophirend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen.“ (über die Griechen, S. 21)
Sind Kunst und Schönheit also nur um den Preis der Unvernunft zu haben? Vielleicht muss man sich von den abschreckenden Beispielen der Vergangenheit lösen und das Augenmerk auf einen abstrakten Kunstbegriff richten, der Schönheit als absolute Grundbedingung der Menschheit versteht.
Person und Zustand, Formtrieb und Stofftrieb
Der Mensch besitzt zwei Eigenschaften: Er ist gleichermaßen Person und Zustand. Die Person ist das in ihm Angelegte, das Unveränderliche. Der Zustand dagegen wandelt sich fortwährend mit dem Fluss der äußeren Veränderungen. Weder kann sich die Person anhand des Zustandes noch der Zustand anhand der Person konstituieren. Die Person ist alleine dadurch, dass sie ist. Ihr Sein bedeutet absolute Freiheit, weil sie nicht vom Denken, Handeln oder Wollen abhängt. Der Zustand hingegen ist veränderlich, und zwar unter dem Einfluss der Zeit. Die Person kann also nur in Form eines Zustandes in Erscheinung treten.
„Der Charakter der Zeit muß sich also von seiner tiefen Entwürdigung erst aufrichten, dort der blinden Gewalt der Natur sich entziehen und hier zu ihrer Einfalt, Wahrheit und Fülle zurückkehren – eine Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert.“ (S. 30)
Zwei Triebe steuern das menschliche Verhalten: der Stofftrieb und der Formtrieb. Der Stofftrieb ist sinnlich, er will die Welt begreifen und ihre materielle Fülle erschließen. Der Formtrieb strebt danach, die Person zu bewahren, ihre Unveränderlichkeit zu behaupten. Er gründet vor allem auf der Vernunft. Beide Triebe benötigen einander und sind aufeinander bezogen. Der Stofftrieb bemächtigt sich der Welt, der Formtrieb hilft dem Menschen dabei, die Welt zu verstehen. Jener befördert das sinnliche Erleben, dieser den Intellekt. Ohne Stofftrieb wäre der Mensch blind, ohne Formtrieb würde ihm jeder Begriff fehlen.
Harmonie dank Kultur und Spiel
Keiner der beiden Triebe darf überwiegen, und keiner darf unterdrückt werden. Sie sind keine Gegensätze; beide sind notwendig für die Existenz des Menschen. Folgt der Mensch nur dem Stofftrieb, kann er nie über sich hinauswachsen; er bleibt in der Zeit und in seinem Zustand stehen. Folgt er nur dem Formtrieb, fehlen ihm die Inhalte. Im Prozess der Zivilisation hat sich die Waage immer wieder auf der einen oder anderen Seite gesenkt.
„Nicht genug also, daß alle Aufklärung des Verstandes nur insoferne Achtung verdient, als sie auf den Charakter zurückfließt; sie geht auch gewissermaßen von dem Charakter aus, weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden.“ (S. 33)
Die Aufgabe der Kultur wäre es, die beiden Triebe gegeneinander abzugrenzen und sie in Balance zu halten. Weder Gefühlswallung noch unbedingte Rationalität bringen uns weiter. Die Kultur kann den Menschen nur dann erziehen und bilden, wenn sie ihm sowohl Einfühlungsvermögen als auch Vernunft beibringt. Dabei kommt ihm eine dritte Kraft zugute: der Spieltrieb. Im Spiel kann der Mensch die Forderungen der Vernunft und der Sinne harmonisch verbinden oder sich über beide hinwegsetzen. Spiel bedeutet Zwanglosigkeit und Harmonie. Erst im Spiel wird der Mensch vollkommen: Er begreift seine Möglichkeiten, ohne auf die Zwänge der Wirklichkeit zu achten.
Kunst als Resultat des Spieltriebs
Der Spieltrieb verschmilzt den Formtrieb mit dem Stofftrieb, die „Gestalt“ mit dem „Leben“. Was sich daraus ergibt, ist sozusagen die lebende Gestalt – Schönheit, Ästhetik und Kunst. Jedes Kunstwerk ist gleichzeitig schön und besitzt eine innere Tiefe. Es befriedigt die beiden ersten Triebe und ist Ergebnis des dritten, des Spieltriebs. Weil der Mensch nur dann wirklich Mensch ist, wenn er spielt, kann man sagen: Kunst ist eine notwendige Voraussetzung für das Menschsein.
„Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist.“ (S. 24)
Die Schönheit hat zwei Wirkungen: Sie kann auflösen und anspannen. Die „schmelzende Schönheit“ ist insofern Antagonistin des Formtriebs, als sie Spannungen aufhebt. Die „energische Schönheit“ wiederum ist Gegnerin des Stofftriebs und sorgt dafür, dass sich Erschlaffung in Anspannung verwandelt. Insbesondere die schmelzende Schönheit spielt eine große Rolle dabei, den Menschen aus seinem Zwangszustand zu befreien. Sie vermag das sowohl im Bereich des Stoffs (Zwang von Empfindungen) als auch im Bereich der Form (Zwang von Begriffen).
Freiheit im ästhetischen Zustand
Der Mensch kann seine Freiheit nur erlangen, wenn er „bestimmungslos“ wird. Das bedeutet, dass seine vorgezeichnete Bestimmung in einen Schwebezustand eintritt. Stofftrieb und Formtrieb müssen sich vollständig entwickelt haben, damit sie von beiden Seiten am Menschen zerren. Wenn die Waage ausgeglichen ist und der Mensch den Zustand der Bestimmungslosigkeit erreicht hat, d. h. wenn offenbleibt, welcher Trieb die Oberhand gewinnen wird, dann kann er Freiheit empfinden.
„Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen: der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet.“ (S. 57)
Diese Freiheit ist der „ästhetische Zustand“. Der Mensch ist darin frei, weil kein Trieb ihn in die eine oder andere Richtung zieht. Er befindet sich im Zustand einer leeren Unendlichkeit, befreit von allen Schranken und jeder Notwendigkeit. Die Kunst ist zweckfrei und indifferent, daher beeinflusst auch sie ihn nicht. Sie gewährt und ermöglicht vollkommene Freiheit. In diesem „Nullzustand“ steht der Mensch am Beginn einer zweiten Schöpfung und der Verheißung, zu sein, was er sein will.
Schönheit veredelt den Menschen
Schönheit verleiht weder Klugheit noch Tugendhaftigkeit. Aber sie stärkt, regeneriert und bringt diese Kräfte zur Reife. Der Mensch kann nur dann zur Vernunft gelangen, wenn er zuvor in den ästhetischen Zustand eingetreten ist. Dies gilt, obwohl die Schönheit keinerlei direkten Einfluss auf Moral oder Verstand hat. Der ästhetische Zustand ist jedoch eine Brücke, über die der Mensch vom physischen Leben zum moralischen übertritt. Durch die Schönheit wird er veredelt und damit kann auch sein moralisches Handeln als edel bezeichnet werden. Edle Menschen sind die Voraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft.
„Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (S. 62)
Allerdings kann der Mensch den ästhetischen Zustand nur erreichen, wenn er alle materiellen Sorgen hinter sich gelassen hat. Dann erst hat er Interesse am Spiel und an der Schönheit. Der Mensch wandelt sich in drei Stufen: vom Naturzustand über den ästhetischen Zustand bis zum moralischen Zustand. Auf diesem Weg tauscht er die physische Selbstliebe gegen die Anerkennung des Wohls aller und bereitet damit der Zivilisation den Weg. Erst wird er von der Natur beherrscht, dann lernt er, die Natur zu beherrschen. Über die Erkenntnis der Schönheit befreit er sich von der Natur, gelangt zur Reflexion und wird ein Erkennender. In der Betrachtung des schönen Kunstwerks fließen sein Denken und Empfinden ineinander, sodass sich die Kluft zwischen ihnen auflöst. Aus dem ästhetischen Zustand entsteht so der ästhetische Staat, der – wenn er voll ausgebildet ist – moralisch uneingeschränkt gut genannt werden kann.
Zum Text
Aufbau und Stil
Schiller entwickelt seine Vorstellung eines „ästhetischen Staates“ in fünf Schritten. Zunächst lenkt er den Blick auf die Probleme seiner Zeit (Briefe 1–10). Die folgenden fünf Briefe beschreiben den Menschen als Triebwesen und offenbaren die Rolle der Schönheit. In den Briefen 16–18 nimmt sich Schiller verschiedener Spielarten der Triebe und der Ästhetik an. Den Kern seiner Anthropologie bilden die Briefe 19–23: Hier wird die Aufgabe der Kultur zur Bildung und Veredelung des Menschen formuliert. Die restlichen vier Briefe widmen sich einem utopischen Staat. Am Übergang zum elften Brief ändert sich Schillers Textstrategie: Nach der Feststellung, dass er mit historischen Beispielen die Bedeutung der Kunst für den freien Staat nicht beweisen kann, setzt er zu einer abstrakten Beweisführung an. Fortan geht es ihm nur noch um das Ideal, nicht mehr um die Wirklichkeit. Im Gegensatz zu seinen belletristischen Werken bedient sich Schiller hier einer philosophischen Sprache, die ungleich schwerer zu verstehen ist. Allerdings schimmert immer wieder der Dichter durch: in bildhaften, treffenden Analogien und einem geschickten Frage-Antwort-Spiel, das es zum Vergnügen macht, seinen Gedanken zu folgen.
Interpretationsansätze
- Schiller kritisiert die Folgen der Französischen Revolution. Für ihn kann kein Mensch Bürger einer Republik werden, dem das Wesentlichste – nämlich das Menschliche – abgeht. Genau diese Diskrepanz erkannte er in den Gräueltaten des postrevolutionären Frankreich. Was er vorschlägt, ist die langsame, behutsame und gewaltlose Volkserziehung. Mit anderen Worten: Evolution statt Revolution.
- Überdies übt Schiller harsche Kritik an der Aufklärung: Gerade die „zivilisierten“ Klassen seien zwar aufgeklärt, aber nur dem Buchstaben nach. Rationalismus alleine würde die Menschheit nicht weiterbringen.
- Mit seiner schonungslosen Zeitkritik nähert er sich zunächst Jean-Jacques Rousseau an und stimmt dessen These zu: Die Zivilisation verdirbt den Menschen. Insbesondere die fortschreitende Arbeitsteilung, die seiner Meinung nach zu Entfremdung und Vereinzelung führt, ist ihm ein Dorn im Auge. Rousseaus Ruf „Zurück zur Natur“ mag er sich aber nicht anschließen; dies hätte seiner Meinung nach bloß eine Spaltung der Menschen in „Wilde“ und „Barbaren“ zur Folge.
- Die Entwicklung vom Notstaat zum Vernunftstaat ist nicht in einem Menschenleben abzuschließen: Schillers Ideal ist bis heute nicht verwirklicht. Seinen Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen und dessen Entwicklungsmöglichkeiten würde er aber vermutlich auch heute noch aufrechterhalten.
- Schillers Briefe sind im besten Sinne universalwissenschaftlich. Sie behandeln Probleme, die wir heute verschiedensten Disziplinen zuordnen würden: der Politik und Soziologie (politische Freiheit), der Ästhetik (Konstitution des Schönen), der Pädagogik (Erziehung des Menschen) und der Bewusstseinsphilosophie (Denken und Empfindung).
- Manche sehen in den Briefen eine nachträgliche Rechtfertigung des Feudalsystems. Tatsächlich kann Schiller mit seiner Verachtung der „niedern und zahlreichern Klassen“ und ihrer Gewaltexzesse einen gewissen Dünkel nicht verhehlen.
Historischer Hintergrund
Die Französische Revolution aus deutscher Sicht
Am 14. Juli 1789 kam es in Paris zum berühmten Sturm auf die Bastille, der den Beginn der Französischen Revolution markierte. Von Paris aus setzten sich die Ausschreitungen gegen den Adel in den Provinzen Frankreichs fort. Viele Adlige mussten ins Ausland fliehen. In der Hauptstadt bildete sich eine provisorische Regierung, die mehrere Reformen ausarbeitete, u. a. die Menschen- und Bürgerrechte verkündete und den Erbadel abschaffte. Die Revolution radikalisierte sich, nachdem der politische Klub der Jakobiner unter Maximilien de Robespierre das Heft in die Hand genommen hatte. Dennoch sah man diese in deutschen Landen noch überwiegend positiv. Auch Schiller war zunächst ein glühender Anhänger der Revolution. Das Gleiche galt für Friedrich Gottlieb Klopstock. Geheimrat Goethe sah das ganz anders: Seine berühmten Worte „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ galten nicht etwa der Französischen Revolution, sondern der preußischen Armee, die bei der so genannten Kanonade von Valmy am 20. September 1792 in einer Front mit Österreich gegen Frankreich kämpfte. Die Revolution hatte zu diesem Zeitpunkt in eine Schreckensherrschaft gemündet, und mehrere europäische Staaten bildeten eine Allianz gegen die aufständische Nation. Die Jakobiner machten regen Gebrauch von der Guillotine: Bis sie 1794 durch eine Direktoriumsregierung ersetzt wurden, fielen ihrer Herrschaft rund 40 000 Menschen zum Opfer. Nicht nur Schiller, sondern fast die gesamte geistige Elite Deutschlands lehnte diese barbarischen Auswüchse ab. Die Empörung erreichte ihren Höhepunkt, als am 21. Januar 1793 König Ludwig XVI. in Paris hingerichtet wurde.
Entstehung
Im Mai 1791 machte ein Gerücht die Runde und drang bis nach Dänemark: Schiller sei tot. Das stimmte sogar beinahe: Eine schwere Lungen- und Rippenfellentzündung warf den Dichter nieder, eine Erkrankung, von der er sich nie mehr richtig erholen sollte. Verpflichtungen als Historiker in Jena, die ihm viel Ehre, aber kaum Geld einbrachten, und seine umtriebige Tätigkeit als Schriftsteller, Herausgeber und Publizist forderten ihren Tribut. Dazu gesellte sich die Furcht, andauernd am Rande des Bankrotts zu leben. Schiller kam es wie eine Erlösung vor, als er 1791 vom Herzog Friedrich Christian von Augustenburg und dem Grafen Ernst Heinrich von Schimmelmann ein mit 3000 Talern dotiertes Stipendium über drei Jahre erhielt.
Auf Anraten seines guten Freundes Christian Gottfried Körner begann Schiller mit der Lektüre der Werke des deutschen Philosophen Immanuel Kant, insbesondere der ästhetischen Schriften. Zwar wurde das Studium von Arbeit und Krankheit immer wieder unterbrochen, dennoch plante Schiller eine Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik für das Frühjahr 1793 unter dem Titel Kallias oder über die Schönheit. Das Werk blieb jedoch ein Fragment. Schiller erarbeitete eine Theorie des Schönen, von der er Ansätze in seinen Aufsätzen Über Anmut und Würde sowie Vom Erhabenen veröffentlichte. Ihre eigentliche Ausformung erfuhren diese Ideen schließlich in einer Reihe von Briefen an seinen Mäzen, den Herzog Friedrich Christian. Schiller schickte sie ihm zwischen Februar und Dezember 1793. Die meisten dieser Briefe wurden Anfang 1794 bei einem Feuer im Schloss Christiansborg in Kopenhagen vernichtet. Schiller gelobte, die Schriften wiederherzustellen, allerdings verschoben sich die Akzente. Aus den Augustenburger Briefen wurden die Briefe über die ästhetische Erziehung, die Schiller 1795 in mehreren Ausgaben seiner Kulturzeitschrift Die Horen veröffentlichte.
Wirkungsgeschichte
Schiller selbst hielt die Briefe über die ästhetische Erziehung „für das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe“. Tatsächlich erhielt er für das Werk viel Lob und Zustimmung. Für die Freundschaft zwischen ihm und Goethe waren sie ein wichtiger Kitt. Goethe hatte einen Gesinnungsgenossen gefunden und schrieb nach Durchsicht des Textes an Schiller: „Das mir übersandte Manuskript habe ich sogleich mit großem Vergnügen gelesen; ich schlürfte es auf einen Zug hinunter.“ Ebenso euphorisch war später Schiller-Biograf Gustav Schwab; er bezeichnet die Briefe als „Lebenskodex eines großen Geisterpaars“. Friedrich Hölderlin plante in Anlehnung an Schiller sogar eigene Neue Briefe über die ästhetische Erziehung, die allerdings nie geschrieben wurden. Er warf Schiller jedoch vor, dass er zu sehr an Kant geklebt habe. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wiederum ordnete Schillers Ästhetik in eine Entwicklung ein, die von Kant über Schelling zu ihm selbst fortschreite. Kritik erntete Schiller von Johann Gottlieb Fichte, der dem Dichter genau jene Mängel vorwarf, aufgrund derer Schiller einen Text Fichtes für Die Horen abgelehnt hatte: „Ihre philosophischen Schriften sind gekauft, bewundert, angestaunt, aber, soviel ich merke, weniger gelesen und gar nicht verstanden worden. Jeder lobt, so sehr er kann, aber er hütet sich wohl vor der Frage, was denn eigentlich darin stehe.“ Dennoch: Bis heute gelten die Briefe als das wichtigste theoretische Fundament für die Ästhetik der Weimarer Klassik.
Über den Autor
Friedrich Schiller wird am 10. November 1759 in Marbach am Neckar als Sohn eines Offiziers geboren. Auf Befehl des württembergischen Landesherrn Karl Eugen wird er in dessen Eliteschule in Stuttgart aufgenommen. Schiller behagt der militärische Drill im Internat überhaupt nicht, wenngleich die Lehrkräfte und die Ausbildung hervorragend sind. Er studiert zunächst Jura und dann Medizin. Viel stärker lockt den jungen Mann aber die Schriftstellerei. Mehr oder weniger heimlich schreibt er sein erstes Drama Die Räuber, das 1782 in Mannheim uraufgeführt wird. Als er gegen den Willen Karl Eugens die Landesgrenzen überschreitet, wird er mit Haft und Schreibverbot bestraft. Schiller entzieht sich dem Zwang durch neuerliche Flucht und setzt seine schriftstellerische Arbeit fort. Die frühen Dramen erscheinen: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784). Unter ständiger Geldnot leidend, zieht er 1785 zu seinem Freund und Gönner Christian Gottfried Körner nach Sachsen, wo er u. a. die durch Beethovens Vertonung bekannt gewordene Ode An die Freude sowie den Dom Karlos (1787) schreibt. Aufgrund seiner viel beachteten Studie Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande schlägt Goethe ihn 1788 für den Lehrstuhl für Geschichte in Jena vor. Hier verfasst Schiller seine ästhetischen und historischen Schriften und heiratet 1790 Charlotte von Lengefeld. Nach seinem Umzug nach Weimar im Jahr 1799 schließt Schiller Freundschaft mit Goethe. Daraus ergibt sich eine der fruchtbarsten Dichterbekanntschaften aller Zeiten: In der Nähe Goethes beendet Schiller sein erstes klassisches Geschichtsdrama, die Wallenstein-Trilogie. Es folgen Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans (beide 1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1804), aber auch ein umfangreiches lyrisches Werk. 1802 erhält er den Adelstitel. Seine schlechte körperliche Konstitution zwingt ihn immer wieder aufs Krankenlager. Am 9. Mai 1805 stirbt Schiller in Weimar.
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