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Über die Seele

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Über die Seele

Reclam,

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10 Take-aways
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Was ist drin?

Einer der Grundlagentexte der abendländischen Philosophie.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Griechische Antike

Worum es geht

Ein ganzheitliches Menschenbild

Nach Aristoteles ist unsere Lebenswelt hierarchisch aufgebaut: Auf der untersten Stufe stehen die Pflanzen, die ein rein vegetatives Dasein führen, darauf folgen die Tiere mit ihren sinnlichen Fähigkeiten, und an der Spitze dieses wohlgeordneten Kosmos steht der Mensch, der allein Denkvermögen besitzt. Wie aber gelangen wir zur Erkenntnis? Wie wirken Körper und Geist, Sinneseindrücke und Intellekt zusammen? Aristoteles distanziert sich in dieser Frage klar von seinem Lehrer Platon, der Geist und Körper als voneinander getrennte Einheiten dachte. Er entwickelt in seiner psychologischen Hauptschrift eine eher biologistische, ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen und seiner Seele, in der sinnliche Wahrnehmung und geistige Aktivität aufs Engste miteinander verwoben sind. Mag uns sein Optimismus in Bezug auf die Verlässlichkeit unserer Sinneseindrücke auch naiv erscheinen, so ist seine Verquickung von Materiellem und Mentalem im Licht der heutigen Hirnforschung hochaktuell und liefert Philosophen nach wie vor jede Menge Diskussionsstoff.

Take-aways

  • Aristoteles’ Schrift Über die Seele zählt zu den meistdiskutierten Texten der Philosophiegeschichte.
  • Inhalt: Die Seele ist das Lebensprinzip überhaupt. Sie ist die Vollendung des Körpers, der potenziell die Möglichkeit zu leben besitzt. Erst die Seele macht aus dem Körper ein Lebewesen. Pflanzen, Tiere und Menschen haben unterschiedliche Seelenfunktionen. Der Mensch allein verfügt über Denkvermögen und eine entsprechende Seele.
  • Über die Seele ist nicht Psychologie im heutigen Sinn, sondern eine naturwissenschaftliche Abhandlung.
  • Anders als Platon kennt Aristoteles kein unabhängiges Reich der Ideen. Körper und Geist, sinnliche Wahrnehmung und Intellekt bilden für ihn eine unauflösliche Einheit.
  • Im Unterschied zu älteren Philosophen hält Aristoteles die Seele für vergänglich.
  • In der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist nimmt Aristoteles eine Sonderposition ein zwischen den Materialisten und den Idealisten.
  • Im Mittelalter zählte Über die Seele zu den kanonischen Werken.
  • Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft im 17. Jahrhundert galt Aristoteles’ Seelenlehre als überholt; heute erlebt sie eine Renaissance.
  • Mit ihrer Gegenposition zum Leib-Seele-Dualismus, wie ihn vor allem Descartes vertrat, steht die aristotelische Seelenlehre heute für eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen.
  • Zitat: „Deshalb ist die Seele die erste vollendete Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt.“

Zusammenfassung

Was ist die Seele?

Wenn wir unsere Kenntnis über die Natur erweitern wollen, müssen wir uns mit der Seele befassen: Sie ist das Prinzip der Lebewesen überhaupt. Dabei ist es schwierig, Gewissheit darüber zu erlangen, was die Seele eigentlich ist; die Meinungen der Philosophen gehen auseinander. Einig sind sie sich nur darin, dass die Seele sich durch Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit definiert. Zunächst einmal gilt es also zu fragen, welche Funktionen die Seele hat, ob sie qualitativ oder quantitativ bestimmbar ist, ob sie nur eine Möglichkeit darstellt oder etwas Reales, ob sie teilbar ist und ob es verschiedene Gattungen, etwa eine Menschen-, eine Hunde- oder eine Pferdeseele gibt. Zugleich ist zu untersuchen, wie Körper und Seele miteinander zusammenhängen, da sich Affekte wie Hass, Freude, Zorn ja auch in körperlichen Reaktionen zeigen. Sind verschiedene Teile der Seele für verschiedene Affekte zuständig? Was aber sorgt dann letztlich für die Einheit und den Zusammenhalt der Seele? Der Körper jedenfalls nicht, vielmehr ist es ja die Seele, die diesen zusammenhält, denn ohne sie zerfällt er. Es scheint eher so, als ob die Seele selbst ihre Einheit herstellt.

Das Verhältnis von Körper und Seele

Die oft gestellte Frage, ob Körper und Seele eine Einheit bilden, ist widersinnig. Genauso absurd wäre es zu fragen, ob ein Gegenstand und die Materie, aus der er besteht, eins sind, zum Beispiel Wachs und die in es eingeprägte Form. Da die Ausdrücke „Einheit“ und „Sein“ nicht fest definiert sind und hier nur Verwirrung stiften, ist es besser, die Seele als „vollendete Wirklichkeit“ zu bezeichnen, als Vollendung eines natürlichen Körpers, in dem potenzielles Leben angelegt ist. Sie macht das Wesen eines Dings aus. Wäre das Beil ein natürlicher Körper, so wäre seine Seele das Spalten. Wäre das Auge ein natürlicher Körper, so wäre seine Seele das Sehen. Ebenso wie erst die Materie des Auges und das Sehvermögen zusammen das Wesen des Auges ausmachen, bilden Körper und Seele zusammen das Lebewesen.

„Es scheint aber, dass (...) alle Affekte der Seele mit dem Körper verbunden sind: Zorn, Milde, Furcht, Mitleid, Mut, ferner Freude, Lieben und Hassen. Denn zugleich mit diesen erleidet der Körper etwas.“ (S. 11)

Was das Beseelte vom Unbeseelten unterscheidet, ist Leben. Von Leben aber kann nur die Rede sein, wenn mindestens eine der folgenden vier Voraussetzungen gegeben ist: Denkvermögen, Sinneswahrnehmung, Bewegungsvermögen sowie Ernährung. Letzteres ist die Grundvoraussetzung für Leben überhaupt: Alles was sich ernährt und dadurch wachsen kann, lebt. Umgekehrt kann kein Lebewesen ohne Ernährung denken, wahrnehmen oder überhaupt existieren. Die Seele ist von Natur aus Teil eines bestimmten Körpers, in dem die Möglichkeit angelegt ist, etwas ganz Bestimmtes zu sein. Der Körper ist die Materie, die eine Möglichkeit zum Leben darstellt, die Seele dagegen die Form und damit die vollendete Wirklichkeit eines bestimmten Körpers, kurz: das, was ihn leben, wahrnehmen und denken lässt. Als Wesenheit jedes Lebewesens ist sie zugleich Ursache und Zweck seines Seins. Die Körper von Lebewesen sind nur Werkzeuge der Seele; sie existieren, ernähren, wachsen und bewegen sich nur wegen der Seele. Die Seele selbst ist kein Körper, aber ohne Körper gibt es keine Seele und sie ist nicht von ihm abtrennbar. Sie stirbt zusammen mit dem Körper. Bei manchen Pflanzen und Insekten kann die Seele sogar mehrere Wirklichkeiten vollenden: Zerschneidet man ihre Körper, lebt jeder Teil für sich weiter.

Verschiedene Arten der Seele

Pflanzen haben nur die Fähigkeit zur Ernährung, das Grundvermögen der Seele. Bei Tieren kommt die Sinneswahrnehmung hinzu, sodann auch das Begehren sowie die Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden. Manche Lebewesen besitzen über diese beiden Fähigkeiten hinaus die Fähigkeit, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Der Mensch schließlich verfügt zusätzlich noch über das Denkvermögen. Es gibt also verschiedene Arten der Seele bei Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen lassen.

„Das Beseelte scheint sich ja vom Unbeseelten besonders in zweierlei Hinsicht zu unterscheiden, durch Bewegung und durch Wahrnehmung.“ (S. 15)

Wie in der Geometrie eine Figur potenziell andere Figuren enthält, wie beispielweise im Viereck die Grundform des Dreiecks enthalten ist, so verhält es sich auch mit der Seele: In der Wahrnehmungsfähigkeit ist bereits die einfachste Grundfähigkeit zur Ernährung enthalten, denn ohne diese kann sich keine andere höhere Fähigkeit entwickeln. Ähnliche Abstufungen gibt es beim Wahrnehmungssinn: Manche Tiere können weder sehen noch hören oder riechen, doch alle sind sie im Besitz des Tastsinns, der wiederum die Voraussetzung für höher entwickelte Wahrnehmungsformen ist. Von denen aber, die über einen Wahrnehmungssinn verfügen, können sich längst nicht alle im Raum bewegen. Und dass sich ein Lebewesen im Raum bewegen kann, heißt nicht, dass es auch mit Vorstellungskraft und Denkvermögen ausgestattet ist.

„Was hält nun die Seele zusammen, wenn sie von Natur geteilt ist? Sicherlich nicht der Körper. Vielmehr scheint im Gegenteil die Seele den Körper zusammenzuhalten. Jedenfalls zerfällt er und verwest, wenn die Seele ihn verlässt.“ (S. 55)

Die grundlegende Fähigkeit, sich zu ernähren, erlaubt allen Lebewesen, sich selbst und damit die eigene Art fortzupflanzen. Durch Nahrung erhält ein Lebewesen – ob nun Tier oder Pflanze – einerseits sich selbst, andererseits wird es so zur Zeugung von etwas Gleichartigem befähigt. Damit hat es teil am Ewigen, Göttlichen, und das ist letztlich der Endzweck allen Seins und Handelns. Pflanzen haben nur diese einfachste Funktion, da sie kein Wahrnehmungsvermögen besitzen.

Das Wahrnehmungsvermögen

Das Wahrnehmungsvermögen erzeugt nicht aus sich heraus Wahrnehmungen, sondern dazu es bedarf dazu äußerer Reize – so wie ja auch etwas Brennbares nicht brennt, sofern es nicht in Brand gesetzt wird. Das heißt, es trägt die Möglichkeit des Brennens in sich, muss aber erst entzündet werden, um zu brennen und so zur vollendeten Wirklichkeit zu gelangen. Damit ein Lebewesen nun etwas wahrnimmt, also die ihm gegebene Möglichkeit des Wahrnehmens tatsächlich verwirklicht, muss etwas Wahrnehmbares, zum Beispiel etwas Sicht- oder Hörbares da sein. Darin unterscheidet sich die Wahrnehmung vom Denken, das aus uns selbst kommt und kein Äußeres braucht. Wahrnehmung dagegen kommt dadurch zustande, dass der Wahrnehmungssinn etwas Äußerliches „erleidet“. Dabei nimmt das Sinnesorgan nicht den Normalzustand, sondern nur den Gegensatz, das Extreme wahr, also zum Beispiel wenn etwas wärmer oder kälter, härter oder weicher ist als gewohnt.

„Deshalb ist die Seele die erste vollendete Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher der Möglichkeit nach Leben besitzt.“ (S. 61)

Das Wahrnehmbare entfaltet umgekehrt erst im Wahrnehmungsvermögen seine Wirksamkeit. Wenn etwas erschallt, aber nicht gehört wird, dann handelt es sich eben nur um einen Schall-Akt. Erst wenn etwas, was potenziell Hörvermögen besitzt, wirklich hört und den Schall wahrnimmt, wenn also das Wahrnehmende durch das Wahrnehmungsobjekt in Bewegung versetzt wird, etwas erleidet, eine Änderung erfährt, dann handelt es sich um einen Hör-Akt. Wahrnehmbares und Wahrnehmungsvermögen sind dem Wesen nach verschiedene Dinge, die Verwirklichung des Wahrnehmbaren aber ist dasselbe wie die Verwirklichung des Wahrnehmungsvermögens. Schall und Hören, Geschmack und Schmecken sind also gewissermaßen eins. Dennoch irren die Philosophen, die behaupten, ohne Sehen gäbe es keine Farben und ohne Hören keinen Schall; sie urteilen zu pauschal. Man muss genauer hinsehen: Potenziell, also als Möglichkeit, existieren beide getrennt voneinander, als Verwirklichung indes gibt es sie nur zusammen.

Die einzelnen Sinne

Wir unterscheiden fünf Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Jeder einzelne von ihnen hat eine bestimmte, unverwechselbare Funktion: Der Hörsinn nimmt durch das Medium der Luft oder des Wassers Schall, der Sehsinn unter Mitwirkung des Lichts Farben, der Geschmackssinn Geschmack, der Geruchssinn Geruch wahr. Eine Ausnahme bildet der Tastsinn, der Vielfältiges zu erfassen in der Lage ist. Größe, Gestalt, Zahl, Bewegung sind Eigenschaften, die sich verschiedenen Sinnen, nicht nur einem einzigen, zuordnen lassen. So kann man Bewegung beispielsweise sowohl sehen als auch ertasten.

„Wir sagen also, indem wir einen neuen Anfang der Untersuchung machen, dass das Beseelte sich vom Unbeseelten durch das Leben unterscheidet.“ (S. 65)

Während der Hör-, Seh- und Geschmackssinn sich jeweils auf die Wahrnehmung gewisser Gegensätze wie laut oder leise, hell oder dunkel, süß oder bitter beschränken, ist der Tastsinn, ohne den es keine andere Wahrnehmung geben kann, vielfältiger: Er unterscheidet trocken oder feucht, warm oder kalt, hart oder weich und vieles mehr. Anders als Hör-, Seh- und Geschmackssinn, die nur dem Wohlbefinden dienen, ist der Tastsinn überlebensnotwendig. Von allen Lebewesen hat der Mensch den besten und genauesten Tastsinn, weshalb er auch das vernünftigste unter ihnen ist, während im Hinblick auf andere Sinne viele Tierarten dem Menschen überlegen sind. Ein ausgeprägter, empfindlicher Tastsinn geht auch innerhalb der Gruppe der Menschen mit einer höheren intellektuellen Begabung einher.

„Die Seele ist also Ursache und Prinzip des lebenden Körpers.“ (S. 77)

Nun stellt sich die Frage, ob es im Innern der Lebewesen ein spezielles Organ für den Tastsinn gibt oder ob die Wahrnehmung direkt über das Fleisch stattfindet. Beim Schall, beim Geruch und bei den Farben gelangt das Wahrzunehmende, indem es sich durch das Medium Luft oder Wasser bewegt, über eine gewisse Distanz zum jeweiligen Sinnesorgan; beim Tasten dagegen ist die unmittelbare Berührung des Gegenstands nötig. Das Medium ist daher der Körper selbst, der jeweilige Körperteil, das Fleisch. Darin sind der Tastsinn und der Geschmackssinn verwandt: Die Zunge muss ja auch den Gegenstand berühren, um etwas zu schmecken. Bei jeder Wahrnehmung eines Gegenstands nehmen wir im Übrigen sozusagen beiläufig auch noch weitere begleitende Eigenschaften wie Bewegung oder Ruhe, Gestalt, Größe und Zahl war. Dafür aber besitzen wir kein eigenes Sinnesorgan.

Das Denkvermögen

Denken ist im Grunde auch eine Art des Wahrnehmens: Im einen wie im anderen Fall muss die Seele etwas Seiendes erkennen und beurteilen. Nicht umsonst fassen beispielsweise Empedokles und Homer Denken und Begreifen ebenso wie Wahrnehmen als körperliche Tätigkeiten auf. Dennoch ist beides nicht das Gleiche, was schon die Tatsache beweist, dass nicht alle wahrnehmungsfähigen Lebewesen auch zu denken in der Lage sind, sondern nur die wenigen, die über Verstand verfügen. Das Denken beruht auf Vorstellungen. Bei diesen handelt es sich um etwas anderes als Wahrnehmungen, auch wenn sie diesen ähnlich sind und niemals ohne diese zustande kommen. Alle Abstraktionen und Begriffe gehen auf sinnlich wahrnehmbare Formen zurück. Wenn man etwas im Geiste betrachtet, so betrachtet man es immer als Vorstellungsbild, das wie ein immaterielles Wahrnehmungsbild ist. Deshalb ist es unmöglich, ohne die Wahrnehmung etwas zu lernen oder zu verstehen.

„Denn das Sinnesvermögen funktioniert nicht ohne Körper, der Geist aber ist von ihm getrennt.“ (S. 151)

Vorstellungen existieren unabhängig von einem Wahrnehmungsobjekt und auch vom Wahrnehmungsvermögen. Der äußere Gegenstand muss nicht vorhanden sein, damit ich ihn mir mittels der Vorstellungskraft vor Augen führen kann. Vorstellungen kann man kontrollieren und bewusst hervorrufen, Wahrnehmungen dagegen nicht. Und: Sinneswahrnehmungen sind meistens wahr – zumindest was den Wesenskern eines Wahrnehmungsobjekts betrifft, etwa seine Farbe oder seine Süße. Nur bei zufälligen Eigenschaften wie Bewegung oder Größe unterliegen wir öfter Täuschungen. Vorstellungen hingegen – wie auch die aus ihnen hervorgehenden Annahmen und Meinungen – können richtig oder falsch sein.

„Bezüglich des Erleidens infolge eines Gemeinsamen wurde schon früher dargelegt, dass der Geist der Möglichkeit nach auf irgendeine Art und Weise die denkbaren Dinge ist, der Verwirklichung nach aber keines, bevor er sie denkt; ‚der Möglichkeit nach‘ meint wie auf einer Schreibtafel, auf der in Wirklichkeit noch nichts geschrieben ist.“ (S. 153)

Wie funktioniert nun das Denken? Anders als die Sinneswahrnehmung, die an den Körper und an das Vorhandensein eines Wahrnehmungsgegenstands gebunden ist, ist der Teil der Seele, der denkt und erkennt, vom Körper getrennt und unabhängig vom Denkobjekt. So wie eine Schreibtafel, auf der nichts steht, auf der aber alles geschrieben werden kann, so sind im Geist potenziell alle Denkobjekte vorhanden, die aktualisiert, also vergegenwärtigt werden müssen, um zur Verwirklichung zu gelangen. Denken ist die Vergegenwärtigung von latent in uns vorhandenem Wissen. In dieser Hinsicht ähnelt der Geist dem Licht, das aus möglichen Farben erst wirkliche Farben macht. Der verwirklichte Geist ist dann mit den Dingen, die er denkt, identisch, so wie ja auch die verwirklichte Wahrnehmung mit dem identisch ist, was wahrgenommen wird.

Die Seele als Sitz allen Antriebs

Alle Bewegung kommt dadurch zustande, dass Lebewesen etwas erstreben oder meiden. Der praktische Geist – den wir abgrenzen vom rein betrachtenden Geist – erstrebt einen Zweck, eine Handlung und verursacht dadurch Bewegung. Nur Lebewesen, die zum Streben fähig sind, können sich überhaupt bewegen. Bei den höher entwickelten Wesen ist das Streben der Vernunft die treibende Kraft, bei den meisten Tieren dagegen die der Wahrnehmung entspringende Begierde. Aber auch unbeherrschte Menschen handeln nach ihrer Begierde. Der Beherrschte dagegen folgt gegen alle Begierden stets der Vernunft.

Zum Text

Aufbau und Stil

Über die Seele gliedert sich in drei Bücher, die ihrerseits in mehrere Kapitel unterteilt sind. Das erste Buch befasst sich zu einem großen Teil mit den Ansichten älterer Philosophen über die Seele und äußert Kritik an ihnen. Im zweiten Teil liefert Aristoteles seine Definition der Seele als das Lebensprinzip überhaupt. Darauf befasst er sich mit den verschiedenen seelischen Fähigkeiten und Funktionen. Aristoteles’ Sprache ist auf einem hohen Abstraktionsniveau und ohne Kenntnis zentraler Begriffe wie etwa „Substanz“ oder „Form“ nur schwer verständlich. Häufig zieht er Parallelen zur Mathematik, speziell zur Geometrie. Durch Beispiele aus dem alltäglichen Leben gelingt es ihm jedoch immer wieder, seine Theorie etwas zu veranschaulichen.

Interpretationsansätze

  • Bei Aristoteles’ Seelenkunde handelt es sich nicht um Psychologie im heutigen Sinn, sondern, wie er selbst betont, um eine naturwissenschaftliche Disziplin, die sich mit den verschiedenen organischen Formen des Seins und ihren vitalen Funktionen befasst.
  • Aristoteles entwirft das Bild eines wohlgeordneten, hierarchischen Kosmos. Er behandelt zunächst die niedere, rein vegetative Daseinsform der Pflanzen, um sich im weiteren Verlauf über die Tiere und ihre sinnlichen Fähigkeiten bis zum Menschen, der als einziges Wesen über Denkvermögen verfügt, an die Spitze der Hierarchie vorzuarbeiten.
  • Aristoteles geht davon aus, dass die Eindrücke, die unsere Sinne uns liefern, im Großen und Ganzen ein realistisches Abbild der Welt liefern. Skeptizismus und Relativismus späterer Denker sind ihm vollkommen fremd.
  • Zentral für das Verständnis von Aristoteles’ Psychologie ist der Begriff der Entelechie, im Griechischen etwa „Vollendung“. Aristoteles versteht das Seelische als zielgerichtete Entwicklung und Verwirklichung eines Körpers, in dem die Möglichkeit zum Leben bereits angelegt ist. Die Seele ist damit quasi das Lebendigsein eines Lebewesens.
  • In der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist nimmt Aristoteles eine Sonderposition ein zwischen den reinen Materialisten, die die Existenz der Seele leugnen oder sie als Teil des Körpers betrachten, und den Idealisten, die ihr eine eigenständige Existenz zubilligen. Die Seele hat sowohl vegetative als auch sinnliche und geistige Funktionen. Der Mensch stellt in dieser naturalistischen, ganzheitlichen Sicht eine physisch-psychologische Einheit dar.
  • Anders als Platon lehnt Aristoteles zwar den Gedanken eines Dualismus zwischen Körper und Geist ab, zieht aber doch einen klaren Trennstrich zwischen der Sinneswahrnehmung, die an den Körper gebunden ist, und der unkörperlichen, unteilbaren freien Vernunft Bei näherer Betrachtung nehmen jedoch die Vorstellungen eine wichtige Vermittlerrolle ein: Sie speichern Sinneseindrücke und stellen sie dem Denken zur Verfügung. Der Geist erschafft sich seine Objekte nicht, sondern arbeitet mit Bildern, die er über die sinnliche Erfahrung gewonnen hat.
  • Was hier nur angedeutet wird, führt Aristoteles in anderen Schriften breiter aus: Die Unterscheidung zwischen einem aktiven und einem passiven Geist, der die Formen der Dinge aufnimmt. Sein Konzept vom aktiven Geist, der Ursache jeder Tätigkeit und – im Gegensatz zur individuellen Seele – unsterblich ist, ist bis heute höchst umstritten.

Historischer Hintergrund

Der Leib-Seele-Dualismus in der Antike

Die antike griechische Philosophie suchte nach den Prinzipien allen Seins, indem sie die belebten von den unbelebten Dingen unterschied. Die Seele (griechisch „psyche“) galt dabei als das Lebensprinzip schlechthin. So erkannten die vorsokratischen Naturphilosophen darin den Urstoff, der allem Lebendigen innewohnte und der letztlich mit Gott gleichzusetzen sei. Gegen dieses pantheistische Weltbild vertraten die Atomisten unter ihren Meistern Leukipp und Demokrit eine konsequent materialistische Sicht, in der auch die Seele als Teil der stofflichen, körperlichen Welt galt. Sie stellten sich die Seele als ein aus lauter sehr feinen Atomkügelchen zusammengesetztes Gebilde vor und erteilten damit allen metaphysischen Erklärungen eine klare Absage.

Diesem rein materialistischen Ansatz der Atomisten setzte Platon, in dessen Philosophie der Begriff der Seele eine zentrale Rolle spielt, seine Vorstellung einer von der materiellen Welt getrennten, unvergänglichen, ideellen Welt entgegen. Für Platon repräsentieren die Ideen jeweils einen bestimmten Sachverhalt. So gibt es die Idee des Schönen oder die Idee des Guten, die das Schönsein oder das Gutsein sozusagen in Reinform verkörpern und erklären, was dieses eigentlich ist. An dieser selbstständigen Ideenwelt, die neben der sinnlich erfahrbaren Welt existiert, hat der Mensch dank seiner unsterblichen Seele teil, die die Grundlage all seiner Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Begierden ist und den Körper erst lebendig macht.

Wie schon die Vorsokratiker Pythagoras und Empedokles vertrat auch Platon die Theorie der Reinkarnation. Der Körper, so erklärt er in seinem Phaidon, ist wie alle Materie vergänglich und stellt nur das vorübergehende Gefängnis der Seele dar. Sobald er stirbt, verlässt sie ihn und kehrt in ihre eigentliche Heimat, die himmlischen Sphären, zurück. Ihrem Wesen nach ist sie unsterblich, unauflösbar und unveränderlich, sie geht vom Lebendsein zum Todsein und bei der Geburt vom Tod wieder zum Leben zurück.

Mit seiner Vorstellung einer immateriellen Seele, die er dem materiellen Körper entgegensetzte, schuf Platon ein Problem, das die Philosophie über Jahrhunderte beschäftigte: Welche Verbindung besteht zwischen dem sterblichen Leib und der unkörperlichen Seele? Wie hat man sich konkret das Verhältnis zwischen körperlicher Wahrnehmung und rein geistiger, intellektueller Tätigkeit vorzustellen?

Entstehung

Der junge Aristoteles scheint noch das dualistische Leib-Seele-Konzept seines Lehrers Platon vertreten zu haben. Darauf deutet sein zwischen 353 und 347 v. Chr. entstandener Dialog Eudemos hin, der sich noch stark an Platons Phaidon anlehnt, auch wenn an keiner Stelle ausdrücklich von einem Weiterleben der Seele die Rede ist. Im Lauf seiner weiteren philosophischen Tätigkeit begann Aristoteles, Platons Vorstellung von den Ideen als eigenständigen Formen abzulehnen und seine eigene, vollkommen untranszendentale und biologistische Theorie der Seele zu entwickeln. In mehreren kleineren Schriften, in denen er auch mehrfach Bezug auf Über die Seele nimmt, wandte er sich Phänomenen wie der Wahrnehmung, dem Gedächtnis, dem Schlafen und dem Wachsein zu. Über die Seele, seine Hauptschrift über derlei Fragen, verfasste Aristoteles wahrscheinlich während seines zweiten längeren Aufenthalts in Athen zwischen 335 und 322 v. Chr.

Wirkungsgeschichte

In der griechischen Antike wurde Aristoteles nur als ein Philosoph unter vielen wahrgenommen. Erst nach der Wiederentdeckung seiner Schriften in Europa auf dem Weg über die islamische Welt im zwölften Jahrhundert erlangten die aristotelische Systematik und Methodik eine Vormachtstellung: Während fast des gesamten Mittelalters galt Aristoteles als der Philosoph schlechthin, an den europäischen Universitäten gehörte seine Seelenlehre als Teil der Naturphilosophie zu den kanonischen Lehrinhalten.

Nachdem Denker wie Isaac Newton, Francis Bacon und René Descartes im 17. Jahrhundert die modernen Wissenschaften begründet hatten, wurde der Vorwurf gegen Aristoteles laut, er vertrete ein rein spekulatives und statisches Weltbild. Spätestens ab dem 19. Jahrhundert wurde jedoch gerade seine Schrift Über die Seele wieder vermehrt rezipiert und zählt heute zu den meistdiskutierten Texten der Philosophiegeschichte. Ab den 1970er-Jahren erlebte die aristotelische Seelenlehre, auf die sich etwa der amerikanische Philosoph Hilary Putnam explizit beruft, eine wahre Renaissance. In der neueren Philosophie des Geistes bietet sie eine Alternative zu Descartes’ Dualismus. Aristoteles tritt als Gewährsmann für eine ganzheitliche Sichtweise auf, in der mentale Zustände nicht nur als geistige, vom Körper unabhängige Prozesse, sondern als Wahrnehmungen und Funktionsweisen des gesamten Organismus betrachtet werden.

Über den Autor

Aristoteles wird 384 v. Chr. in Stageira auf der makedonischen Halbinsel Chalkidike geboren. Er entstammt einer angesehenen Familie und hat von früher Jugend an Zugang zum naturwissenschaftlichen Wissen seiner Zeit. Sein Vater ist Leibarzt des makedonischen Königs. Auch Aristoteles soll Arzt werden und beginnt bereits als Jugendlicher seine Studien an Platons Akademie in Athen. Dort verbleibt er fast 20 Jahre, erst als Schüler, später als Forscher und Lehrer. Als nach Platons Tod dessen Neffe Speusippos zum Nachfolger bestimmt wird, verlässt Aristoteles Athen und geht ins kleinasiatische Assos (in der heutigen Türkei) an den Hof des Hermias, eines früheren Mitschülers, mit dem er befreundet ist. Er heiratet dessen Nichte und Adoptivtochter Pythias. Fünf Jahre später, 342 v. Chr., wird Aristoteles zurück an den Hof Philipps von Makedonien gerufen, um den jungen Kronprinzen Alexander, der später als „der Große“ in die Geschichte eingehen wird, zu unterrichten. Nach der Ermordung Philipps wird Alexander 335 v. Chr. makedonischer König, und Aristoteles kehrt nach Athen zurück, wo er das Lykeion gründet. Diese Bildungsstätte wird auch als die Schule der Peripatetiker (Wandelschule) bekannt, weil die Gespräche zwischen Schülern und Lehrern oft beim Spazieren in den schattigen Laubengängen auf dem Schulgelände stattfinden. Aristoteles befasst sich mit fast allen Wissenschaften und Künsten, er verfasst Werke zu so unterschiedlichen Wissensgebieten wie Physik, Chemie, Biologie, Zoologie, Botanik, Psychologie, Politikwissenschaft, Metaphysik, Ethik, Logik, Geschichte, Literatur und Rhetorik und setzt dabei auf mehreren Gebieten wichtige Grundpfeiler für die westliche Philosophie. Nach Alexanders Tod im Jahr 323 v. Chr. muss Aristoteles Athen wegen der starken antimakedonischen Stimmung verlassen. Wie vor ihm Sokrates wird er offiziell der Gottlosigkeit angeklagt. Daraufhin zieht er sich auf das Landgut seiner Mutter in Chalkis auf der griechischen Insel Euböa zurück. Dort stirbt er 322 v. Chr. im Alter von 62 Jahren.

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