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Utilitarismus

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Utilitarismus

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Was ist drin?

Ein Klassiker der Ethik. Was manche überraschen wird: Utilitarismus bedeutet nicht Egoismus.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Viktorianische Ära

Worum es geht

Gemeinwohl als Glück jedes Einzelnen

Reines Nutzendenken schädigt das Gemeinwohl? Wer nur das eigene Glück im Kopf hat, ist ein Egoist? Eine Moral, die nach Lust strebt, ist verdorben? Ganz im Gegenteil, behauptet John Stuart Mill in seiner leidenschaftlichen Verteidigungsschrift des Utilitarismus. Alle Menschen streben nach Glück, das ist eine empirisch zu beobachtende Tatsache. Die Utilitaristen zogen daraus zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Schluss: Was Lust bringt, ist moralisch richtig, was Schmerz verursacht, dagegen falsch. Um verbreitete Einwände gegen diese ethische Haltung zu kontern, trennt Mill sinnliche, rein körperliche Lust von intellektuellen Vergnügen, denen er einen höheren Wert beimisst. Wahres Glück, das über den Augenblick hinausreicht, kann demnach nur erlangen, wer sich geistig betätigt und sich fürs Gemeinwohl einsetzt. Mills Denken ist nicht akademisch abgehoben, sondern eine sehr praktische Philosophie, die im angloamerikanischen Raum bis heute zu den einflussreichsten, aber auch umstrittensten Theorien zählt.

Take-aways

  • John Stuart Mills Utilitarismus ist eine leidenschaftliche Streitschrift für die Nützlichkeit als Grundprinzip der Ethik.
  • Alle menschlichen Handlungen zielen laut Mill auf Lustgewinn und Schmerzvermeidung.
  • Eine Handlung ist moralisch richtig, wenn sie Lust bereitet, und falsch, wenn sie Schmerz verursacht.
  • Es gibt rein körperliches, tierisches und höheres, geistiges Vergnügen.
  • Wahres Glück erlangt man nicht durch sinnliche Freuden, sondern indem man sich für andere einsetzt.
  • Das Glück aller Menschen, also das Gemeinwohl, ist nicht nur eine abstrakte Idee. Es besteht aus dem konkreten Glück vieler Einzelpersonen.
  • Durch richtige Erziehung und wachsenden Fortschritt können die Grundübel der Welt, wie Armut und Krankheiten, beseitigt werden.
  • Mill verteidigt seine Lehre gegen die Vorwürfe des Hedonismus und Egoismus.
  • Er selbst litt, während er seine Vorstellung vom wahren Glück entwickelte, an einer schweren Depression.
  • Das Buch war ein Erfolg und erschien noch zu Lebzeiten Mills in vier Auflagen.
  • Es hatte großen Einfluss auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit.
  • Auch liberale Ökonomen wie Friedrich August von Hayek beriefen sich auf Mills Prinzip des Nutzens.

Zusammenfassung

Das alte Problem der Moralphilosophie

Seit über 2000 Jahren beschäftigt sich die Philosophie mit dem Problem der moralischen Grundlagen. Viele Schulen und Parteien haben sich gebildet, und doch ist man in der Frage, was der Maßstab für Richtig und Falsch sei, seit Platon keinen Schritt weitergekommen. In einem Punkt allerdings sind sich die ernst zu nehmenden Denker aller Schulen einig: Moralische Urteilskraft ist keine Fähigkeit der Sinneswahrnehmung wie etwa Sehen oder Hören, sondern Teil der Vernunft. Wir besitzen abstrakte moralische Prinzipien, die wir jeweils auf den konkreten Fall anwenden. Woher diese Prinzipien allerdings stammen und auf welche grundlegende Maxime sie sich zurückführen lassen, ist bis heute nicht geklärt. Zwar hat Immanuel Kant als Ursprung moralischer Verpflichtung ein universelles erstes Prinzip aufgestellt, das lautet: „Handle so, dass die Maxime deiner Handlung von allen vernünftigen Wesen als ein allgemeines Gesetz angenommen werden kann.“ Sobald er aber konkrete moralische Pflichten daraus ableiten soll, versagte er. Die Menschen würden, seinem Prinzip gemäß, auch die unmoralischsten Regeln annehmen; nur die Folgen wolle niemand tragen.

Der Utilitarismus – eine Lehre für Schweine?

In der Umgangssprache wird das Nützliche häufig der Lust entgegengesetzt. Die Mehrheit der Schriftsteller und Zeitungsschreiber verwendet das Wort „utilitaristisch“ falsch, nämlich im Sinn einer Abwertung alles Schönen, Lustvollen und Angenehmen. Tatsächlich aber gründet die Theorie des Utilitarismus, der den Nutzen oder das Prinzip des größten Glücks als Fundament der Moral annimmt, auf folgendem Grundsatz: Eine Handlung ist moralisch richtig, wenn sie Glück befördert, und falsch, wenn sie Glück verhindert. Unter Glück wird dabei Lust und die Abwesenheit von Schmerz verstanden. Der letzte Zweck menschlichen Handelns ist demnach ein Leben, das möglichst frei von Schmerzen und möglichst reich an Lust ist.

„Jede Handlung hat einen Zweck, und es scheint nur natürlich, wenn man annimmt, dass die Handlungen ihren Charakter und ihre Färbung allein aus dem Zweck erhalten, dem sie dienen.“ (S. 4)

Kritiker wenden ein, es müsse doch ein höheres, edleres Ziel im Leben geben als bloße Lust. Sie verunglimpfen deshalb den Utilitarismus, der auf Epikur zurückgeht, als primitiv und tierisch, als eine „Lehre für Schweine“. Dabei übersehen sie aber, dass die meisten Menschen dem intellektuellen Vergnügen, den Gefühlen und der Einbildungskraft höheren Wert beimessen als der rein sinnlichen Lust. Nur wenige würden sich in Tiere verwandeln lassen und auf höhere Vergnügen verzichten, selbst wenn sie dafür die höchste Befriedigung körperlichen Verlangens erhielten. Der Grund dafür ist ein Sinn für Würde, den alle Menschen in mehr oder minder ausgeprägter Form besitzen. Wenn einige die niederen Vergnügungen bevorzugen, dann nur, weil sie keine anderen kennen. Auch der häufig vorgebrachte Einwand, Glück sei im menschlichen Leben letztlich unerreichbar, ist nicht stichhaltig. Sicher: Absolutes Glück als Zustand dauernder lustvoller Erregung ist unmöglich. Aber zahlreiche Vergnügen, vor allem solche geistigen Ursprungs, sind durchaus erreichbar, ebenso weitgehende Schmerzfreiheit.

Sich einsetzen für das Glück anderer

Mangelnde Bildung, schlechte soziale Einrichtungen, Selbstsucht und das Fehlen geistiger Kultivierung sind die Ursachen für ein unbefriedigendes Leben. Wer ausschließlich seine eigenen, selbstsüchtigen Interessen verfolgt, erreicht nur kurzfristig Befriedigung, ein flüchtiges Glück. Wer sich aber für seine Mitmenschen einsetzt, kann bis ins hohe Alter glückliche Momente erleben. Ein kultivierter Geist findet an allem Interesse, an der Natur, der Kunst, der Dichtung, an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die größten Übel dieser Welt – Armut, Krankheit, Unfreundlichkeit und Wertlosigkeit – scheinen zwar unter den gegenwärtigen Bedingungen unüberwindbar. Langfristig aber können sie durch menschliche Intelligenz und wissenschaftliche Anstrengungen vollständig ausgemerzt werden. Die größte Befriedigung des Menschen besteht paradoxerweise darin, das Glück anderer unter bewusstem Verzicht auf das persönliche zu befördern. Daher ist nicht das persönliche Glück des Einzelnen, sondern das Glück aller der utilitaristische Maßstab für richtiges Handeln.

Moral muss anerzogen werden

Die alltägliche Moral ist uns durch Erziehung und Gewohnheit so fest eingepflanzt, dass wir sie nicht hinterfragen. Die Verpflichtung, nicht zu morden, zu rauben oder zu betrügen, bedarf keiner weiteren Rechtfertigung. Was aber verpflichtet uns, das allgemeine Glück zu fördern und nicht das eigene zu bevorzugen? Zu den äußeren Motiven zählen: Hoffnung auf Vorteil, Sympathie für unsere Mitmenschen, das Verlangen, von anderen geschätzt zu werden, die Angst, zu missfallen, und nicht zuletzt Gottesliebe und -furcht. Davon zu unterscheiden ist die innere Sanktion dieser Pflicht. Richtig erzogene Menschen – und letztlich ist alle Moral eine Frage der Erziehung – reagieren auf Pflichtverletzung mit innerem Schmerz oder werden durch ihr Gewissen davor zurückgehalten. Moralische Gefühle sind nicht angeboren, sondern anerzogen – deswegen aber nicht weniger natürlich. Ebenso wie das Sprechen, Denken oder Städtebauen gelernt werden muss, obwohl wir die Fähigkeit dazu in uns tragen, so ist die Anlage zu moralischen Gefühlen Teil unserer Natur. Sie kann sich spontan entwickeln und durch Erziehung gefördert werden, aber auch durch frühkindliche Eindrücke im Keim erstickt werden.

Die Zivilisation fördert den sozialen Zusammenhalt

Das stärkste Fundament hat die utilitaristische Moral in den sozialen Gefühlen der Menschen. Das Bedürfnis, mit unseren Mitmenschen einig zu sein, nimmt mit dem Grad der Zivilisiertheit zu. In einer gesunden Gesellschaft wachsen die Menschen in dem Bewusstsein auf, dass ein Zusammenleben nur möglich ist, wenn die Interessen aller gleichermaßen berücksichtigt werden. Sie arbeiten zusammen und identifizieren sich mit einem gemeinsamen Ziel, sind am Wohlergehen ihrer Mitmenschen interessiert und achten deren Besitz. Dieses soziale Gefühl wird durch die ansteckende Kraft der Sympathie sowie durch Bildung genährt und mithilfe äußerer Sanktionen gestützt. Je weiter eine Gesellschaft im Prozess der Zivilisierung voranschreitet, desto natürlicher erscheinen ihr die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens und desto stärker wird das Zusammengehörigkeitsgefühl der Individuen.

„Man kann nur zeigen, dass etwas gut ist, indem man zeigt, dass es ein Mittel zu etwas anderem ist, von dem man ohne Beweis zugibt, dass es gut ist.“ (S. 8)

Im gegenwärtigen, relativ frühen Stadium des menschlichen Fortschritts sind soziale Gefühle nur bei wenigen Individuen stärker ausgeprägt als die selbstsüchtigen Interessen. Denjenigen aber, die sie besitzen, ist die Sorge um andere ein natürliches Bedürfnis, eine innere bindende Kraft, die ganz ohne äußeren Druck wirksam ist. Wenn das soziale Gefühl – ähnlich wie die Religion – schon bei Kindern gefördert und durch Bildungsinstitutionen und öffentliche Meinung verbreitet würde, könnte diese Moral eine ähnliche psychische Kraft entwickeln wie ein religiöses Glaubensbekenntnis. Der Dienst an der Menschheit würde schließlich unser ganzes Denken, alle unsere Gefühle und Handlungen bestimmen. Die einzige Gefahr einer solchen Entwicklung läge darin, die Dienstfertigkeit derart zu übertreiben, dass sie auf Kosten der individuellen Freiheit ginge.

Glück ist der einzige Zweck

Moralische Prinzipien sind nicht belegbar. Der einzige Hinweis darauf, dass Glück als letzter Zweck tatsächlich wünschenswert ist, besteht in der Erfahrung, dass die Menschen es sich eben wünschen. Andere Dinge, die uns wünschenswert erscheinen – z. B. Tugend, Ruhm, Geld oder Macht –, sind entweder bloß Mittel zum Zweck oder selbst Teil des Glücks. Geld etwa dient zunächst nur dem Kauf von Dingen und damit der Befriedigung primitiver Bedürfnisse. Der Wunsch, Geld zu besitzen, kann aber auch Selbstzweck und damit Teil des Glücks werden. Ebenso steht es um Macht und Ruhm: Sie helfen den Menschen, ihre Wünsche zu erfüllen, und sind deshalb so begehrt. Wenn der Wille zur Macht sich von anderen, konkreten Wünschen löst und verselbstständigt, ist er nicht mehr Instrument, sondern ebenfalls Teil des Glücks. Der Utilitarismus toleriert diese Arten von Glücksstreben, sofern sie dem Gemeinwohl nicht mehr schaden als nützen. Dasjenige Glück jedoch, das in tugendhaftem Verhalten und in der Beförderung des Gemeinwohls liegt, ist deutlich höher zu bewerten.

„Diejenigen, die etwas von der Sache verstehen, wissen, dass jeder Autor von Epikur bis Bentham, der den Utilitarismus vertreten hat, Nützlichkeit nicht als etwas von der Lust vollkommen Verschiedenes verstanden hat, sondern gleichzeitig als die Lust selb“

Allerdings gibt es kein ursprüngliches Verlangen nach Tugend. Das Streben danach ist zunächst ebenso eigennützig wie der Wunsch nach Geld, Macht oder Ruhm. Denn Tugend bereitet demjenigen, der sie besitzt, Vergnügen und schützt vor Schmerz; insofern ist auch sie nur ein Mittel zum Zweck. Bei sehr tugendhaften Personen jedoch löst sich das Streben nach Tugend mit der Zeit vom Streben nach Glück. Der Wille, das Richtige zu tun, treibt diese Menschen an, ohne dass sie dabei auf ihren eigenen Vorteil bedacht wären. Man kann diesen unabhängigen Willen zur Tugend kultivieren, indem man schon bei Kindern richtige Handlungen mit Vergnügen, falsche hingegen mit Schmerz verbindet.

Gerechtigkeit und Nützlichkeit

Die meisten Denker lehnen die Lehre vom Glück oder Nutzen als moralischem Maßstab ab, weil sie an die Idee einer natürlichen Gerechtigkeit glauben. Das Gerechte habe seinen eigenen, absoluten Wert, der von jeder Art von Zweckmäßigkeit zu trennen sei, so lautet ihr Argument. Ist aber das Gefühl der Gerechtigkeit, das die Menschen besitzen, ein eigenständiges Gefühl, eine natürliche Gabe wie die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Farben oder von Geschmacksrichtungen? Oder handelt es sich um ein abgeleitetes Gefühl, das letztlich dem allgemeinen Streben nach Nutzen entspringt?

„Menschen haben Fähigkeiten, die weit höher stehen als tierische Triebe, und wenn sie sich dieser bewusst werden, erkennen sie nichts als ihr Glück an, was diese Fähigkeiten nicht mit einschließt.“ (S. 13)

Um dem Ursprung unseres Gerechtigkeitsempfindens auf die Spur zu kommen, müssen wir zunächst definieren, was wir als gerecht oder ungerecht bezeichnen. Ungerecht scheint es uns, jemanden seiner persönlichen Freiheit, seines Eigentums oder seiner gesetzlich verankerten Rechte zu berauben, Versprechen zu brechen, Pflichten zu verletzen und Erwartungen zu enttäuschen. Dagegen finden wir es gerecht, wenn jemand dasjenige Gute oder Schlechte erhält, das er aufgrund seines Handelns verdient. Zu unserer Idee der Gerechtigkeit gehört auch die der Gleichheit. Diese wird freilich oft eingeschränkt, wo es zweckmäßig erscheint: In vielen Ländern, die noch Sklaverei betreiben, haben vor dem Gesetz alle Menschen die gleichen Rechte, das System der Sklavenhaltung aber bleibt unangetastet. Wo gesellschaftliche Unterschiede als nützlich gelten, wird soziale und materielle Ungleichheit offenbar nicht als ungerecht betrachtet. Wer Regierungen für notwendig und zweckmäßig hält, klagt nicht über die Ungleichheit in der politischen Machtverteilung. Einige Kommunisten verlangen, dass die erwirtschafteten Produkte unter allen Mitgliedern der Gemeinschaft gleichmäßig verteilt werden sollten; andere meinen dagegen, diejenigen sollten am meisten bekommen, deren Bedürfnisse am größten sind – und alle können sich dabei auf das Gefühl der natürlichen Gerechtigkeit berufen.

„Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes Schwein, besser ein unzufriedener Sokrates, als ein zufriedener Narr.“ (S. 16)

Das lateinische Wort „justum“ (gerecht) bedeutet ursprünglich „was befohlen wurde“. Es leitet sich also von einem göttlichen oder menschlichen Gesetz ab. Im Lauf der Zeit wurde der Begriff auf Handlungen ausgeweitet, die nicht durch Gesetze reguliert sind. Trotz dieses Wandels ist unsere Vorstellung von Gerechtigkeit immer noch an die Idee des rechtlichen Zwangs und der Bestrafung gebunden. Wir nennen ein Verhalten falsch oder ungerecht, wenn wir glauben, dass einer Person Schaden zugefügt wurde und der Schuldige dafür bestraft werden soll – ganz gleich ob durch Gesetze, die öffentliche Meinung oder sein eigenes Gewissen. Das setzt voraus, dass es ein Recht gibt, eine bindende moralische Verpflichtung, auf die sich jeder Einzelne berufen kann.

„Die Fähigkeit zu edleren Gefühlen ist eine zarte Pflanze, die leicht zerstört werden kann, und nicht nur aufgrund schädlichen Einflusses, sondern auch durch den bloßen Mangel an Pflege.“ (S. 17)

Aufgrund seiner Intelligenz besitzt der Mensch neben Sympathie auch die Fähigkeit, sich mit den Interessen seines Stammes, seines Landes, ja sogar der ganzen Menschheit zu identifizieren. Jedes Verhalten, das die Sicherheit der Gesellschaft bedroht, weckt in ihm den Instinkt der Selbstverteidigung und das natürliche Verlangen nach Strafe. Hierin wurzelt die Idee der Gerechtigkeit.

„Glück ist das vereinzelte helle Aufleuchten des Vergnügens, nicht dessen andauernde und stetige Flamme.“ (S. 20)

Als das Recht einer Person bezeichnen wir einen Anspruch derselben an die Gesellschaft. Dieses Recht ist ein Besitz, den die Gesellschaft für jeden Einzelnen verteidigen muss, und zwar aus Gründen des allgemeinen Nutzens. Denn das größte Interesse jedes Menschen ist Sicherheit. Alle Besitztümer nützen nichts, wenn sie einem jederzeit von einem Stärkeren genommen werden könnten. Gerechtigkeit ist somit kein eigenständiges, für sich existierendes Ding. Sie ist vielmehr abhängig von sozialer Nützlichkeit, sie beruht auf der moralischen Verpflichtung der Gemeinschaft zum Schutz jedes Einzelnen.

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Aufbau und Stil

Mills Schrift Utilitarismus gliedert sich in fünf Kapitel, die zusammen kaum hundert Seiten umfassen. Auf allgemeine Bemerkungen, in denen er auf Vorwürfe von Zeitgenossen eingeht, folgt eine Unterscheidung verschiedener Arten des Glücks. In der ersten Hälfte des Buches steht das Glück des Einzelnen im Vordergrund; im zweiten Teil liegt der Fokus auf den gesellschaftlichen und rechtlichen Folgen, die sich ergeben sollen, wenn man die Glücksmaximierung zum moralischen Prinzip erhebt. Mills Sprache ist knapp und klar, seine Argumentation logisch und sehr dicht, was besonders die Lektüre des letzten, rechtsphilosophischen Abschnitts nicht leicht macht. Immer wieder blitzt zwischen den trockenen Ausführungen Mills Witz auf, etwa wenn er sich polemisch gegen seine Kritiker zur Wehr setzt. Bei aller Nüchternheit und sachlichen Argumentation ist die Leidenschaft, mit der Mill seine Überzeugungen vertritt, in jedem seiner Sätze spürbar.

Interpretationsansätze

  • Grundlage der utilitaristischen Philosophie ist ein strikter Konsequenzialismus: Ob eine Handlung unter moralischen Gesichtspunkten als richtig oder falsch angesehen wird, hängt ganz allein von ihren Konsequenzen ab.
  • Mit seiner Schrift beabsichtigte Mill u. a., den Utilitarismus gegen den Vorwurf des Hedonismus à la Epikur zu verteidigen. Tatsächlich geht Mill über Epikur hinaus. Der antike Philosoph beschrieb den Menschen so, wie er ihn sah: immer bestrebt, Lust zu gewinnen. Mill leitet aus dieser empirischen Feststellung eine normative Forderung ab: Wenn das so ist, dann muss das Streben nach Glück das einzig gültige moralische Prinzip sein, das unsere Handlungen leitet.
  • Utilitarismus ist nicht Egoismus. Das Interesse der Gemeinschaft ist für Mill kein abstraktes Konstrukt. Es setzt sich aus den vielen konkreten Interessen der Einzelpersonen zusammen, von denen jede gleich viel wert ist und die gleichen Chancen haben muss.
  • Trotz seiner Skepsis gegenüber einer Tyrannei der Mehrheit und kollektiver Mittelmäßigkeit sieht Mill die repräsentative Demokratie als ideale Staatsform. Alle Mitglieder einer Gemeinschaft – bei Mill sehr modern: auch die Frauen – sollen unabhängig von ihrem Stand die gleichen politischen Rechte besitzen. Allerdings räumt er der intellektuellen, aufgeklärten Elite eine Vorbildfunktion ein.
  • Mill ist stark vom französischen Philosophen Auguste Comte beeinflusst. Wie dieser erkennt auch er eine Tendenz zum moralischen Fortschritt in der Geschichte. Dieser werde in ferner Zukunft dazu führen, dass sich die Menschen mit den Zielen der Nation und schließlich der gesamten Menschheit identifizierten.
  • Die Kritik am Utilitarismus ist vielfältig: Utilitaristisch ließen sich z. B. Folter oder Mord rechtfertigen, wenn sie der Rettung von Menschenleben dienen. Auch die Idee der Menschenwürde kann mit utilitaristischen Nutzenerwägungen in Widerspruch geraten. Schließlich gibt es innere Unstimmigkeiten in dieser Lehre, z. B. den logisch nicht haltbaren Schluss, dass aus dem Glücksstreben jedes Einzelnen das Streben nach allgemeinem Glück der Gesamtheit folge.
  • Für Mill war das Streben nach Gemeinwohl eine Frage der Erziehung. Die heutige Forschung geht aber davon aus, dass altruistisches Verhalten großteils genetisch bedingt ist und sich während 200 000 Jahren Menschheitsgeschichte als erfolgreicher erwiesen hat als der Egoismus. So scheint unser Sinn für das Glück der anderen weniger eine zivilisatorische, sondern vielmehr eine evolutionäre Leistung zu sein.

Historischer Hintergrund

England im Zeitalter der Industrialisierung

Zwischen 1750 und 1850 erlebte England eine Bevölkerungsexplosion; innerhalb eines Jahrhunderts verdreifachte sich die Einwohnerzahl. Die bäuerliche Landbevölkerung wanderte massenweise in die Städte, um von der einsetzenden Industrialisierung profitieren zu können. Arbeiter- und Mittelschicht erlangten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung. Von politischen Entscheidungsprozessen blieben sie zunächst jedoch ausgeschlossen.

Anders als etwa in Frankreich verlief in England die Entwicklung von einer Adelsherrschaft zur Demokratie relativ gewaltfrei. Die 1832 einsetzende Wahlrechtsreform öffnete das politische System für immer größere Teile der Bevölkerung, die Arbeiter allerdings blieben weiterhin außen vor. Die Reformer traten nicht nur für mehr demokratische Rechte ein, sondern auch für eine stärkere soziale Rolle des Staates. Ihre Anliegen fanden Gehör: Mit ersten sozialpolitischen Maßnahmen wie dem Armengesetz von 1834, Arbeitszeitbegrenzungen für Frauen und Kinder sowie gesundheitspolitischen Regelungen versuchte die Regierung, der wachsenden Verelendung der Arbeiterschaft entgegenzutreten. Diese ersten Reformansätze konnten freilich nicht verhindern, dass England bis in die spätviktorianische Zeit von Armut und Not geprägt blieb.

Entstehung

Seit früher Kindheit war John Stuart Mill von seinem ehrgeizigen Vater James Mill im Geiste des Utilitarismus zum Gelehrten erzogen worden. Erste Vertreter dieser philosophischen Denkrichtung, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen, waren in England u. a. Thomas Hobbes, Francis Hutcheson und David Hume. Systematisch begründet wurde der Utilitarismus allerdings erst durch James Mills engen Freund Jeremy Bentham. Für den liberalen Juristen sollte das Prinzip „des größten Glücks der größten Zahl“ Ziel allen moralischen und politischen Handelns sein. Nicht die Qualität, sondern allein die Quantität des Glücks entschied nach Benthams Auffassung über den moralischen Wert einer Handlung.

Wie John Stuart Mill in seiner Autobiografie berichtet, setzten ihm die strengen väterlichen Erziehungsmethoden arg zu. Ende der 1820er Jahre geriet er in eine schwere Lebenskrise. Die Erfahrung der Depression hatte nach seinen eigenen Angaben weit reichende Auswirkungen auf seine philosophischen Ansichten und seine Vorstellungen von persönlichem Glück. Er entwickelte den Gedanken, dass wahres Glück auf Umwegen, durch Selbstaufopferung und geistige Anstrengung, und nicht auf direktem Weg zu erreichen sei. Und während er grundsätzlich am etwas simplen Utilitarismus James Mills und Jeremy Benthams festhielt, begann er zugleich, das Streben nach Glück differenzierter zu betrachten. So unterschied er im Gegensatz zu seinen Vorläufern zwischen qualitativ höher stehenden, also intellektuellen Vergnügungen und niederen, animalischen Freuden.

Die Kritik am Utilitarismus beschäftigte Mill schon in den 30er Jahren, die Entstehung seiner Verteidigungsschrift des Nützlichkeitsdenkens zog sich allerdings über längere Zeit hin. Die verschiedenen Aufsätze, aus denen Utilitarismus besteht, waren 1854 fertig geschrieben. Nach weiterer Überarbeitung durch den Autor erschienen sie 1861 zunächst kapitelweise in Fraser’s Magazine for Town and Country, 1863 erstmals auch als Buch.

Wirkungsgeschichte

Mills Utilitarismus war in seiner englischen Heimat, in den USA und in Australien sehr erfolgreich und erschien noch zu Lebzeiten des Autors in der vierten Auflage. Bereits 1869 gab es eine deutsche Übersetzung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet der Utilitarismus u. a. aufgrund der Kritik des Cambridger Philosophen George Edward Moore in Verruf und galt in philosophischen Kreisen längere Zeit als überholt. Erst in den 1960er Jahren gewann die Denkrichtung vor allem in der angelsächsischen Welt allmählich wieder an Bedeutung. Bis heute zählt sie dort zu den meistdiskutierten, aber auch umstrittensten Theorien der Moralphilosophie. In Abgrenzung zum klassischen Utilitarismus entwickelte der amerikanische Philosoph John Rawls Anfang der 70er Jahre seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness: Wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten können demnach akzeptiert werden, aber nur unter der Bedingung der Chancengleichheit. Auch Vertreter des klassischen Liberalismus wie Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek wurden von Mill beeinflusst. Letzterer verfasste sogar eine Biografie des englischen Philosophen.

Über den Autor

John Stuart Mill wird am 20. Mai 1806 als ältestes von neun Kindern in London geboren. Sein Vater, der Theologe und Ökonom James Mill, sieht in der Bildung seines hochbegabten Sohnes einen „Wettstreit zur Schaffung eines Genies“. Als guter Freund des Philosophen Jeremy Bentham erzieht er ihn konsequent im Geist des Utilitarismus. Bereits mit drei Jahren erhält John Stuart Mill altsprachlichen Unterricht, er liest schon früh die Klassiker der Philosophie und absolviert mit 13 einen kompletten Kurs in Ökonomie. Der berühmte Ökonom David Ricardo, ebenfalls ein Freund des Vaters, lädt den Jugendlichen zu Spaziergängen ein, auf denen über Wirtschaftspolitik diskutiert wird. Mit 14 reist Mill nach Montpellier, wo er Chemie, Zoologie, Mathematik, Logik und Metaphysik studiert. Er wohnt bei Benthams Bruder Samuel; erstmals in seinem Leben hat er hier Gelegenheit, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu pflegen. Nach seiner Rückkehr nach England erhält Mill auf Betreiben des Vaters 1823 eine gut bezahlte Stelle bei der Ostindien-Kompanie, die es ihm erlaubt, gleichzeitig seinen literarischen Interessen nachzugehen. Ende der 1820er Jahre leidet Mill an einer schweren Depression. Sie bringt ihn dazu, seine Vorstellung vom Glück und seine Ansichten zum Utilitarismus grundsätzlich zu überdenken. Er verschlingt die zeitgenössische Literatur; Goethe und Auguste Comte, der Begründer der Soziologie, prägen sein Denken. Großen Einfluss auf sein Werk übt auch die Feministin Harriet Taylor aus, die er nach dem Tod ihres Ehemanns 1851 heiratet. Neben seinen Tätigkeiten als Angestellter und als Herausgeber der radikal liberalen Zeitschrift London Review arbeitet Mill unermüdlich an seinen Essays und Schriften. In rascher Folge veröffentlicht er Bücher, darunter die Principles of Political Economy (Grundsätze der politischen Ökonomie, 1848) und das berühmte On Liberty (Über die Freiheit, 1859). Nach der Schließung der Ostindien-Kompanie lässt er sich 1858 in Frankreich nieder, kehrt aber ein paar Jahre später vorübergehend in seine Heimat zurück. Als Mitglied des Unterhauses setzt er sich für das Frauenwahlrecht und gegen die Todesstrafe ein. Er stirbt in Avignon am 8. Mai 1873.

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