Friedrich Schiller
Über naive und sentimentalische Dichtung
Reclam, 2010
Was ist drin?
Was zeichnet einen guten Dichter aus? Friedrich Schiller hatte dazu eine Theorie.
Worum es geht
Der Dichter und die Natur
Ob Homers Epen, Shakespeares Dramen oder Klopstocks Lyrik – manche Werke der Dichtkunst sind einfach unsterblich und sorgen auch Jahrhunderte nach ihrer Entstehung noch für Gänsehautmomente. Was macht diese Werke so einzigartig? Wie heben sie sich von der Masse literarischer Eintagsfliegen ab? Diesen Fragen geht Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung nach. Er definiert die Natur als Quelle und letztes Ziel aller Poesie und unterscheidet zwei Zugänge: den direkten der Nachahmung, der dem naiven Dichter offensteht, und den reflektierten der Idealisierung, den der sentimentalische Dichter wählen muss, weil er den unmittelbaren Kontakt zur Natur verloren hat. Beide Dichtertypen müssen einen zutiefst moralischen Charakter und ein offenes Herz mitbringen, um wahre Kunst erschaffen zu können. Schillers Ausführungen sind nicht frei von Widersprüchen. Doch wegen seiner ungeheuren Belesenheit, seiner stilistischen Meisterschaft und seines Gefühls für psychologische Details ist die Schrift auch heute noch lesenswert und ermöglicht mitunter einen ganz neuen Blick auf die großen Werke der Weltliteratur.
Take-aways
- Über naive und sentimentalische Dichtung zählt zu Friedrich Schillers wichtigsten kulturphilosophischen Abhandlungen.
- Inhalt: Der naive Dichter bildet die Natur durch Nachahmung ab – moderne Dichter haben diesen Zugang jedoch meistens nicht mehr. Sentimentalische Dichter entwerfen daher ein Ideal der Natur, das im Kontrast zur Wirklichkeit steht.
- Die Schrift ist eine Mischung aus literaturwissenschaftlicher Abhandlung, philosophischem Essay und Literaturkritik.
- Sie ist eine Zusammenstellung von drei Aufsätzen, die 1795 und 1796 erschienen sind.
- Schiller bezieht sich auf Beispiele aus der europäischen Literaturgeschichte und der zeitgenössischen Literatur.
- Der Dichter muss für Schiller auch moralischen Ansprüchen genügen.
- Der wichtigste Einfluss auf Schillers Theorie war Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft.
- Für die Forschung spannend ist vor allem Schillers Einschätzung, dass Goethe einer der wenigen modernen naiven Dichter sei.
- Goethe stimmte Schillers Urteil zu und setzte sich mit der Schrift auseinander.
- Zitat: „Der Dichter, sage ich, ist entweder Natur, oder er wird sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter.“
Zusammenfassung
Sehnsucht nach der Natur
Der Anblick der Natur rührt uns manchmal so tief, dass die Betrachtung eher wie ein Bedürfnis wirkt als wie ein flüchtiges Interesse. Diese Art von Empfindung wird nur durch etwas Natürliches hervorgerufen und auch nur dann, wenn dieses naiv ist, das heißt, wenn es mit der Kunst in Kontrast steht. Natur ist etwas, was aus sich selbst heraus existiert und nicht, wie die Kunst, vom Menschen geschaffen wurde. Diese Unterscheidung macht unseren Naturbegriff zu einer Idee, denn nicht der reine Anblick macht diese Art von Natur aus, sondern das Wissen, dass es sich um etwas handelt, was nach eigenen Gesetzen existiert. Wir erkennen in der Natur eine Art verlorene Kindheit: In grauer Vorzeit haben die Menschen ihr angehört und nun streben sie wieder zu diesem Zustand hin. Die in sich selbst ruhende Natur mit ihrer inneren Notwendigkeit bildet einen Gegenpol zur Wechselhaftigkeit der Menschen. Um für dieses Gefühl empfänglich zu sein, muss man ein moralischer Mensch sein.
Was ist das Naive?
Kennzeichen des Naiven ist immer, dass die Natur über die Kunst triumphiert. Dabei sind zwei Formen möglich. Das Naive der Überraschung ist eine Art von Kindlichkeit, die bei Menschen unerwartet auftritt. Das Naive der Gesinnung finden wir in Menschen, die aus sich heraus ungekünstelt sind. Die erste Form ist also unfreiwillig, während die zweite einige Menschen auszeichnet, die in ihren Urteilen einfachen natürlichen Gründen folgen. Sie beschämen ihre Umgebung mit ihren unverdorbenen Handlungen und ihren guten Taten. Zu dieser Gruppe von Menschen gehören alle wahren Genies. Sie sind verständig, bescheiden und bleiben sich selbst treu, ohne das eigene Können weiter zu analysieren. Zu diesen Genies gehören zum Beispiel Dichter wie Sophokles und William Shakespeare, aber auch Feldherren wie Julius Cäsar. Statt ihre Werke lange zu durchdenken, schaffen sie diese mit natürlicher Grazie oft beim ersten Versuch. Aus der Sehnsucht nach der Natur sollte nie folgen, dass man ununterbrochen die Übel der Kultur beklagt. Vielmehr sollte man in sich selbst nach Ruhe, Gleichgewicht und Einheit suchen. Die Rückkehr zur vernunftlosen Natur ist unmöglich, also bleibt nur der Weg, nach einem natürlichen Ideal zu streben.
Sentimentalität
Die alten Griechen haben die Natur so abgebildet, wie sie sie vorgefunden haben. Sie machten keinen Unterschied zwischen Natur und Kunst, stellten natürliche Vorgänge als Handlungen von Göttern dar und malten sie mit ihrer Fantasie aus. Dieser naive Zugang rührt daher, dass dieses Zeitalter noch tief mit der Natur verbunden war. In unserer Welt gibt es diese Verbindung nicht mehr – um der Natur zu begegnen, müssen wir die menschliche Welt verlassen. Die Natur wurde vom unmittelbar erfahrenen zum idealisierten Gegenstand. Diese Verschiebung setzte schon in der Antike ein, etwa bei Euripides oder Horaz. Die Dichter verwandelten sich von Bewahrern der Natur in Zeugen, die nach ihr suchen. Sie sind also entweder naiv oder sentimentalisch.
„Natur in dieser Betrachtungsart ist uns nichts anders, als das freiwillige Daseyn, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabhängigen Gesetzen.“ (S. 7 f.)
Die naiven Dichter wirken oft kalt und unempfindlich und man findet in ihren Werken nur schwer einen Zugang zu ihnen als Person. Sentimentalische Dichter geben viel mehr von sich preis und bringen ihr Urteil in ihre Werke ein. Beide schöpfen ihre Kraft aus der Natur – Erstere durch sinnliche Harmonie mit der Natur und durch Nachahmung der Wirklichkeit, Letztere aus dem moralischen Streben nach der Natur und der Darstellung dieses Ideals. Diese Unterschiede muss man bedenken, wenn man über antike oder moderne Dichter spricht – es wäre ungerecht, die einen oder die anderen höher zu stellen und dabei ihre völlig unterschiedlichen Ausgangslagen außer Acht zu lassen. Weil der naive Dichter in seinem Zugang zur Dichtung einfach und nachahmend ist, gibt es bei ihm nur eine Empfindungsweise – egal ob sein Werk lyrisch oder episch ist. Der sentimentalische Dichter geht weniger unmittelbar mit den Stoffen um: Er durchdenkt seine Gegenstände und setzt sie ins Verhältnis zu einer Idee. Zwischen diesen beiden Extremen – begrenzte Wirklichkeit und unendliche Idee – spielt sich sein Werk ab. Je nachdem, ob er mehr zur einen oder zur anderen Seite tendiert, ist sein Werk satirisch oder elegisch.
Satire und Komödie
Ist es satirisch, heißt das, dass der Dichter den Kontrast zwischen Wirklichkeit und Ideal darstellt. Das kann entweder ernst oder scherzhaft erfolgen. Der Dichter der ernsten, strafenden und pathetischen Satire muss vom Ideal überzeugt sein und aus moralischen Gründen handeln. Meist leben die Vertreter dieser Gruppe in verdorbenen Zeitaltern, die ihnen gar keine andere Wahl lassen, als sich gegen die Wirklichkeit aufzulehnen. Die andere Form der Satire ist die Komödie, die weniger an einen festen Gegenstand gebunden ist und durch die Schönheit der Darstellung überzeugen muss. Der komische Dichter muss viel mehr eigene Leistung erbringen, um diesem Anspruch zu genügen. Hinter den Scherzen müssen eine ernste Seele und ein schöner Charakter erkennbar sein wie etwa bei Miguel de Cervantes.
Elegie und Idylle
Während die Satire also zum Ideal strebt und in der Wirklichkeit einen Mangel erkennt, können die Werke, die eher für Natur und Wirklichkeit Partei ergreifen, elegisch genannt werden. Hier gibt es zwei Untergruppen: Die im eigentlichen Sinn elegischen Werke betrauern den Verlust der Natur, die Idylle dagegen stellt diesen verlorenen Zustand mit poetischen Mitteln wieder her. Die elegischen Dichter trauern hier nicht um einen realen Zustand, sondern um eine idealisierte, vollkommene Form der Natur, die es so nie gegeben hat. Beispiele für solche Dichter und Denker sind Jean-Jacques Rousseau und Heinrich von Kleist. Ihre Werke bringen uns nicht dazu, uns mit äußeren Gegenständen zu beschäftigen, sondern regen die Einbildungskraft an und laden zum Versinken in der eigenen Gedankenwelt ein. Aus ihren Werken sprechen nicht nur ihre unmittelbaren Empfindungen, sondern auch ihre Gedanken über diese Empfindungen.
„Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein moralisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittelbar durch Betrachtung erzeugt (…)“ (S. 8)
Die Idylle ist der Versuch, das verlorene Ideal der Natur wiederauferstehen zu lassen. Idyllen spielen meist in einer Umgebung fern der bürgerlichen Welt, zum Beispiel unter Hirten, und in einem unschuldigen Zeitalter voller Harmonie und Frieden. Dieser Zustand wird als vorkulturell vorgestellt, ist jedoch eher ein Ziel, zu dem die Menschen wieder hinstreben. Die Utopie lässt uns hoffen, dass die Übel der modernen Welt eines Tages überwunden sein werden. In vielen Dichtungen wird dieser moralisch-praktische Aspekt jedoch nicht deutlich. Die sentimentalischen Dichter hätten sich also entweder einen anderen Gegenstand wählen und die Idylle in eine zukünftige Welt verlegen sollen oder sie hätten den Hirtenstoff in einer anderen Form bearbeiten sollen. Wegen dieser Ungereimtheit wirken diese Werke weniger wertvoll: Sie stimmen den Leser nur traurig über den Verlust, anstatt die Hoffnung auf eine erstrebenswerte Zukunft zu wecken. Sie bieten Ruhe und Trost für unser Herz, aber wenig Herausforderung für den Geist.
Über die Wirkung von naiver und sentimentalischer Dichtung
Während der naive Dichter die Natur abbildet und bei ihm Mensch und Natur eins sind, muss der sentimentalische Dichter diese verlorene Einheit erst aus sich selbst heraus wiederherstellen. Ähnlich geht es dem Leser: Wenn man sich an naiver Dichtung erfreut, sind sinnliche Wahrnehmung und geistige Tätigkeit eins – die Erfahrung ist ruhig und befriedigend. Wenn wir sentimentalische Dichtung rezipieren, sind wir getrieben, in uns die Einheit und Harmonie zu erzeugen. Der Geist ist dabei ständig in Bewegung und angespannt. Der naive Dichter erschafft sein Werk beim ersten Versuch – entweder ist es sofort gelungen oder nicht. Weitere Verbesserungen sind nicht möglich. Er schöpft aus der Erfahrung und ist abhängig von dem, was ihn umgibt. Anders der sentimentalische Dichter: Er erhebt sich über die Grenzen der direkten Erfahrung und vervollständigt diese aus sich selbst.
Wirklichkeit und Wahrheit
Wenn ein naiver Dichter um sich herum nicht genug Stoff für sein Werk findet, kann er zwei Wege einschlagen: Entweder wird er sentimentalisch oder aber er begnügt sich mit dem kargen Material, das ihm zur Verfügung steht und wird selbst karg. Hier muss man unterscheiden zwischen der wirklichen und der wahren Natur – nur die wahre Natur ist Gegenstand der naiven Dichtung. Die wirkliche Natur umfasst alles Menschliche, auch die Abgründe, während die wahre Natur nur das Würdevolle und Edle beinhaltet. Solange der naive Dichter sich an die wahre Natur hält, ist sein Gegenstand beinahe nebensächlich. Wenn er das Ziel aus den Augen verliert, läuft er Gefahr, dass seine Werke platt wirken. Kaum einer der großen Dichter hat in diesem Bereich keine Fehltritte vorzuweisen: Homer, vor allem aber die Komödiendichter wie Aristophanes, Shakespeare und Molière sinken hin und wieder ins bloß Wirkliche hinab. Noch heute machen viele den Fehler, zu glauben, dass die Darstellung der Wirklichkeit ausreiche, um große Dichtung hervorzubringen. Scherzlieder, Satiren und Romane werden regelmäßig von Menschen geschrieben, die weder den richtigen Charakter noch die richtigen Ziele haben. So kommt es, dass so viele stümperhafte Werke zu finden sind.
„Naiv muss jedes wahre Genie seyn, oder es ist keines.“ (S. 19)
Der sentimentalische Dichter steigt immer über die Wirklichkeit hinaus ins Reich der Ideen und kann dabei ins Schwärmen und ins Überspannte geraten. Dieser Zustand tritt ein, wenn der Dichter nicht nur den Bereich der Realität, sondern auch den der Möglichkeit verlässt. Dabei kommt es vor, dass nur der Gegenstand der Darstellung außerhalb des Möglichen liegt, die Empfindung des Dichters jedoch wirklich ist. Diese Werke können uns trotzdem tief bewegen, denn in ihrem Mittelpunkt stehen echte moralische Empfindungen, denen man nur den Vorwurf machen kann, sich über die menschliche Wahrheit hinauszubewegen.
Die beiden Ziele der Dichtung
Gemeinhin glaubt man, dass die Dichtung zwei verschiedene Ziele verfolgen kann: Sie soll einerseits Erholung schenken und andererseits den Menschen moralisch besser machen. Erholung kann definiert werden als der Übergang von einem gewaltsamen Zustand in einen natürlichen. Dabei kommt es darauf an, was man unter diesen beiden Zuständen jeweils versteht. Versteht man unter „natürlich“ nur sinnliches Sein, das frei von Zwang ist, muss jede geistige Tätigkeit gewaltsam wirken. In diesem Sinn ist entspannter Genuss die wohlverdiente Erholung nach anstrengender Arbeit. Ästhetische Werke können jedoch eine andere Art von Erholung bieten, die Geist und Sinne nach einer gewaltsamen Trennung wiedervereint. Um sie zu genießen, muss man sich ihnen mit einem „offenen Sinn“ und einem „frischen und ungeschwächten Geist“ widmen. Leider lassen sich auch ansonsten kluge Menschen von der ersten Art verführen und konsumieren flache Werke. Daraus folgen viele falsche Urteile in ästhetischen Fragen.
„Wir sehen alsdann in der unvernünftigen Natur nur eine glücklichere Schwester, die in dem mütterlichen Hause zurückblieb, aus welchem wir im Übermuth unserer Freyheit heraus in die Fremde stürmten.“ (S. 23)
Genauso wie der Begriff der Erholung wird jener der Veredlung oft falsch verstanden. Während man Erholung nur auf sinnlichen, passiven Genuss bezieht, wird die Veredlung nur auf Geistiges angewandt. Wenn man jedoch die Wirklichkeit zum Ideal strebend verlässt, verliert man den Boden unter den Füßen und gerät ins Schwärmerische. Über Kunst und Literatur sollten nur Menschen urteilen, die weise sind in dem Sinn, dass sie idealisieren, ohne zu schwärmen, und die den naiven mit dem sentimentalischen Charakter vereinen.
Realisten und Idealisten
Dieser Unterscheidung folgend, lassen sich Menschen in Realisten und Idealisten einteilen. Man erhält diese Standpunkte, wenn man von den naiven und den sentimentalischen Charakteren jeweils das Poetische abzieht. Der Realist richtet sein Handeln und seine Erkenntnis an den Regeln der Erfahrung aus und verlässt sich auf den gesunden Menschenverstand. Wenn er etwas tut, will er zuerst wissen, wozu das gut ist. Ihm kommt es auf Glück, Wohlstand und den eigenen Vorteil an. Er ist damit aber auch den Beschränkungen unterworfen, die ihm die Dinge vorgeben. Der Idealist verlässt sich lieber auf seinen Verstand und sucht darin nach absoluten Wahrheiten. Dadurch verliert er sich oft in Spekulationen und übersieht die praktische Anwendung. Bevor er etwas tut, will er wissen, ob es gut ist. Um sich so über die Natur zu erheben, braucht es einige Anstrengung, durch die er sich zur vollen Höhe erhebt. Als Ziel ist dem Idealisten die Freiheit wichtiger als der Wohlstand. Weil dieses Ziel viel schwerer zu erreichen ist, kennt er auch das Gefühl der Zufriedenheit nicht, das der Realist empfindet. Idealisten streben zum Unendlichen und können deswegen von sich selbst und der Welt nur enttäuscht werden. Realisten sollte man nach ihrem ganzen Leben bewerten, Idealisten nach den Momenten, in denen sie über sich hinauswachsen. Die meisten Menschen sind eine Mischung aus beidem und tendieren nur mehr in die eine oder in die andere Richtung.
Zum Text
Aufbau und Stil
In Über naive und sentimentalische Dichtung entfaltet Friedrich Schiller seine Theorie über die Ursprünge, die Ziele und die Wirkung von Dichtkunst. Irgendwo zwischen literaturwissenschaftlicher Abhandlung, philosophischem Essay und persönlicher Literaturkritik angesiedelt, lädt der Text mit geschliffenen Formulierungen und spannenden Denkansätzen zur Beschäftigung mit der modernen Dichtung ein. Der Aufbau folgt Schillers Schema der Dichtkunst, die er zunächst in naive und sentimentalische (der Begriff war damals ein Synonym für „empfindsam“) unterteilt, wobei Letztere wiederum in satirische und elegische gegliedert ist. Auf dieser Stufe gibt es wieder jeweils zwei Untergruppen: Satire und Komödie sowie Elegie und Idylle. Den Ausführungen zu den Formen folgen Überlegungen zur Wirkung von Dichtung und weiterführend Gedanken zum Unterschied zwischen dem realistischen und dem idealistischen Typus. Schiller unterfüttert seine Theorie mit vielen anschaulichen Beispielen aus der Literaturgeschichte und aus der zeitgenössischen Literatur und zeigt dabei seine ungeheure Belesenheit.
Interpretationsansätze
- Ziel der Abhandlung ist eine Standortbestimmung der modernen Dichtkunst im Vergleich mit klassischen Werken. Die zentrale Frage ist für Schiller, wie sich die Herangehensweise an Dichtung seit der Antike verändert hat.
- Im Kern ist die Abhandlung eine kleine Poetik, eine Schrift über Stil und Wirkung von Dichtkunst. Statt die Bereiche der Dichtung jedoch rein nach der Form oder Gattung zu systematisieren, macht Schiller die Empfindungen des Dichters zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen.
- In der Unterscheidung zwischen dem naiven und dem sentimentalischen Dichter wechselt er zwischen einer historischen und einer typologischen Betrachtungsweise hin und her: In historischer Sicht erscheinen die Dichter der Antike als naiv und die der Moderne als sentimentalisch. Doch in typologischer Sicht kann es in beiden Zeitaltern sowohl naive als auch sentimentalische Dichter geben; für Schiller waren zum Beispiel Dante, Shakespeare und Goethe naive Dichter der Moderne.
- Eng mit dem Selbstbild des Dichters verwoben ist ein ethisches Projekt, zum Teil mit klaren Handlungsanweisungen wie „strebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit“. Der gute Dichter muss sich bei Schiller nicht nur durch Können, sondern auch durch einen edlen Charakter auszeichnen.
- In der Unterscheidung zwischen idealistischen und realistischen Charakteren scheint der Gegensatz zwischen Schiller und Goethe auf. Schiller selbst war eher Idealist, während sein Weimarer Kollege sich zum Realismus bekannte.
- Schiller unternimmt eine kritische Weiterentwicklung von Rousseaus Naturbegriff. Statt einem vergangenen Ideal nachzutrauern, soll der moderne Mensch über die Kultur zu einem zukünftigen Zustand hingeführt werden, in dem der Widerspruch zwischen Kunst und Natur aufgehoben ist.
- Mit seinen Ausführungen zu den Aufgaben der Dichtkunst – Erholung und Veredlung – setzt Schiller eine Debatte fort, die seit der Antike geführt wurde. Diskussionen zu diesem Thema finden sich etwa bei Aristoteles, Platon und Horaz.
Historischer Hintergrund
Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert
Deutschland war im 18. Jahrhundert ein Flickenteppich von Kleinstaaten, die meist von absolutistischen Herrschern geführt wurden. Das Vorbild für eine neue, bürokratische und aufgeklärte Form des Absolutismus wurde Preußen, das unter der teils rücksichtslosen Führung Friedrichs des Großen im Lauf des 18. Jahrhunderts vom zersplitterten Kleinstaat zu einer europäischen Großmacht aufstieg. Friedrich führte zahlreiche Reformen durch: Er schaffte die Folter ab, schränkte die Zensur ein und setzte auf eine Politik der Religionsfreiheit. Außerdem vergrößerte er mit den drei Schlesischen Kriegen (1740 bis 1763) das preußische Territorium. Im absolutistischen Europa galt das Recht des Stärkeren. Das zeigte sich besonders deutlich an der ersten Teilung Polens 1772, als Friedrich der Große, Katharina die Große von Russland und Joseph II. von Österreich das Land kurzerhand unter sich aufteilten. Der preußische Staat, der aus zahlreichen verschiedenen Völkern bestand und seine geografische Ausdehnung mehrfach änderte, funktionierte dank einer straffen Organisation und einer mächtigen Obrigkeit, die die Gesellschaft nach ihrem Willen formte.
Kulturell war das späte 18. Jahrhundert eine wahre Blütezeit in ganz Europa. Im Bereich der Philosophie gewannen die Ideen der Aufklärung Einfluss, die Anfang des Jahrhunderts vor allem aus England und Frankreich nach Deutschland kamen und hier von bedeutenden Denkern weiterentwickelt wurden. Johann Gottfried Herder beispielsweise entwickelte seine Kulturphilosophie, die die Geisteswissenschaft nachhaltig beeinflusste. Vor allem aber veröffentlichte Immanuel Kant auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie und der praktischen Philosophie bahnbrechende Schriften. Auch in der Literatur brachte das ausgehende 18. Jahrhundert große Namen hervor: Gotthold Ephraim Lessing und Christoph Martin Wieland bildeten den Anfang, die Weimarer Klassik um Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe den Höhepunkt einer der vielseitigsten literarischen Epochen der deutschen Geschichte.
Entstehung
Friedrich Schiller schrieb die Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung in drei Teilen, die 1795 und 1796 in der Zeitschrift Die Horen erschienen. Die drei Aufsätze trugen die Titel Über das Naive, Die sentimentalischen Dichter und Beschluß der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichter, nebst einigen Bemerkungen einen charakteristischen Unterschied unter den Menschen betreffend. Es handelte sich also nicht um eine als solche geplante, in sich geschlossene Abhandlung, sondern die Teile wurden erst 1800 zu einem Ganzen zusammengefasst.
Die zentralen Themen des Werks hatten Schiller schon in seiner Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen beschäftigt, die sich vor allem mit Immanuel Kants Ästhetik auseinandersetzte. „Das Naive“ war ein viel diskutiertes Thema der Zeit, sodass Schiller aus einer Fülle von Theorien und Ideen schöpfen konnte. Unter anderem könnten Arbeiten von Moses Mendelsohn und Denis Diderot, insbesondere aber Kants Kritik der Urteilskraft sowie Gespräche mit Wilhelm von Humboldt und Johann Gottfried Herder Schiller beeinflusst haben. In einem Brief an Herder kündigte Schiller an, auszuarbeiten, „was der Dichtergeist in einem Zeitalter und den Umständen wie die unsrigen für einen Weg zu nehmen habe“. Eine weitere wichtige Quelle der Schrift ist Schillers lebhafter Austausch mit Goethe, in dem er einen der wenigen modernen naiven Dichter sah.
Wirkungsgeschichte
Über naive und sentimentalische Dichtung zählt zu Schillers wichtigsten kulturphilosophischen Abhandlungen. Sie ist aber ein Kind ihrer Zeit und muss auch als solches gelesen werden. Für die Forschung ist sie vor allem aufgrund der zahlreichen Anspielungen auf Schiller Verhältnis zu Goethe interessant. Der las Schillers Schrift aufmerksam. Wenn er auch mit einigen Elementen von Schillers Theorie nicht übereinstimmte, war er doch mit dessen Urteil zu seinem eigenen Schaffen einverstanden. Nicht ohne Ironie schrieb er an seinen Freund: „Da diese Theorie mich selbst so gut behandelt, so ist nichts natürlicher, als dass ich den Prinzipien Beifall gebe und mir die Folgerungen richtig scheinen.“ Die Auseinandersetzung mit Goethes Werk jedoch zum ausschließlichen Grund für die Schrift zu machen, wie Goethe es nach Schillers Tod versuchte, geht sicher zu weit.
Zahlreiche Widersprüche und eine oft unsaubere Terminologie verhinderten, dass Schillers Schrift literaturwissenschaftlich bedeutsam wurde. Verschiedene Autoren versuchten, aus der Abhandlung eine klare, systematische Theorie zu destillieren – darunter Georg Lukács in seinem Text Schillers Theorie der modernen Literatur. Diese Versuche griffen angesichts der Komplexität von Schillers Gedankengang sämtlich zu kurz. Der Wert der kleinen Schrift liegt gerade in ihrer Widersprüchlichkeit – erlaubt diese dem Leser doch, Schiller bei der Entwicklung seiner Gedanken quasi über die Schulter zu schauen.
Über den Autor
Friedrich Schiller wird am 10. November 1759 in Marbach am Neckar als Sohn eines Offiziers geboren. Auf Befehl des württembergischen Landesherrn Karl Eugen wird er in dessen Eliteschule in Stuttgart aufgenommen. Schiller behagt der militärische Drill im Internat überhaupt nicht, wenngleich die Lehrkräfte und die Ausbildung hervorragend sind. Er studiert zunächst Jura und dann Medizin. Viel stärker lockt den jungen Mann aber die Schriftstellerei. Mehr oder weniger heimlich schreibt er sein erstes Drama Die Räuber, das 1782 in Mannheim uraufgeführt wird. Als er gegen den Willen Karl Eugens die Landesgrenzen überschreitet, wird er mit Haft und Schreibverbot bestraft. Schiller entzieht sich dem Zwang durch neuerliche Flucht und setzt seine schriftstellerische Arbeit fort. Die frühen Dramen erscheinen: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783) und Kabale und Liebe (1784). Unter ständiger Geldnot leidend, zieht er 1785 zu seinem Freund und Gönner Christian Gottfried Körner nach Sachsen, wo er unter anderem die durch Beethovens Vertonung bekannt gewordene Ode An die Freude sowie den Dom Karlos (1787) schreibt. Aufgrund seiner viel beachteten Studie Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung schlägt Goethe ihn 1788 für den Lehrstuhl für Geschichte in Jena vor. Hier verfasst Schiller seine ästhetischen und historischen Schriften und heiratet 1790 Charlotte von Lengefeld. Nach seinem Umzug nach Weimar im Jahr 1799 schließt Schiller Freundschaft mit Goethe. Daraus ergibt sich eine der fruchtbarsten Dichterbekanntschaften aller Zeiten: In der Nähe Goethes beendet Schiller sein erstes klassisches Geschichtsdrama, die Wallenstein-Trilogie. Es folgen Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans (beide 1801), Die Braut von Messina (1803) und Wilhelm Tell (1804), aber auch ein umfangreiches lyrisches Werk. 1802 erhält er den Adelstitel. Seine schlechte körperliche Konstitution zwingt ihn immer wieder aufs Krankenlager. Am 9. Mai 1805 stirbt Schiller in Weimar.
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