Friedrich Nietzsche
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn
Reclam, 2015
Was ist drin?
Eine Bewertung der menschlichen Vernunft von jemandem, der die menschliche Brille abgelegt hat.
- Philosophie
- Moderne
Worum es geht
Die zweite Geburt Nietzsches
Der Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist ein Schlüsseltext in Nietzsches Gesamtwerk. Nicht nur enthält er die klarste und ausführlichste Darstellung seiner Sprachphilosophie. Hier tritt auch zum ersten Mal jener Nietzsche auf, der später berühmt wurde: der Philosoph des Hammers, der Umwertung aller Werte. Nicht in Andeutungen oder Ansätzen, sondern wortgewaltig und radikal ausformuliert. Einerseits konfrontiert Nietzsche den Leser mit der geballten Wucht seines literarischen Genies: inspiriert, provokativ und voller lebendiger Sprachbilder, die zu den berühmtesten von Nietzsche geworden sind. Andererseits versucht er, die Axt so tief wie möglich am Baum der überlieferten Überzeugungen anzusetzen und so viele Glaubenssätze wie möglich in Zweifel zu ziehen. Auf nur wenigen Seiten umreißt er jenes Projekt, dem er sein restliches Leben widmen wird: eine grundlegende und rücksichtslose Kritik der abendländischen Philosophie, Wissenschaft und Kultur.
Take-aways
- Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist ein Schlüsseltext in Nietzsches Gesamtwerk.
- Inhalt: Jede Erkenntnis ist abhängig von einer Lebensform: Wurm, Pflanze oder Mensch nehmen die Welt anders wahr. Da die Wörter nur Nervenreize abbilden, können sie nicht die äußere Welt darstellen. Deshalb ist Wahrheit nicht das objektive Wesen der Dinge, sondern eine soziale Konvention, welche Wörter welche Dinge bezeichnen sollen.
- Der philosophische Essay aus dem Sommer 1873 gehört ins Frühwerk Nietzsches.
- Der Text unterzieht Sprache, Wahrheit und Erkenntnis einer skeptischen Kritik.
- Hier findet sich die einzige Ausformulierung der Sprachphilosophie Nietzsches.
- In diesem Text hat Nietzsche zum ersten Mal sein Projekt der Umwertung aller Werte vorgestellt.
- Der Essay zeigt den Einfluss Darwins auf Nietzsches Denken.
- Obwohl Nietzsche den Text nicht veröffentlichen wollte, wurde er vom Herausgeber Fritz Koegel publiziert, als der Philosoph bereits geistig umnachtet war.
- Nietzsches Philosophie beeinflusste die moderne Literatur und den Poststrukturalismus.
- Zitat: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen (…): Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (…)“
Zusammenfassung
Erkenntnis ist Täuschung
Der Mensch macht sich eine völlig falsche Vorstellung von seinem Intellekt. Er denkt, dass er durch die Kraft seiner Erkenntnis zum Zentrum des Universums wird. Dabei ist der Mensch in der Geschichte des Kosmos eine nichtige und vergängliche Figur. In den Weiten des Universums besetzt der Mensch nur einen winzig kleinen Planeten. Er hat ewige Zeiten nicht existiert und wird ewige Zeiten nicht mehr sein. Im großen Ganzen der Natur ist sein Intellekt zwecklos. Er ist nur für den Menschen selbst nützlich und wird daher mit dem Menschen verschwinden. Es gehört zu den wesentlichen Eigenschaften der Erkenntnis, dass sie denen, die sie besitzen, eine überzogene Vorstellung von der eigenen Wichtigkeit verschafft. Jedes Lebewesen, das auch nur ein bisschen von seiner Umwelt erkennt, hält sich für den Nabel der Welt – selbst die Mücke.
„In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichteʻ: aber doch nur eine Minute.“ (S. 9)
Dabei besteht der Zweck der Erkenntnis einzig darin, den Menschen am Leben zu erhalten – indem sie ihn täuscht. Paradoxerweise erhält der Intellekt den Menschen gerade dadurch am Leben, dass er ihn belügt, in Illusionen hüllt und ihm falsche Tatsachen vorspiegelt. Die wichtigste Aufgabe des Intellekts ist die Verstellung. Denn in der menschlichen Gattung ist die Verstellungskunst zu ihrem Höhepunkt gelangt. Kein anderes Lebewesen versteht sich so gut auf das Betrügen, Umschmeicheln und Verstellen. Das ganze soziale Leben des Menschen besteht aus Repräsentieren, Rollenspielen und So-tun-als-ob. Egal ob sich der Mensch auf sich oder die Welt bezieht, er hat es immer nur mit Oberflächen und Vorspiegelungen zu tun. Nirgendwo berührt er die wahre Wirklichkeit.
Die Wahrheit über die Wahrheit
Was weiß denn der Mensch wirklich? Er hat ja noch nicht einmal verstanden, wie er selbst funktioniert. Sein eigener Körper ist ihm noch größtenteils unbekannt. Die Natur hat den Menschen ins Bewusstsein eingesperrt. Und das ist auch gut so. Denn würde der Mensch aus seinem „Bewusstseinszimmer“ heraustreten und sich ansehen, was ihm wirklich zugrunde liegt, dann würde er in einen beängstigenden Abgrund blicken: Erbarmungslosigkeit, unersättliche Gier und mörderische Grausamkeit liegen am Grunde des Menschen. Nur durch das Glück des Nichtwissens kann der Mensch ausblenden, dass er „auf dem Rücken eines Tigers“ lebt. Doch wenn die Täuschung und die Verstellung so wesentlich sind für den Menschen, wieso hat er dann überhaupt einen Sinn für die Wahrheit? Wieso ist Wahrheit etwas Erstrebenswertes für jemanden, der sie gar nicht zu brauchen scheint?
„Was weiß der Mensch eigentlich von sich selbst! (…) Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, (…) um ihn (…) in ein stolzes, gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschließen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnisvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus- und hinabzusehen vermöchte (…).“ (S. 10 f.)
Weil der Mensch die Wahrheit eben doch braucht. Aber nicht aus hehren Gründen der Erkenntnis, sondern aus praktischen Gründen des Zusammenlebens. Im Naturzustand gilt das Recht des Stärkeren. Hier tobt der Krieg aller gegen alle. Um daraus ein langfristiges und friedliches Zusammenleben zu machen, braucht man einen „Friedensschluss.“ Und dieser Friedensschluss findet wesentlich in der Sprache statt: Die Menschen einigen sich auf eine einheitliche Bezeichnung der Dinge. Und an die sollen sich alle halten.
So entsteht die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge. Der Lügner ist nun derjenige, der die Festlegung der Wörter missachtet, der zum Beispiel sagt, er sei reich, wo er doch in Wirklichkeit arm ist. Von nun an wird die Lüge zu einem Verbrechen. Der Lügner muss mit Strafen rechnen. Er wird aber nicht deshalb bestraft, weil er nicht die Wahrheit gesagt hat, sondern weil er mit der Lüge jemandem Schaden zugefügt hat. Das Böse ist also nicht die Täuschung selbst, sondern die Täuschung als Mittel für böse Zwecke zu nutzen. Und genau das ist der Zugang des Menschen zur Wahrheit: Er will sie, solange sie ihm angenehm ist, das Leben erhält und glücklich macht. Dort, wo die Wahrheit nichts bringt, ist sie dem Menschen egal. Und dort, wo die Wahrheit unangenehm und schwierig wird, wehrt sich der Mensch sogar aktiv gegen sie.
Von Wörtern und Dingen
Wie steht es eigentlich um die Erkenntnisfähigkeit der Sprache: Passen die Wörter zu den Dingen? Bringt die Sprache die Welt zum Ausdruck? Nicht wirklich. Wörter sind bloß die Übersetzungen von Nervenreizen in Laute. Nervenreize kommen aber aus unserem Inneren. Es ist daher falsch zu glauben, dass die Wörter ein objektives Außen abbilden. Wir bezeichnen den Stein nicht als hart, weil wir objektive Gewissheit davon besitzen, was Härte ist, sondern weil er sich subjektiv für uns hart anfühlt. Wenn wir den Baum als männlich und die Pflanze als weiblich bezeichnen, ist das nichts als eine willkürliche Setzung. Allein schon die Tatsache, dass es so viele unterschiedliche Sprachen gibt, zeigt, dass keine Sprache die Welt als solche darstellt. Der Mensch spricht in Wörtern wie „Baum“, „Schlange“ oder „Blume“ und glaubt damit, die Wirklichkeit der Welt auszudrücken. Dabei ist er wie der Taube, der die Vibration von Klangwellen im Sand beobachtet und glaubt, er wüsste nun, wie ein Ton klingt.
„Wir glauben, etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“ (S. 13)
Doch der Mensch glaubt, dass er mithilfe von Wörtern die Wahrheit erforschen kann. Ein Missverständnis, das besonders am Begriff deutlich wird. Ein Begriff ist ein Wort, das viele unterschiedliche Einzelfälle zusammenfasst. Der Begriff „Blatt“ zum Beispiel bezeichnet nicht dieses eine, besondere und einzigartige Blatt, sondern viele verschiedene Blätter, trotz ihrer Unterschiede. Ein Begriff setzt also das gleich, was eigentlich gar nicht gleich ist. Erst wenn wir vergessen, was die unterschiedlichen Blätter in der Natur voneinander unterscheidet, können wir „das Blatt“ sagen. Dadurch entsteht die Illusion, dass es so etwas wie das Blatt an sich gibt, ein Urblatt, von dem alle realen Blätter abgekupfert sind. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Es gibt nur besondere, einzelne Blätter. Nirgendwo in der Natur findet sich das Urblatt als solches. Jeder Begriff ignoriert das Individuelle und Wirkliche. In der Natur dagegen gibt es nur Individuelles und Wirkliches, keine Begriffe. Daraus folgt, dass es in der Natur keine Gattungen gibt. Auch „der Mensch“ ist ein Begriff, den wir Menschen erfinden, und nicht etwas, was es in der Natur gibt.
Der Bau der Wahrheit
Was man Wahrheit nennt, ist nichts als eine Menge von Sprachbildern und Vermenschlichungen. Es sind menschliche Konstruktionen – allerdings hat der Mensch vergessen, dass er sie selbst geschaffen hat. Damit die Gesellschaft friedlich fortbestehen kann, verpflichten sich alle Mitglieder, dieselben Wörter zu benutzen. Doch sie müssen auch verdrängen, dass sie es waren, die die Wörter erfunden und geformt haben. Erst dann können die Menschen ehrlich an die Wahrheit glauben. So entsteht der Mensch als vernünftiges Wesen. Durch die Fähigkeit zur Abstraktion macht er sich von der Anschauung im flüchtigen Augenblick unabhängig. Hier liegt der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Durch seine Sprache kann der Mensch Einzelfälle in Begriffe auflösen, diese Begriffe in Gruppen anordnen und diese Gruppen unterschiedlich bewerten. Daraus baut er eine „pyramidale Ordnung“, die er zuletzt sogar der Wirklichkeit als das Wirklichere gegenüberstellen kann. Der Moment vergeht, aber die kühle und strenge Ordnung der Sprache bleibt.
„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen (…): Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind (…).“ (S. 15)
Wahrheit bedeutet für den Menschen, sich diszipliniert an die von ihm selbst geschaffenen Kategorien zu halten. Der Mensch ist ein „gewaltiges Baugenie“: Er schafft es, ein festes Fundament über einen flüssigen Untergrund zu legen und darauf einen komplexen, ständig wachsenden „Begriffsdom“ zu errichten. Während die Biene ihren Baustoff aus der Natur sammeln muss, bildet der Mensch den Begriff nur aus sich selbst heraus. Diese Begabung zum Konstruieren ist beeindruckend, darf aber nicht als Suche nach Wahrheit missverstanden werden. Denn was findet der Mensch in der Welt für Wahrheiten? Nur die, die er selbst in sie hineingelegt hat. Er definiert, was ein Säugetier ist. Und wenn er danach ein Kamel sieht und es unter die Säugetiere zählt, so ist das zwar eine Wahrheit – aber keine besonders innovative. Es ist eine Erkenntnis, die rein nach menschlichen Konventionen geformt ist und die nur für Menschen verständlich ist. Es sagt nichts darüber aus, was ein Kamel an sich ist. Die Suche nach Wahrheit ist also eigentlich nichts anderes als die Verwandlung der Welt in menschliche Kategorien.
Kritik der Wissenschaft
Der Mensch denkt, dass er mit Wörtern wie „Sonne“ oder „Fenster“ die Wirklichkeit an sich einfängt. Er ist überzeugt, durch die Sprache sein Wissen über die Welt zu erweitern. Doch das ist reiner Glaube. Die Wissenschaft glaubt, dass sie mit ihren Begriffen die Wahrheit enthüllt. Dabei müssen wir nur bedenken, dass Tiere die Welt ganz anders wahrnehmen als wir Menschen. Ein Insekt nimmt die Welt anders wahr als ein Vogel oder ein Mensch. Und die Frage, welche Wahrnehmungsweise die richtige ist, ergibt keinen Sinn. Es gibt keinen objektiven Wirklichkeitsstandard. Die Frage nach der „richtigen Perception“ ist sinnlos.
„(…) hätten wir noch, jeder für sich eine verschiedenartige Sinnesempfindung, (…) sähe der eine von uns denselben Reiz als rot, der andere als blau, hörte ein Dritter ihn sogar als Ton, so würde niemand von einer solchen Gesetzmäßigkeit der Natur reden, sondern sie nur als ein höchst subjektives Gebilde begreifen.“ (S. 19 f.)
Es gehört zur Grundüberzeugung der Wissenschaft, dass sich in den Erscheinungen, die wir wahrnehmen, das Wesen der Dinge darstellt. Doch das ist ein Glaube, der nur deshalb funktioniert, weil der Mensch vergessen hat, dass er der künstlerische Schöpfer seiner Begriffe ist. Über Jahrhunderte und Generationen wurden dieselben Wörter so oft wiederholt, dass sie nun als die notwendige und richtige Abbildung der Realität erscheinen. Würden wir einen Traum ewig wieder träumen, hielten wir ihn auch für die Wirklichkeit.
Die Wissenschaft deckt nicht die objektive Wahrheit auf. Könnten wir die Welt abwechselnd durch die Augen eines Vogels, eines Wurms, einer Pflanze und eines Menschen wahrnehmen – wir würden nie wieder von der einen Natur sprechen, die nach allgemeinen Gesetzen funktioniert. Es wäre völlig klar, dass die Natur subjektiv ist und von der jeweiligen Wahrnehmungsart abhängt. Was der Mensch an den Naturgesetzen der Sterne oder der Chemie bewundert, ist ihre mathematische Regelmäßigkeit. Es ist die Disziplin der Zahl und die strenge Ordnung von Raum und Zeit. Doch die Ordnungen der Zahl, des Raums und der Zeit haben die Menschen selbst der Natur aufgeprägt. Was sie also in der Natur bestaunen und bewundern, sind – sie selbst.
Der stoische und der intuitive Mensch
Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, den „Bau der Begriffe“ ständig zu erweitern. Kontinuierlich wird der Bau höher, ausgereifter, komplexer. Die ganze Welt soll in den Schubladen und Rangordnungen der Begriffe untergebracht werden. Das zumindest ist die Hoffnung der Forscher, die sich im Schatten dieses gigantischen Turms auch vor einer Bedrohung schützen wollen. Die Gefahr geht vom Fundament der Wissenschaft selbst aus. Es ist der menschliche „Fundamentaltrieb zur Metapherbildung“. Zwar verdankt ihm die Wissenschaft ihre Begriffe und ihren Glauben an die Wahrheit. Aber dieser Trieb hat auch die bedrohliche Eigenschaft, sich zu verselbstständigen. Er will immer mehr Sprachbilder erfinden – und verwirrt damit die bestehenden. In der Kunst und im Mythos tobt sich der menschliche Grundhang zum Täuschen und Bauen frei aus. Auch im Traum erfährt der Mensch die volle Macht seines schöpferischen Triebs, Luftschlösser zu bauen, neue Zusammenhänge zu schaffen und Unpassendes zusammenzufügen.
Die antiken Griechen haben diese Fähigkeit frei ausgelebt: Für sie war das gesamte Alltagsleben eine mythische Wunderwelt. In Bäumen konnten Fabelwesen leben, in Tieren konnten Götter stecken. Bei den Griechen durfte sich der Intellekt ungezwungen ausleben. Normalerweise steht der Intellekt im Dienst der Notwendigkeit. Er soll die Mittel zum Überleben sichern, die Bedürfnisse und Nöte der Menschen stillen. Und in manchen Epochen stehen sich diese beiden Zustände völlig fremd gegenüber.
„Es gibt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch nebeneinanderstehen, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion; der Letztere ebenso unvernünftig, als der Erstere unkünstlerisch ist.“ (S. 23 f.)
Der vernünftige Mensch hat keinen Sinn für Kunst und hat Angst vor den Ausschweifungen der Intuition. Der intuitive Mensch dagegen verhöhnt die starre Begriffsordnung und handelt unvernünftig. Er ignoriert die Notwendigkeiten und Härten des Lebens. Für ihn ist alles Spiel und Spaß. Er geht ganz in Illusionen auf. Daher ist er Unglücksfällen auch schutzlos ausgeliefert: Er leidet oft und sehr stark. Der stoische Mensch der Vernunft dagegen ist ganz auf die Bewältigung des Lebens konzentriert. Glück oder Verspieltheit interessieren ihn nicht. Das sind nur Illusionen. Stattdessen übt er sich in Selbstbeherrschung, Realismus und Pragmatismus. Der stoische Mensch erträgt das Unglück viel besser als der intuitive. Er hat ein dickes Fell – das ist seine Form der Verstellung.
Zum Text
Aufbau und Stil
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist ein philosophischer Essay. Der Text ist in zwei Teile unterteilt, die nicht betitelt, sondern lediglich mit Ziffern überschrieben sind. Im ersten Teil entwickelt Nietzsche zunächst eine Kritik der Erkenntnis, bevor er seine Theorie der Sprache vorstellt und daran eine Kritik der wissenschaftlichen Wahrheitskonzeption anschließt. Im zweiten Teil nimmt er eine kulturhistorische Perspektive ein und stellt seine Unterscheidung zwischen einer vernünftig-stoischen und einer intuitiv-kreativen Lebensform vor. Wie so oft bedient Nietzsche sich der Textform des Essays. Diese kommt Nietzsches Denkstil entgegen, weil sie zwar auf begriffliche Argumentation angelegt ist, aber viele Stilmittel zulässt, die in einer streng wissenschaftlichen, akademischen Arbeit nichts zu suchen hätten. Persönliche Erfahrungsberichte, literarische Metaphern, unterhaltsame Erzählungen, all das darf in einen Essay einfließen. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist deshalb nicht nur eine philosophische Abhandlung, sondern auch ein literarisches Dokument, in dem der brillante Schriftsteller Nietzsche zur Geltung kommt.
Interpretationsansätze
- Der Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn gilt als früheste Ausformulierung der Umwertung aller Werte, des philosophischen Projekts Friedrich Nietzsches. Hier spricht Nietzsche erstmals aus, dass das Wahre und Gute eigentlich schädlich und das Böse, die Lüge oder die Illusion in Wahrheit nützlich seien.
- Es ist ein Schlüsseltext für Nietzsches Gesamtwerk, da er nur in diesem Text seine eigene Sprachphilosophie systematisch vorstellt. Hier formuliert Nietzsche Thesen, die für seine späteren, bekannteren Bücher grundlegend sind, dort aber meist nicht mehr explizit ausgeführt werden.
- Nietzsche nimmt eine radikale Grundlagenkritik der Philosophie vor. Damit bricht er mit der philosophischen Tradition, da er kein neues philosophisches System vorstellt. Während in der traditionellen Philosophie Sprache oder Bewusstsein die Garanten für eine gelingende Welterkenntnis sind, macht Nietzsche diese selbst zum Untersuchungsgegenstand.
- Die Hauptperspektive Nietzsches in diesem Text ist die Anthropologie. Die Charakterisierung des Menschen in und durch die Absetzung vom Tier bildet einen argumentativen Schwerpunkt des Essays.
- Ein starker Einfluss für Nietzsches Denken ist der Darwinismus. Nietzsche sieht in Darwin eine Alternative zum philosophischen Idealismus, denn Darwin erklärt die Welt nicht durch ewig wahre Ideale, sondern pragmatisch durch die Nützlichkeit für das Überleben.
- In Nietzsches Psychologie wird häufig eine Vorwegnahme der Psychoanalyse Sigmund Freuds gesehen. Das gilt insbesondere für Nietzsches These, dass das Bewusstsein einer unbewussten Triebdynamik unterliegt und seine eigenen Beweggründe nicht erfassen kann.
Historischer Hintergrund
Der Aufstieg Deutschlands
Die Jahre zwischen 1864 und 1872 sind oft als „Zeitenwende“ bezeichnet worden. Auch Friedrich Nietzsche hat diese Einschätzung in Briefen wiederholt geäußert. Was sich in diesen Jahren nachhaltig und grundlegend veränderte, war die politische Machtverteilung in Europa. 1871 entstand durch die Initiative von Otto von Bismarck mit dem Deutschen Reich erstmals ein deutscher Nationalstaat. Bismarck schuf damit aus den zuvor versprengten, getrennten und oftmals miteinander verfeindeten Lokal- und Kleinreichen eine neue politische Einheit. Gleichzeitig wurde die bis dahin in der deutschen Politik prominente Habsburgermonarchie Österreich endgültig aus dem deutschen Reich ausgeschlossen. Durch den für viele zeitgenössische Beobachter überraschenden Sieg gegen Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 beanspruchte das neue Reich auch gleich die Vormachtstellung in Europa.
Wichtig für die Bewusstseinsbildung der neuen Nation war neben dem Kriegspatriotismus und den militärischen Erfolgen auch die Geschichtswissenschaft. Vor allem die griechisch-römische Antike und die Frühphase des Christentums wurden an deutschen Schulen und Universitäten gelehrt. Nietzsche nahm am Deutsch-Französischen Krieg noch begeistert auf der Seite Preußens teil – als freiwilliger Sanitäter. Auch die Geschichtsverliebtheit Preußens kannte er durch seine akademische Laufbahn aus erster Hand. Doch in den frühen 1870er-Jahren verschob sich seine Haltung: Die Reichsgründung und die Ära Bismarck sah er skeptisch.
Entstehung
Der Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn entstand im Sommer 1873. Zu diesem Zeitpunkt war Friedrich Nietzsche noch nicht der zurückgezogene Eigenbrötler, der einsam durch die Alpen wanderte und die „Umwertung aller Werte“ anstrebte. In den 1870er-Jahren wohnte er noch fest in Basel, war Professor für klassische Philologie und ein gern gesehener Gast in Basels Großbürgertum. Doch er stand an einem Wendepunkt. Ein Jahr zuvor hatte er sein erstes Buch veröffentlicht: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Die Reaktion der Fachwelt war derart vernichtend gewesen, dass Nietzsche klar wurde: Seine wissenschaftliche Karriere hatte keine Zukunft. Anfang 1873 arbeitete er an weiteren Texten, die seinen Ruf als Provokateur und Outsider festigen sollten, vor allem an den Unzeitgemäßen Betrachtungen. Und er begann, sich aus dem bürgerlichen Leben zu lösen. Langjährige Beziehungen, etwa die zu Richard Wagner, gingen in die Brüche. Die Beziehung zu seiner Familie verschlechterte sich.
Nietzsche las damals Gustav Gerbers Die Sprache der Kunst und die Schriften von Georg Christoph Lichtenberg. Außerdem stand er zu diesem Zeitpunkt noch stark unter dem Einfluss von Arthur Schopenhauer. Immanuel Kant schätzte Nietzsche vor allem durch die Interpretation von Friedrich Albert Lange. Die wichtigsten Impulsgeber für den Text Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn waren sicherlich Lichtenberg und Lange. Nietzsche las sie intensiv im Sommer 1872 und fertigte erste Vorarbeiten an. Im Juni 1873 entstand dann sein Essay. Nietzsche schrieb ihn nicht selbst, sondern diktierte ihn seinem Freund Carl von Gersdorff. Die Gründe dafür sind unklar. Wahrscheinlich war seine einsetzende Nervenkrankheit daran schuld. Der Essay blieb zunächst unveröffentlicht. Nietzsche hielt den Text geheim. Erst 1896 erschien er zum ersten Mal, in einer Nietzsche-Gesamtausgabe, die Fritz Koegel herausgab. Zu diesem Zeitpunkt war Nietzsche zwar noch am Leben, aber geistig umnachtet und in der Obhut seiner Mutter.
Wirkungsgeschichte
Nietzsche gilt gemeinhin als „Künstlerphilosoph“ und tatsächlich wurde er zunächst hauptsächlich in der Literatur rezipiert. Vor allem nach 1900 bezogen sich viele Künstler auf Nietzsche. Die starke Vertrauenskrise bezüglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit im Allgemeinen und der Sprache im Besonderen war typisch für die literarische Moderne. Kein Wunder also, dass ihre Vertreter in Nietzsche einen Vorgänger und Seelenverwandten sahen. In Deutschland reicht Nietzsches Wirkung von Rainer Maria Rilke und Carl Einstein über Gottfried Benn bis hin zu Bertolt Brecht. In der eigentlichen Sprachphilosophie der Zeit, bei Fritz Mauthner oder Hugo von Hofmannsthal, kommt Nietzsche allerdings nicht vor. In der akademischen Philosophie wurde er erst nach dem Zweiten Weltkrieg beachtet – allerdings nicht in Deutschland. Denn dort hatte zuvor der Faschismus Nietzsche für sich vereinnahmt. Eine Deutung, die vor allem durch die Fälschungen von Nietzsches Schwester zustande gekommen war.
Nietzsches eigentliche Wiederentdeckung und Ehrenrettung fand in Frankreich statt. Vorangetrieben wurde sie von den Hauptvertretern des Poststrukturalismus. Michel Foucault und Gilles Deleuze gaben Ende der 1960er-Jahre eine kritische Gesamtausgabe von Nietzsche heraus. Nicht zuletzt, um die Verzerrungen durch Nietzsches Schwester zu korrigieren und eine „Rückkehr zu Nietzsche“ anzustoßen. Auch die Dekonstruktion von Jacques Derrida widmete sich immer wieder Nietzsche. Derridas Schülerin Sarah Kofman bezog sich dabei besonders häufig auf Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Am deutlichsten und stärksten setzte sich aber der Literaturtheoretiker Roland Barthes mit Nietzsches Sprachphilosophie auseinander. In vielen seiner bekanntesten Bücher besprach Barthes Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. Auf diese Weise hat Nietzsche eine der einflussreichsten intellektuellen Schulen des 20. Jahrhunderts geprägt.
Über den Autor
Friedrich Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 im sächsischen Röcken geboren. Seine Kindheit ist vom strengen Protestantismus des Elternhauses sowie vom frühen Tod des Vaters geprägt. 1864 beginnt er in Bonn ein Studium der klassischen Philologie und wechselt später nach Leipzig. Mit 24 Jahren wird der begabte Student auf eine Professur in Basel berufen. Mit seinem unkonventionellen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) brüskiert er seine Fachkollegen und wendet sich der Philosophie zu. Seine Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873–1876) stehen unter dem Einfluss Arthur Schopenhauers. Mit dem Text Richard Wagner in Bayreuth (1876) setzt Nietzsche seiner Freundschaft mit dem Komponisten ein Denkmal. Kurz darauf bricht er jedoch mit ihm, unter anderem wegen Wagners Hinwendung zum Christentum. Mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) wendet Nietzsche sich auch von Schopenhauer ab. 1879 gibt er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Gesundheitszustands das Lehramt in Basel auf. Er leidet unter schweren migräneartigen Kopf- und Augenschmerzen. Die folgenden zehn Jahre sind von gesundheitlichen Krisen geprägt, denen er mit Aufenthalten in der Schweiz, in Italien und in Frankreich zu entgehen versucht. In diesen Jahren erscheinen Nietzsches Hauptwerke: Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883–1885), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Im Januar 1889 erleidet er in Turin einen geistigen Zusammenbruch: Aus Mitleid mit einem geschlagenen Droschkengaul umarmt er weinend das Tier und fällt später in eine vollständige geistige Umnachtung; möglicherweise ist Syphilis die Ursache. Er stirbt am 25. August 1900 in Weimar. Nach Nietzsches Tod erscheint auf Betreiben seiner Schwester das Buch Der Wille zur Macht, eine unabgeschlossene Sammlung von Aphorismen, die lange als Nietzsches Hauptwerk gelten. Heute stuft die Forschung diesen Text aufgrund vieler Verfälschungen durch die Schwester als sehr unzuverlässig ein. Zeugnis der letzten Schaffensphase Nietzsches und des zunehmenden Größenwahns legt Ecce homo ab, Nietzsches eigenwillige Autobiografie, die 1908 erscheint.
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