Honoré de Balzac
Vater Goriot
Diogenes Verlag, 1977
Was ist drin?
Trügerischer Glanz und echtes Elend im nachnapoleonischen Paris – Balzacs mitreißender Roman ist einer der berühmtesten Bausteine aus seiner monumentalen „Comédie humaine“.
- Gesellschaftsroman
- Realismus
Worum es geht
Nur das Geld zählt
Die nachnapoleonische Gesellschaft ist längst untergegangen, aber Balzacs kritischen Zeitroman Vater Goriot liest man noch heute mit großer Spannung und Anteilnahme. Das liegt zum einen an der Dramatik der Handlung und den intelligent-pointierten Beobachtungen, zum anderen aber auch daran, dass viele der zwischenmenschlichen und sozialen Mechanismen, die das Buch vorführt, nach wie vor gebräuchlich sind. Der Roman verschränkt zwei gegenläufige Lebensgeschichten: Der Student Rastignac möchte am Luxus der besseren Kreise teilhaben und beginnt deshalb eine Liaison mit der unglücklich verheirateten Baronin Nucingen. Der Vater dieser Baronin, Goriot, wohnt mit Rastignac unter einem Dach, in derselben ärmlichen Pension. Der alte Goriot hat fast sein gesamtes Vermögen in die Mitgift seiner zwei Töchter investiert und stirbt verarmt und allein, weil für die Töchter nur sein Geld zählt. Balzacs Schilderung menschlicher Niedrigkeiten und Nöte zeigt, was verloren geht, wenn die Gier nach Geld in den Herzen überhandnimmt. Der Roman ist leidenschaftlich geschrieben, aber nüchtern in der Diagnose: Der Mensch, ob arm oder reich, ist leicht verführbar, und dabei kommt ihm die Moral abhanden. Balzac spricht aus eigener Erfahrung: Auch er hat lange um den Eintritt in die Pariser Oberschicht gerungen.
Take-aways
- Vater Goriot gehört zu den berühmtesten Werken des Romanzyklus Die menschliche Komödie von Honoré de Balzac.
- Dabei handelt es sich um ein gewaltiges Sozial- und Sittenpanorama der nachnapoleonischen Zeit, bestehend aus 91 Einzelwerken.
- Vater Goriot verknüpft zwei gegenläufige Schicksale: den gesellschaftlichen Aufstieg des Studenten Rastignac und das elende Ende des ehemaligen Fabrikanten Goriot.
- Der selbstlose Goriot hat seinen zwei Töchtern alles Geld überlassen, um sie gut zu verheiraten.
- Nun lassen die selbstsüchtigen Frauen ihn in einer schäbigen Pension verkommen.
- Rastignac bewohnt dieselbe Pension. Er beginnt eine Affäre mit einer der Töchter Goriots, um sich Zugang zu höheren Kreisen zu verschaffen.
- Goriot stirbt qualvoll, nachdem ihm seine Töchter ein letztes Mal Geld abgeschwatzt haben. Rastignac steht ihm bei, die Töchter sind unpässlich.
- Trotz abschreckender Erfahrungen träumt Rastignac am Ende weiter vom Aufstieg in die feine Gesellschaft.
- Balzac beschreibt eine Welt, in der die Menschlichkeit von der Gier nach Geld ausgezehrt wird.
- Die Komposition des Buches ist unausgewogen, aber Balzacs brillanter Stil, sein Scharfsinn in sozialen Dingen und die ergreifende Geschichte lassen das vergessen.
- Auch der Autor selbst bemühte sich, ein Luxusleben unter Adligen und Neureichen zu führen.
- Legendär geworden ist seine Arbeitswut: Er schrieb die Nächte hindurch, Unmengen von Kaffee hielten ihn wach.
Zusammenfassung
In einer schäbigen Pension
Madame Vauquer führt im Paris des Jahres 1819 eine ärmliche Pension. Unter ihren sieben dauerhaften Mietern sind gescheiterte Existenzen in der Mehrzahl. Eine von ihnen ist Vater Goriot, knapp 70 Jahre alt, ein ehemaliger Nudelfabrikant, der mittlerweile am Rand des Existenzminimums lebt. Innerhalb der bunt gemischten Hausgemeinschaft gilt er als schwächstes Glied, weshalb er häufig verspottet wird. Dabei hat er noch einige Jahre früher wie eine gute Partie ausgesehen. Damals hatte er sich gerade zur Ruhe gesetzt und die besten Zimmer der Pension bezogen, er bezahlte eine entsprechend hohe Miete und verfügte über eine komfortable Ausstattung an Möbeln, Geschirr und Kleidung. Nach und nach schraubte er seine Ausgaben allerdings immer weiter zurück, zog schließlich in ein kleines Zimmer unter dem Dach und versetzte mit der Zeit fast alles Hab und Gut. So macht er nun, nach bald sieben Jahren in der Pension, einen in jeder Hinsicht heruntergewirtschafteten Eindruck. Auch der hochherrschaftliche Damenbesuch der ersten Jahre scheint mittlerweile auszubleiben.
„So sind die Pariserinnen. Wenn ihre Männer ihren wahnsinnigen Luxus nicht bestreiten können, so verkaufen sie sich. Wenn sie sich nicht verkaufen könnten, so würden sie ihren Müttern den Leib aufschlitzen auf der Suche nach neuem Glanz.“ (Vautrin, S. 61)
In Madame Vauquers Pension wohnt auch der Student Eugen von Rastignac, dessen Familie auf dem Land sparsam leben muss, damit der Sohn in Paris die Universität besuchen kann. Eugen beneidet die Oberschicht um ihren Wohlstand und träumt vom gesellschaftlichen Aufstieg. Eine Tante vom Land vermittelt ihm eine Einladung zum Ball der stadtbekannten Gräfin Beauséant, einer ihm unbekannten Cousine. Dort fällt ihm die schöne junge Gräfin Anastasie von Restaud auf. Bei einem Tanz ermuntert sie ihn, sie ruhig einmal zu Hause zu besuchen. Als er beseelt spät nachts vom Ball heimkommt, hört er ein Stöhnen aus Goriots Zimmer. Er späht durchs Schlüsselloch: Der Alte versucht unter Aufbietung aller Kräfte, zwei Schüsseln eines alten Silberservice zu einem Klumpen zu biegen.
Die Tücken der besseren Gesellschaft
Am nächsten Morgen erfährt Rastignac, dass Anastasie von Restaud angeblich von Vater Goriot ausgehalten wird. Tatsächlich hat der Alte das nächtlich traktierte Silber früh zum Pfandleiher getragen und der Gräfin später einen eingelösten Schuldschein zukommen lassen. Eugen mag es kaum glauben. Umso mehr fiebert er dem Besuch bei Anastasie entgegen. Als er ihr schließlich seine Aufwartung macht, beobachtet er sie unfreiwillig im intimen Gespräch mit Vater Goriot. Nachdem dieser das Anwesen durch den Dienstboteneingang verlassen hat, teilt Rastignac seine Audienz zunächst mit dem jungen Edelmann Maxime von Trailles, der offenbar - nach den Blicken der Gräfin zu urteilen - ihr Geliebter ist. Als Eugen dem Grafen von Restaud vorgestellt wird, erwähnt er unvorsichtigerweise Vater Goriot, woraufhin die Stimmung entschieden abkühlt. Nach Rastignacs Abschied weist der Graf seinen Hausdiener an, Eugen künftig nicht mehr vorzulassen.
„Der Mensch ist unvollkommen. Zu manchen Zeiten wird mehr Komödie gespielt, und dann sagen die Dummen, dass die Sittenlosigkeit groß sei. Die Reichen sind auch nicht schlimmer als die Armen: Der Mensch bleibt sich immer gleich, oben, unten und in der Mitte.“ (Vautrin, S. 142)
Rastignac fährt gleich anschließend zu seiner Cousine, der Gräfin Beauséant. Eugen erbittet von ihr Unterstützung beim Eintritt in die Pariser Gesellschaft. Er schildert seinen Fauxpas im Hause Restaud und wird darüber unterrichtet, dass die Gräfin Restaud Vater Goriots Tochter ist. Dann wird dessen Vorgeschichte erzählt: Der Nudelfabrikant, früh verwitwet, liebte seine zwei Töchter immer abgöttisch; fast sein gesamtes Vermögen investierte er in deren Mitgift und reservierte sich selbst nur eine bescheidene Rente. Beide Töchter machten zwar eine gute Partie, sie begannen aber auch bald, sich für den verkommenen Vater zu schämen. Schließlich wiesen ihre Gatten dem Schwiegervater die Tür. Seither suchen seine Töchter ihn nur noch sporadisch in der Pension auf - immer dann, wenn sie Geld brauchen zum Unterhalt ihrer Geliebten. Da Goriots blinde Liebe zu ihnen anhält, ist er inzwischen völlig verarmt. Die Gräfin schlägt Rastignac Folgendes vor: Da Goriots zweite Tochter, die Baronin Delphine von Nucingen, jüngst von ihrem Geliebten verlassen worden ist, solle er, Eugen, versuchen, ihr Herz zu gewinnen. Im Zweifelsfall dürfe er sie auch mit einer Einladung zu einem Ball bei der Gräfin ködern. In jedem Fall werde ihm ein Verhältnis mit einer Frau aus der Gesellschaft entscheidende Türen öffnen.
Versuchungen
Geblendet vom Luxusleben, nimmt sich Rastignac den Eintritt in die höheren Kreise wie ein Großmanöver vor. Er schreibt an seine Mutter und erfleht eine außerordentliche Zuwendung, um davon bessere Kleidung kaufen zu können. Das Studium führt er nur noch pro forma fort. In der Pension erregt er mit der neuen Garderobe Aufsehen. Sein Mitmieter Vautrin bittet ihn um ein Gespräch. Ausführlich und unbarmherzig malt Vautrin ihm die Chancen und Schwierigkeiten des Aufstiegs aus, stellt ihm zugleich die Härten eines bescheidenen Lebens vor, beglückwünscht ihn zu seinem Ehrgeiz und macht ihm schließlich ein eindeutiges Angebot. Es geht um das Mauerblümchen Victorine Taillefer, die, von ihrem reichen Vater verstoßen, mittellos in der Pension lebt. Eugen soll Victorine in sich verliebt machen. Dann will Vautrin dafür sorgen, dass der einzige Sohn des alten Taillefer bei einem Duell stirbt. Plötzlich ohne Erben, würde Taillefer seine Tochter sicher wieder zu sich nehmen, und Rastignac könnte als Gatte eine prächtige Mitgift genießen. Eugen lehnt das Angebot etwas zögernd, aber doch eindeutig ab, weil er Skrupel hat.
„Das Geheimnis der großen, plötzlich angesammelten Vermögen ist ein Verbrechen, das längst in Vergessenheit geraten ist, weil es geschickt genug begangen wurde.“ (Vautrin, S. 149)
Rastignac hat sich mit Vater Goriot angefreundet, seit er um dessen Schicksal weiß. Er lässt sich von ihm den nächsten Balltermin seiner Tochter Delphine angeben. Goriot wird über solche Dinge von den Zofen seiner Töchter informiert und glaubt im Übrigen, beide Töchter würden ihn inniglich lieben und ihn, wenn sie nur dürften, beständig mit Geschenken überhäufen. Am selben Tag hat Rastignac Gelegenheit, die Gräfin Beauséant in die Oper zu begleiten, wo er durch glückliche Umstände Delphine von Nucingen vorgestellt wird. In deren Loge hat er Gelegenheit zu einem trauten Gespräch, das Goriots Tochter unmittelbar für ihn einnimmt. Zurück in der Pension berichtet er Vater Goriot von der Begegnung, worauf dieser erneut in glühende Vaterliebe ausbricht. Eugen richtet einen lieben Gruß von Delphine aus - worum ihn diese allerdings gar nicht gebeten hat.
Liebes- und Geldnöte
Am nächsten Tag wird Rastignac von Delphine in die Oper eingeladen. Er gesteht ihr seine Liebe, und sie schickt ihn mit hundert Francs - ihrem einzigen Besitz, wie sie sagt - ins Kasino. Er gewinnt auf Anhieb 7000 Francs. Delphine erzählt ihm daraufhin, dass ihr Mann sie nicht über ihr eigenes Geld verfügen lasse. Die beiden verleben ein paar schöne Stunden und verabschieden sich zärtlich. Eugen bleibt dennoch mit gemischten Gefühlen zurück. Eine Verbindung mit Delphine würde ihm zwar eine der begehrenswertesten Pariserinnen bescheren, doch keineswegs viel Geld. In der folgenden Zeit gewöhnt sich Rastignac an ein Leben an der Seite von Delphine, inmitten der Pariser Gesellschaft und ihrer Annehmlichkeiten. Er sitzt häufig am Spieltisch, gewinnt und verliert und stürzt sich innerhalb eines Monats in erhebliche Schulden. Eines Abends sitzt er bedrückt im Speisesaal der Pension und macht unversehens Victorine Taillefer schöne Augen. Sie schmilzt dahin. Doch als Vautrin dazukommt und auf sein Angebot anspielt, lehnt Eugen ab. Vautrin bietet ihm Geld an, um seine Schulden zu begleichen. Eugen nimmt es, investiert es noch am selben Abend beim Kartenspiel, gewinnt reichlich und kann Vautrin sofort wieder auszahlen.
„Meine Jugend ist noch rein wie ein wolkenloser Himmel: Berühmt oder reich sein wollen, heißt das nicht bereit sein zu lügen, seinen Nacken zu beugen, sich wieder aufzurichten, zu schmeicheln, zu betrügen?“ (Rastignac, S. 150)
Eugen vertraut sich Vautrin abermals an, weil ihn Delphine fortgesetzt enttäuscht: Trotz ihrer mehr als einmonatigen Beziehung hat sie sich ihm noch nicht hingegeben. Als er Victorine Taillefer erneut näherkommt, kündigt ihm Vautrin für die kommende Nacht das Duell mit Taillefers Sohn an. Eugen würde am liebsten sogleich Vater und Sohn Taillefer benachrichtigen, wird jedoch von Goriot beiseite genommen. Der teilt ihm mit, Delphine und er hätten heimlich eine Wohnung eingerichtet, in der er, Eugen, leben solle, um Delphine ungestört empfangen zu können. Über der Wohnung sei sogar noch ein Zimmer für ihn selbst frei. Außerdem versuche ein Anwalt in Goriots Auftrag, Delphines Mann zur Herausgabe ihrer Mitgift zu verpflichten. Eugen ist hochbeglückt und seine Liebe zu Goriots Tochter entflammt aufs Neue. Gleichzeitig möchte er das geplante Duell vereiteln. Doch Vautrin inszeniert in der Pension spontan einen Umtrunk, bei dem er Rastignac und Goriot Schlafmittel in den Wein kippt.
Mit Goriot geht es zu Ende
Als Eugen spät am nächsten Morgen aufwacht, hat das Duell bereits stattgefunden. Victorines Bruder ist tot, sie selbst wird vom Vater anerkannt werden und über sein Geld verfügen. Eugen widersteht trotzdem der Versuchung, nun ernsthaft um sie zu werben. Vautrin, der Drahtzieher, wird kurz darauf von der Polizei verhaftet. Vater Goriot nimmt Eugen mit zur neuen Wohnung, in der ihn Delphine freudig erwartet. Abermals hat Goriot sich die eigene Rente drastisch gekürzt, um seiner Tochter einen Wunsch zu erfüllen. Entsprechend genießt er den Tag mit Delphine und Eugen. Am kommenden Morgen schickt die Gräfin Beauséant Eugen eine Einladung zu ihrem nächsten Ball, für Delphine und ihn. Mit diesem Trumpf eilt er zu seiner Geliebten - und sein Verlangen wird endlich erhört.
„Es war für einen Menschen von so glühender Fantasie schwer, dieses elegante Leben nicht dem Leben der Entbehrungen vorzuziehen, das er noch am gleichen Morgen hatte ergreifen wollen.“ (über Rastignac, S. 158)
Am nächsten Nachmittag soll der Umzug in die neue Wohnung stattfinden. Doch gegen Mittag taucht Delphine überraschend in der Pension auf. Sie teilt Vater Goriot mit, dass ihr Gatte die Mitgift nicht herausgeben will. Das Geld sei angeblich in langfristige Geschäfte investiert und stünde erst in einigen Jahren zur Verfügung. Vater Goriot geht vor Sorge in die Knie. Nun trifft auch die andere Tochter Anastasie ein. Sie steckt ebenfalls in finanziellen Schwierigkeiten. Um die immensen Schulden ihres Geliebten Maxime zu begleichen, hat sie die Familiendiamanten ihres Mannes verkauft. Der hat davon erfahren und will die Edelsteine erst wieder auslösen, wenn Anastasie auf ihren Vermögensteil verzichtet. Darüber hinaus fehlen noch immer 12 000 Francs, um Maxime von seinen Gläubigern zu befreien. Vater Goriot bricht röchelnd zusammen, sucht aber weiterhin verzweifelt nach einer Lösung zum Besten seiner Töchter. Eugen, der von seinem Zimmer aus die dramatische Unterredung verfolgt hat, stellt Anastasie spontan einen Wechsel über 12 000 Francs aus. Sie verschwindet, ohne noch weiter auf ihren stöhnenden Vater zu achten. Wenig später kommt sie zwar zurück - aber nur, um sich den Wechsel noch unterschreiben zu lassen. Die Töchter gehen. Im Speisesaal stellt der Medizinstudent Bianchon fest, dass Vater Goriot einen sterbenskranken Eindruck macht. Er prognostiziert den Tod für die übernächste Nacht. Abends in der Oper weist Eugen Delphine vorsichtig auf den Zustand ihres Vaters hin. Sie allerdings hängt mit dem Herzen mehr an der jungen Liebe und schwelgt in Vorfreude auf den Ball im Haus der Gräfin Beauséant. Eugen übernachtet in seiner neuen Wohnung. Als er am folgenden Nachmittag in die Pension kommt, um nach Goriot zu sehen, ist dieser bettlägerig. Am Morgen hat er freilich das Haus verlassen, um auch noch die letzte Leibrente zu versetzen. Mit dem erlösten Geld wird Anastasie ihr teures Ballkleid für die kommende Nacht bezahlen können.
Das Ende und ein neuer Anfang
Bianchon und Rastignac pflegen den alten Goriot, ohne viel Aussicht auf Besserung. Gegen Abend erreicht Eugen ein Eilbrief von Delphine, er möge sich nicht für den Ball verspäten. Ein Arzt bestätigt, dass Goriots Tod bald bevorsteht, wenn auch womöglich noch nicht in den nächsten Stunden. Eugen eilt zu Delphine, die gar nicht daran denkt, ihres Vaters wegen auf den Ball zu verzichten. Ihr Liebhaber ist davon zunächst bestürzt, gibt aber bald klein bei. Am Ende der Nacht kehrt er allein in die Pension zurück, um sich wieder Vater Goriots Pflege zu widmen. Bianchon rechnet zwar nicht mehr mit Besserung, dennoch wollen er und Rastignac nichts unversucht lassen. Allerdings fehlt Geld selbst für die einfachste Medizin. Der Pensionsdiener wird am Morgen ausgeschickt, um die Töchter zu alarmieren. Beide lassen sich verleugnen. Als Goriot aus dem Fieberschlaf erwacht, erfleht er inständig die Anwesenheit seiner Töchter, bekennt aber schließlich, dass er deren kalte Eigennützigkeit schon seit Jahren durchschaut habe, sie aber nie habe wahrhaben wollen. In einer langen, mitunter delirierenden Lebensbeichte verflucht er die Töchter für ihre Hartherzigkeit und sich selbst für seine fatale väterliche Dummheit. Rastignac macht sich ein letztes Mal auf, die Töchter zu holen. Doch vergeblich: Anastasie liegt mit ihrem Ehemann im Streit und will das Haus nicht verlassen; Delphine hat sich auf dem Ball erkältet und will erst eine Arztvisite abwarten, bevor sie den Vater besucht. Verzweifelt kehrt Eugen in die Pension zurück. Hart muss er mit der geizigen Pensionswirtin um ein vorzeigbares Leichentuch feilschen. Vater Goriot stirbt wenig später. Im letzten Aufwallen des Fieberwahns glaubt er, die Tränen der beiden Studenten seien die seiner trauernden Töchter. Das Begräbnis findet in ärmlichstem Rahmen statt, denn keine Tochter, kein Schwiegersohn gibt dafür Geld. Vom Friedhof sieht Rastignac auf Paris hinab. Er nimmt sich vor, nun die Stadt zu erobern. Zunächst wird er mit Delphine zu Abend essen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Vater Goriot ist, obwohl kein kurzer Roman, in einem einzigen Textfluss ohne Kapiteltrennungen verfasst. Die Handlung wird weitgehend chronologisch erzählt. Balzac erlaubt sich zunächst die eingehende Schilderung des zentralen Schauplatzes - Madame Vauquers Pension - und seiner Bewohner. Mit solcher Ruhe und in vergleichbarer Ausführlichkeit wird später kein zweiter Ort mehr vorgestellt. Stattdessen gewinnt der Text zunehmend an Fahrt und wird gegen Ende mehr und mehr zu einem mitreißenden Erzählstrom. Dessen Kraft verdankt sich auch manchem gezielt platzierten melodramatischen Effekt. In den Winkelzügen der Dramaturgie spürt man noch etwas vom handwerklichen Verfahren des früheren Kolportage-Autors Balzac, der erst mit der Zeit Werke von literarischem Rang schuf. Das Geschehen wird von einem potenziell allwissenden Erzähler berichtet. Der folgt meist den Wegen des Studenten Eugen von Rastignac und schränkt damit den Wissensstand des Lesers entsprechend ein. Wann immer es Balzac allerdings dramaturgisch geboten erscheint, geht die Erzählung über Rastignacs Horizont hinaus und enthüllt weitere Begebenheiten oder Hintergründe. Dazu dienen gelegentlich Rückblenden und mitunter sogar Vorausschauen. Außerdem kommentiert und bewertet der Erzähler die Taten und Reaktionen seiner Figuren mit psychologischer und soziologischer Finesse. Diese Charakterisierungen und Urteile - oft humorvoll zugespitzt - zielen auf eine soziale Typisierung der handelnden Personen.
Interpretationsansätze
- Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist, dem Buchtitel zum Trotz, Eugen von Rastignac. Der unschuldige Student erhält im Verlauf der Handlung tiefe Einblicke in die Natur des Menschen und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Zwischen dem mörderischen Egoismus Vautrins und dem selbstmörderischen Altruismus Goriots muss er eine eigene Richtung finden. Als einziger schwankender Charakter des Buches verkörpert er das moralische Dilemma angesichts einer unmoralischen Gesellschaft.
- Das Geld ist die wichtigste Triebfeder in der von Balzac beschriebenen Gesellschaft. Es bestimmt über den sozialen Status, korrumpiert die Seelen und lässt die Menschen ihr Eigenstes aus dem Blick verlieren: die Menschlichkeit. Die kaltherzige Fixierung aufs Geld ist bei Balzac keine Klassenfrage: Sie findet sich bei Goriots Töchtern ebenso wie bei seinen Schwiegersöhnen oder bei Madame Vauquer.
- Der Roman ist ein Fresko trügerischer Fassaden. Hinter dem zuvorkommenden Vautrin verbirgt sich ein berüchtigter Verbrecher, hinter dem jämmerlichen Goriot ein Held der Selbstlosigkeit. Vor allem aber verbirgt sich hinter der Luxuskulisse der feinen Gesellschaft eine Welt voller Gier, Missgunst und Erbarmungslosigkeit: Vermeintlich zartbesaitete Seelen saugen den eigenen Vater aus, keine Ehe erscheint als eine Liebesbeziehung, und jeder elegante Auftritt kann sich einem riesigen Schuldenberg oder betrügerischer Geschäftemacherei verdanken.
- Das Buch ist ein kleiner Baustein eines gigantischen Projekts: Balzac arbeitete daran, sein gesamtes Werk von 91 Bänden unter dem Oberbegriff Die menschliche Komödie zu einem enzyklopädischen Sittenporträt seiner Zeit zusammenzufassen. Die Charaktere dieses Romankosmos sind mehr als Individuen: Sie sind, Balzacs fast naturwissenschaftlichem Anspruch zufolge, Typen, die von Milieu, Familie und Umgang ganz ähnlich konditioniert werden wie Tiere von ihrer Umwelt oder dem Rudel.
- Balzac ist ein Hauptvertreter des literarischen Realismus. Romantische Attitüden gestattet er zwar manchen seiner Figuren, aber nicht sich selbst. Bei aller Dramatik strebt er eine wahrheitsgemäße Abbildung der gesellschaftlichen Verhältnisse an.
Historischer Hintergrund
Die Restauration scheitert
1834, zur Entstehungszeit des Vater Goriot, lag die Französische Revolution von 1789 bereits mehr als 40 Jahre zurück. Eine andere Revolution war den Parisern dagegen noch frisch im Gedächtnis: die Julirevolution von 1830. Damals war das Volk gegen antidemokratische Maßnahmen des Königs Charles X. auf die Barrikaden gegangen und hatte ihn damit zur Abdankung gezwungen. Die Deputiertenkammer übernahm vorübergehend die Macht und setzte den Herzog Louis-Philippe aus dem Hause Orléans als neuen König ein; "Bürgerkönig" wurde er genannt. Damit endete die Zeit der Restauration, und die so genannte Julimonarchie wurde errichtet. Die Restauration hatte 1814/15 begonnen, nach Napoleons Weg ins Exil und dem Wiener Kongress. Ihr Name ist auf den Versuch zurückzuführen, das Ancien Régime, die alte Ordnung aus der Epoche vor der Französischen Revolution, wiederherzustellen. Mit Louis XVIII. bestieg 1814 abermals ein Bourbonenkönig den Thron. Er musste jedoch Zugeständnisse an die Errungenschaften der Französischen Revolution machen und konnte nur noch im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie regieren. Die Gesetzgebung wurde einem Zweikammersystem übertragen. Die Mitglieder der so genannten Pairskammer durfte zwar der König ernennen, jene der Deputiertenkammer wurden dagegen gewählt - wenn auch nur von einer schmalen Oberschicht aus Adel und Bourgeoisie. Die gesamte Restaurationszeit hindurch rangen bürgerlich-liberale und royalistisch-konservative Kräfte miteinander um die Vorherrschaft im Land. Die Julirevolution von 1830 war in diesem Machtkampf der radikalste Moment: Sie führte den Sieg der bürgerlichen Fraktion herbei. Im Zuge der liberaleren Julimonarchie verlor der Adel weiter an Einfluss, während Bankiers und Industrieunternehmer zu gesellschaftlichen Schlüsselfiguren wurden.
Entstehung
Vater Goriot entstand während der Julimonarchie, spielt allerdings im Jahr 1819, also noch zur Zeit der Restauration. Als Balzac den Roman verfasste, war er 35 Jahre alt und bereits ein bekannter und beliebter Schriftsteller. Dennoch trug er einen riesigen Schuldenberg mit sich herum, da er erst wenige Jahre zuvor als Geschäftsmann gescheitert war. Darüber hinaus war er ein luxusverliebter Lebemann mit einem Hang zum Aristokratischen, was seinen Kampf gegen die Schulden zu einem Sisyphos-Unternehmen werden ließ. Allerdings arbeitete er mit eisernem Willen und aufzehrender Disziplin daran, seine ökonomische Zwangslage zu verbessern. Seine schriftstellerische Routine ist zur Legende geworden: Er ging stets am frühen Abend zu Bett, stand gegen Mitternacht wieder auf und schrieb unermüdlich bis etwa acht Uhr morgens. Oft arbeitete er auch bis zu 17 Stunden am Stück, immer unter Strom gehalten von Unmengen schwarzen Kaffees und immer angetan mit einer Mönchskutte. Balzac hatte, wiederum aus ökonomischer Not, bereits in den Jahren zuvor verschiedene seiner Bücher neu zusammengestellt und mit Verlegern die Veröffentlichung kompletter Zyklen ausgehandelt. In der Regel brachte er seine Bücher zunächst als Fortsetzungsromane in einer Zeitschrift heraus. So sicherte er sich verschiedene Absatzmöglichkeiten. Während der Arbeit an Vater Goriot, die tatsächlich nur sechs Wochen dauerte, kam ihm eine weitere, entscheidende konzeptionelle Idee: Er ließ einige seiner literarischen Figuren künftig in mehreren Werken auftauchen und ordnete seine weitere Produktion Stück für Stück in ein gewaltiges Panorama der zeitgenössischen französischen Gesellschaft ein, dem er den Obertitel Die menschliche Komödie gab. Anders als Dante mit der Göttlichen Komödie schwebte Balzac kein episches Lehrgedicht vor, sondern eher eine soziologisch grundierte "Artenlehre" vom Menschen nach dem Vorbild der Zoologie. In der Vorrede zu dem unvollendeten Projekt erklärte er: "Die französische Gesellschaft sollte der Geschichtsschreiber sein; ich selbst lediglich der Sekretär."
Wirkungsgeschichte
Vater Goriot erschien im Winter 1834/35 in mehreren Ausgaben der Zeitschrift La Revue de Paris und dann, noch im Jahr 1835, als Buch. Später wurde der Einzelband in die Gesamtanlage der Menschlichen Komödie eingegliedert. Das Buch war beim Publikum erfolgreich wie seinerzeit viele von Balzacs Romanen, wurde allerdings in seinem wirklichen Rang erst später erkannt. Die immense Produktion des Autors und sein konzeptioneller Coup mit der Menschlichen Komödie führten bald nach seinem Tod dazu, dass weniger einzelne Werke als vielmehr die Gesamtanstrengung von literarischem Werk und Leben gepriesen wurden. Von Oscar Wilde etwa stammt das Urteil: "Das 19. Jahrhundert, so wie wir es kennen, ist weitgehend eine Erfindung Balzacs."
Balzac gilt heute unbestritten als einer der bedeutendsten Autoren der französischen Literaturgeschichte. Neben Gustave Flaubert und Stendhal ist er Hauptvertreter des Realismus. Der Naturalist Émile Zola hat später nach Balzacs Vorbild eigene Werke in seinem 20-bändigen Rougon-Macquart-Zyklus zusammengefasst. Mit der Zeit sind freilich auch die kompositorischen und stilistischen Unausgewogenheiten in Balzacs uferlosem Œuvre offenbar geworden. Gerade vor diesem Hintergrund zählt Vater Goriot zu den gelungensten Werken innerhalb des Gesamtzyklus. Es wurde mehrfach verfilmt, erstmals in den USA 1915, dann auch in Frankreich (1921/22 und 1944) sowie in der DDR im Jahr 1951.
Über den Autor
Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 in Tours geboren. Sein Vater, der Sohn eines Bauern, hat sich zum leitenden Beamten hochgearbeitet, seine Mutter stammt aus gutbürgerlicher Familie. 1814 zieht die Familie Balzac nach Paris. Ein Jurastudium bricht der junge Balzac ab, um Schriftsteller zu werden. Lange Jahre ist er erfolglos. Er macht Schulden, die ihn für den Rest seines Lebens drücken werden, als er sich 1826 als Verleger versucht und eine Druckerei kauft, die zwei Jahre später Konkurs anmelden muss. 1829 stellt sich erster schriftstellerischer Erfolg ein, der ihm Zutritt zu Adelskreisen verschafft. Er führt ein Leben über seine Verhältnisse und hat viele Liebschaften mit zumeist verheirateten Damen. 1832 tritt die ukrainische Gräfin Eva Hanska mit ihm in Briefkontakt. Die beiden schreiben sich 18 Jahre lang und sehen sich gelegentlich auf Reisen, bis sie ihn wenige Monate vor seinem Tod schließlich heiratet. Balzac schreibt einen Roman nach dem anderen. Er fasst seine Werke bereits früh in Gruppen zusammen. Während der Entstehung eines seiner bekanntesten Texte, Le père Goriot (Vater Goriot, 1834/35), hat er die Idee, dieselben Romanfiguren in verschiedenen Werken auftreten zu lassen und so ein überschaubares, vielfältig verwobenes Romanuniversum zu schaffen. Das Projekt der Comédie humaine, der Menschlichen Komödie, entsteht mit seinen Großgruppen und Untergruppen und dem Ziel, ein umfassendes Sittengemälde von Balzacs Zeit zu entwerfen. Dafür erlegt sich der Schriftsteller ein unglaubliches Arbeitspensum auf, schreibt oft bis zu 17 Stunden am Tag. 91 der 137 geplanten Romane und Erzählungen kann er fertigstellen. Zu den bekanntesten zählen Illusions perdues (Verlorene Illusionen), Eugénie Grandet, Splendeurs et misères des courtisanes (Glanz und Elend der Kurtisanen) und La peau de chagrin (Das Chagrinleder). Balzac gilt zusammen mit Stendhal und Flaubert als der Begründer des literarischen Realismus in Frankreich. Die ständige Überanstrengung ruiniert seine Gesundheit, er stirbt am 18. August 1850 in Paris.
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