John Locke
Versuch über den menschlichen Verstand
Meiner, 1981
Was ist drin?
Der Verstand kann nichts erkennen, was nicht vorher durch die Sinne gegangen ist, behauptet Locke in seinem Manifest des Empirismus.
- Philosophie
- Aufklärung
Worum es geht
Erkenntnis durch Erfahrung
„Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensibus“ – nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist: Dieser Satz findet sich bereits bei Aristoteles und Thomas von Aquin, aber erst John Locke machte ihn zum Kern seines Denkens. Sein Versuch über den menschlichen Verstand war 1690 in mehrerlei Hinsicht revolutionär, stellte er doch die erste systematische Abhandlung über die menschliche Erkenntnisfähigkeit dar. Was kann der Mensch wissen und wie erlangt er dieses Wissen? Ist die Welt wirklich so, wie sie sich präsentiert? Welche Maßstäbe und Methoden können wir für den Wissenserwerb anwenden? Diese Fragen wurden nach Locke zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Philosophie. Der englische Autor schrieb mit seinem fast tausendseitigen Hauptwerk nicht nur ein neues Kapitel der Erkenntnistheorie, sondern begründete auch gleich eine eigene Schule: den Empirismus, der in Abgrenzung von René Descartes’ Rationalismus betont, dass sich die Erkenntnis aus der sinnlichen Wahrnehmung speise. Das Wissen, so die Empiristen, müsse via Erfahrung in den Geist hineingeschrieben werden wie auf eine „leere Tafel“. Die Frage, wie stark unser Wissen von vererbten oder erlernten Denkmechanismen geprägt wird, beschäftigt Philosophen, Soziologen und Hirnforscher bis heute.
Take-aways
- Der Versuch über den menschlichen Verstand ist John Lockes philosophisches Hauptwerk.
- Inhalt: Entgegen der Behauptung der Rationalisten gibt es keine angeborenen Ideen. Vielmehr gewinnen wir unsere Erkenntnisse über die Welt durch sinnliche Erfahrungen. Komplexe Ideen oder abstrakte Konzepte existieren nicht in der Wirklichkeit, sondern sind lediglich menschliche Kopfgeburten.
- Lockes Versuch richtet sich gegen den von René Descartes begründeten philosophischen Rationalismus.
- Er schuf mit dem Werk die Grundlage für den erkenntnistheoretischen Empirismus.
- Für die Empiristen ähnelt der menschliche Geist bei der Geburt einer leeren Tafel („Tabula rasa“), die nach und nach durch die Erfahrung beschrieben wird.
- Der Sprache gesteht Locke eine entscheidende Rolle bei der Wissensgewinnung zu – und dies lange Zeit vor dem „linguistic turn“ in den Wissenschaften.
- Locke schrieb das Buch bewusst nicht für Gelehrte, sondern appellierte an den „common sense“ der durchschnittlich gebildeten Leute.
- Das Werk zog eine ganze Reihe von Schriften nach sich, die darauf aufbauten, allen voran jene von David Hume.
- Lockes Tabula-rasa-Theorie ist immer wieder als paradox kritisiert worden: Wenn ursprünglich nichts im Verstand ist, so ist doch zumindest der Verstand selbst da und mit ihm angeborene Prinzipien des Denkens.
- Zitat: „Unsere Beobachtung (...) liefert unserm Verstand das gesamte Material des Denkens.“
Zusammenfassung
Die Mär von den angeborenen Ideen
Manche behaupten, es gebe Prinzipien, Begriffe oder Ideen, die allen Menschen angeboren seien. Der Geist erwerbe sie während seiner Erschaffung. Das Argument für solche angeborene Ideen lautet: Es muss sie geben, weil alle Menschen sie teilen. Als Beispiele werden Sätze wie „Was ist, das ist“ und „Nichts kann gleichzeitig sein und nicht sein“ angeführt. Wenn einem diese Prinzipien aber tatsächlich in die Wiege gelegt würden, dann müssten sie auch von Kindern und Schwachsinnigen verstanden werden. Das ist jedoch nicht der Fall. Abstrakte Ideen werden von Kindern – und auch von manchen Erwachsenen – nicht verstanden. Und was für spekulative Sätze gilt, gilt erst recht für praktische Prinzipien. Insbesondere die Leitlinien der Moral werden nicht von allen Menschen gleichermaßen anerkannt. Die Wurzel aller Moraltheorie, der Glaube an Gott oder ein göttliches Wesen, müsste sich doch bei jedem menschlichen Wesen finden lassen, wenn die These der angeborenen Ideen wahr wäre. Aber man hat Kulturen entdeckt, die keinen Gott kennen und auch keinerlei entsprechenden Begriff in ihrer Sprache besitzen. Es bleibt also nur der Schluss, dass es so etwas wie angeborene Ideen und Prinzipien nicht gibt.
Die Wahrnehmung als Ursprung der Ideen
Jeder Mensch hat Ideen, auf die er beim Denken zurückgreift, z. B. „Härte“, „Süßigkeit“, „Mensch“ oder „Trunkenheit“. Wie gelangt man zu solchen Ideen? Wenn der menschliche Geist ein ursprünglich leeres Blatt ist, auf dem sich die Ideen wie Schriftzeichen manifestieren, so gelangen sie durch Beobachtung und Erfahrung auf dieses unbeschriebene Blatt. Erfahrungen kann der Mensch auf zweierlei Weise machen: Einerseits durch die sinnliche Wahrnehmung. Er kann über die Beschaffenheit, die Farbe, den Geruch, den Geschmack und das Aussehen eines Gegenstands zu Erkenntnis erlangen. Andererseits durch Reflexionen des Geistes. Indem er über Wahrnehmungen nachdenkt, entwickelt er neue Ideen, die nicht in der Außenwelt erfahrbar sind. Aspekte wie „glauben“, „denken“, „erkennen“ und „wollen“ gehören dazu. Ideen können einfach oder komplex sein. Komplexe Ideen stellen die Kombination mehrerer einfacher Ideen dar, z. B. die Wärme und die Weichheit von Wachs. Sie lassen sich im Geist wieder aufspalten. Jede Idee, die der Geist einmal erhalten hat, speichert er unauslöschlich. Er kann sich an sie erinnern und sie mit anderen Ideen verbinden.
Verschiedene einfache Ideen
Einfache Ideen lassen sich nicht beschreiben, sie müssen erlebt und erfahren werden. Ein Mann, der nicht weiß, wie eine Ananas schmeckt, kann noch so viel darüber lesen, er weiß es erst, wenn er sie gegessen hat. Es gibt einfache Ideen, die wir nur durch die Wahrnehmungen einzelner Sinne erlangen, z. B. den Klang einer Posaune oder die Farbe Blau. Es gibt aber auch einfache Ideen, zu denen wir über mehrere verschiedene Sinneswahrnehmungen gelangen. Die Form und Größe eines Objekts wird uns beispielsweise durch den kombinierten Einsatz unserer Augen und unseres Tastsinns bewusst. Ideen wie „erinnern“, „unterscheiden“ oder „schließen“ wiederum erlangen wir durch Reflexion. Schließlich gibt es noch Ideen, die sowohl auf sinnlicher Wahrnehmung als auch auf Reflexion beruhen. Dazu gehören etwa die Idee der Existenz und die Idee der Einheit.
„Von keinem Satz lässt sich behaupten, dass er im Geist vorhanden sei, wenn er diesem nie bekannt war, wenn er diesem nie bewusst geworden ist.“ (Bd. I, S. 31)
Wie können wir sicher sein, dass unsere Vorstellung von der Welt richtig ist? Die Ideen sind ja lediglich Denkfiguren in unserem Kopf. Sie brauchen nicht unbedingt mit den Qualitäten der Objekte in der Welt deckungsgleich zu sein. Es ist wie mit Namen und dem von ihnen Bezeichneten: Das Wort „rot“ hat nichts mit dem zu tun, was wir sinnlich als rot empfinden. Grundsätzlich schreiben wir Objekten zwei verschiedene Arten von Qualitäten zu: primäre und sekundäre. Primäre Qualitäten sind untrennbar mit einem Gegenstand verbunden, es sind Eigenschaften wie Festigkeit, Form oder Beweglichkeit. Sekundäre Qualitäten hingegen sind Kräfte, die im Betrachter bestimmte Ideen hervorrufen, z. B. Farben oder Töne. Sie müssen nicht wirklich Qualitäten der Gegenstände sein, sondern sind abhängig von unserer Empfindung.
Komplexe Ideen
Einfache Ideen kann der Geist nicht selbst erschaffen, komplexe hingegen schon. Dabei verwendet er drei verschiedene Verstandesoperationen: Er verbindet einfache Ideen zu komplexen Ideen, er vergleicht zwei Ideen und kommt dadurch zu der Idee einer Relation, oder er trennt eine Idee von allen anderen Ideen, die einen Gegenstand normalerweise begleiten, und kommt damit zur Idee der Abstraktion. Drei Klassen von komplexen Ideen lassen sich unterscheiden:
- Modi bestehen nicht für sich selbst, sie vertreten auch keine realen Gegenstände. Ein Modus ist ein reines Gebilde des Geistes und unterstellt nicht, dass es einen entsprechenden Repräsentanten in der Welt gibt. Zum Beispiel ist die Idee „Dankbarkeit“ kein reales Ding, sondern eine Eigenschaft, die wir einer Person zuordnen. Auch die Idee „Dreieck“ ist nur ein geistiges Konstrukt. Es gibt zwar Figuren, die dreieckig sind, Dreiecke als solche existieren jedoch nicht. Für die Erforschung der Natur sind Modi besonders wichtig. So gehören zu der Idee des Raumes die Modi „Distanz“, „Unendlichkeit“, „Gestalt“ und „Ort“. Auch „Dauer“, „Zeit“, „Zahl“ und „Bewegung“ sind Modi. Gemischte Modi kombinieren mehrere Ideen zu einer neuen: „Schönheit“ verbindet beispielsweise angenehme Formen, Farben und ggf. Klänge. Fast alles, was mit theologischen, philosophischen, juristischen und politischen Themen zu tun hat, wird anhand gemischter Modi dargestellt.
- Substanzen repräsentieren reale Objekte. Oder besser gesagt: Es sind Ideen, die unser Geist mit realen Objekten verknüpft, weil wir die Beobachtung machen, dass diese Ideen die Objekte stets begleiten. Sie sind wie Namen, die etwas bezeichnen, aber die Essenz des Dings nicht wirklich darstellen können. Die Idee „Blei“ steht für das Objekt Blei und schließt Ideen von „grauer Farbe“, „Schmelzpunkt“ und „Festigkeit“ mit ein. Substanzen werden in der Sprache meist durch Substantive benannt.
- Relationen existieren zwischen mindestens zwei Ideen. „Größer“ wäre ein Beispiel für eine Beziehung zwischen zwei Objekten. Auch „Ursache“ und „Wirkung“ fallen in diese Kategorie: Eine bestimmte Kraft (z. B. Hitze) hat eine bestimmte Wirkung (z. B. auf Wachs). Lässt sich das wiederholt beobachten, haben wir es mit einer Relation zu tun.
„Wenn wir uns bei irgendeiner Idee vorstellen können, dass sie angeboren sei, so dürfen wir das in erster Linie und aus vielen Gründen bei der Idee von Gott tun (...)“ (Bd. I, S. 84)
Ideen sind nicht immer klar erkennbar. Nur im optimalen Fall werden sie deutlich, nämlich dann, wenn unsere Wahrnehmung perfekt funktioniert. Sonst erscheinen sie dunkel. Man kann dies mit der Wirkung vergleichen, die Farben im strahlenden Sonnschein oder im Zwielicht haben. Ideen können also deutlich, sie können aber auch verworren sein. Letzteres ist z. B. dann der Fall, wenn der Name, den wir ihnen geben, nicht eindeutig oder sogar irreführend ist. So kennzeichnen die beiden Ideen „Tier“ und „gefleckt“ den Leoparden nur unzureichend. Man könnte auch an einen Luchs denken.
Die Bedeutung der Wörter
Wörter werden als Vermittler der Erkenntnis eingesetzt. Sie stehen für Ideen. Eigennamen sind Wörter für individuelle Gegenstände, z. B. Personen oder geografische, eindeutig zuordenbare Punkte. Ausdrücke wie „Mensch“ oder „Tier“ sind Allgemeinbegriffe. Diese entstehen, wenn man von den individuellen Beschreibungen absieht und immer weiter ins Allgemeine geht. Obwohl alle existierenden Dinge Einzeldinge sind, gibt es weit mehr Allgemeinausdrücke als Eigennamen. Das ist auch vernünftig. Wir hätten gar nicht die geistige Kapazität, uns alle Bezeichnungen zu merken, wenn jedes Einzelding mit einem eigenen Namen belegt wäre. Universalien, so werden die allgemeinen Begriffe genannt, sind immer Konstruktionen des Geistes; es gibt kein konkretes Ding, das durch sie präzis beschrieben würde.
„Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt?“ (Bd. I, S. 107)
Wann fällt nun ein Einzelding unter einen allgemeinen Begriff? Man spricht in diesem Zusammenhang von Wesenheiten. Beispielsweise kann nur „Mensch“ genannt werden, wer von seinem Wesen her ein Mensch ist, also Merkmale des allgemeinen Begriffs „Mensch“ aufweist, und der allgemeinen Vorstellung dessen, was einen Menschen ausmacht, entspricht. „Wesenheit“ ist allerdings ein verschleiernder und unklarer Begriff. Man könnte vereinfacht sagen: Jemand ist ein Mensch, wenn er mit unserer Idee von einem Menschen übereinstimmt.
„Unsere Beobachtung (...) liefert unserm Verstand das gesamte Material des Denkens.“ (Bd. I, S. 108)
Wörter können unvollkommen sein. In diesem Fall kommt die Botschaft beim Hörenden anders an, als sie vom Sprechenden gemeint war. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass Wörter, insbesondere wenn sie gemischte Modi ausdrücken, nicht die richtigen Inhalte transportieren:
- Die Idee hinter einem Wort ist zu komplex, als dass sie allein durch dieses verstanden werden könnte.
- Das Wort hat keinen Maßstab in der Natur, an dem man seine Bedeutung ausrichten kann, oder dieser Maßstab ist unbekannt.
- Die Bedeutung von Wort und bezeichnetem Objekt ist nicht deckungsgleich.
„Alles, was der Geist in sich selbst wahrnimmt oder was unmittelbares Objekt der Wahrnehmung, des Denkens oder des Verstandes ist, das nenne ich Idee (...)“ (Bd. I, S. 146)
Solche Fälle treten auf, wenn der Sprecher die Bedeutung der Wörter nicht vollständig versteht oder Wörter unbeständig gebraucht, sie im falschen Kontext verwendet, sie nicht als Ideen, sondern als die Dinge selbst betrachtet, sie für etwas einsetzt, was sie gar nicht benennen können, oder wenn er Wörter gewohnheitsmäßig mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft, die in Wahrheit nicht besteht. Bei anderen führt das zu Unverständnis.
Umfang und Aufbau des Wissens
Wissen bezieht sich immer auf Ideen. Es ist die Erkenntnis über den Zusammenhang, die Übereinstimmung oder den Widerstreit zwischen Ideen. Vier Formen von Wissen lassen sich unterscheiden:
- Gleichheit/Verschiedenheit: Man stellt beispielsweise fest, dass „rot“ nicht „gelb“ ist.
- Relation: Man setzt zwei Ideen zueinander in Beziehung. So haben z. B. unterschiedliche Dreiecke mit derselben Basis und Höhe denselben Flächeninhalt.
- Koexistenz/Nichtkoexistenz: Man erkennt, dass bestimmte Ideen immer zusammen auftreten, z. B. die Idee „Gold“ und die Idee „feuerbeständig“.
- Übereinstimmung der realen Existenz mit einer Idee: Davon geht beispielsweise der Satz „Gott ist“ aus.
„Eine Idee ist dann deutlich, wenn der Geist sie von allen anderen, die er wahrnimmt, unterscheiden kann.“ (Bd. I, S. 457)
Wissen kann aktuell oder habituell sein. Aktuell ist es, wenn sich eine der vier Formen im derzeitigen Augenblick erkennen lässt. Habituell dagegen heißt: Das Wissen wurde bereits zuvor gewonnen und muss nun bloß noch abgerufen werden, z. B. wenn eine Aussage bereits vor einigen Jahren geprüft und für richtig befunden wurde und heute erneut relevant wird. Wissen kann zudem intuitiv, demonstrativ oder sensitiv sein. Intuitives Wissen fällt uns ganz spontan zu. Wir wissen intuitiv, dass drei größer als zwei ist oder Schwarz nicht Weiß sein kann. Zu demonstrativem Wissen gelangen wir über mehrere Beweisschritte. Der Satz „Die Winkelsumme im Dreieck ist gleich der Winkelsumme zweier rechter Winkel“ kann nur über Zwischenschritte, nämlich die Berechnung der Winkel, bewiesen werden. Schließlich das sensitive Wissen: Dabei handelt es sich um Ideen, die wir in unserem Geist haben, ohne dass sie zwingend von einem Objekt außerhalb unseres Geistes ausgelöst werden.
„Die Menschen setzen voraus, dass ihre Wörter auch Kennzeichen der Ideen im Geiste anderer sind, mit denen sie sich unterhalten.“ (Bd. II, S. 7)
Weil unser Wissen immer an Ideen geknüpft wird, ist es beschränkt. Daher verlassen wir uns manchmal einfach auf Meinungen. Können wir etwas nicht beweisen, so operieren wir mit Wahrscheinlichkeiten, weil wir sonst überhaupt nicht von der Stelle kämen. Wenn wir z. B. jedes Mal erst beweisen wollten, dass wir Nahrung brauchen, würden wir verhungern. Wie sieht es mit unserem Wissen über die Existenz Gottes aus? Obwohl wir keine angeborene Idee von Gott haben, können wir doch mithilfe unseres Verstandes seine Existenz beweisen. Intuitiv können wir erkennen, dass alles Seiende nicht durch Nichts hervorgebracht werden konnte. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Existenz eines Wesens, das mächtiger und größer ist als alles andere und das bereits Ewigkeiten vor allem Sein existiert haben muss – Gott.
Zum Text
Aufbau und Stil
John Locke legt seine Erkenntnistheorie in vier Einzelbüchern dar (die in der vorliegenden Ausgabe auf zwei Bände verteilt sind). Nach der Ausführung seiner Grundthese, dass es keine angeborenen Ideen gebe (Buch I), analysiert er die Art und Weise, wie Ideen ins Bewusstsein dringen (Buch II). Dann widmet er sich der menschlichen Sprache und ihrer Funktion bei der Wissensvermittlung (Buch III), um schließlich den Begriff der komplexen Idee zu erläutern und die Grenzen des Wissens aufzuzeigen (Buch IV). In nahezu jedem Satz ist zu spüren, dass Locke ganz bewusst nicht für Gelehrte schreibt, sondern für den durchschnittlich gebildeten, interessierten Leser. Immer wieder appelliert er an dessen „gesunden Menschenverstand“ – ein Novum in der philosophischen Literatur seiner Zeit. Bei aller stilistischen Leichtigkeit merkt man dem Werk aber auch an, dass der Autor 18 Jahre lang daran laborierte: Einige Passagen sind sehr weitschweifig, häufige Wiederholungen und unpräzise Formulierungen trüben das Bild. Der insgesamt guten Lesbarkeit tut das keinen Abbruch. Locke ist auch nach mehr als 300 Jahren problemlos verständlich.
Interpretationsansätze
- In seiner Kritik an der Lehre von den angeborenen Ideen formuliert Locke einen ausgesprochen aufklärerischen Gedanken: Er vermutet, dass diejenigen, die von angeborenen Ideen sprechen, damit vor allem die kritische Hinterfragung der Ideen ausschließen wollen. Er plädiert dafür, jede Ideologie selbst nachzuprüfen. Das klingt wie eine Vorwegnahme der berühmten aufklärerischen Aufforderung Kants: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
- Lockes Tabula-rasa-Theorie („Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war“) wurde immer wieder als paradox kritisiert: Wenn ursprünglich nichts im Verstand ist, so ist doch zumindest der Verstand selbst da. Und in ihm kann es durchaus, wenn schon nicht angeborene Ideen, so doch zumindest Prinzipien des Denkens geben. Dahingehend argumentiert auch die evolutionäre Erkenntnistheorie: Ein Großteil der menschlichen Erfahrungs- und Wissensmöglichkeiten ist demnach im Erbgut angelegt.
- Als einflussreich für die Philosophie erwies sich Lockes Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten. Als Träger des Effekts der sekundären Qualitäten erwähnt Locke winzige Elementarteilchen und zeigt sich damit von den Atommodellen überzeugt, die zu seiner Zeit gängig waren. Interessant ist, dass diese Überzeugung im Widerspruch zur Immanenzphilosophie steht, die er sonst vertritt: Wenn sich der Geist nur mit sich selbst und seinen Vorstellungen beschäftigen kann, dann lassen sich auch keine Aussagen über primäre Eigenschaften von Dingen machen.
- Weil Locke seinen Gottesbeweis einzig aus Verstandesbedingungen herleitet, gilt er als Vertreter des Deismus. Die Deisten glaubten aus Vernunftgründen an Gott, gingen aber davon aus, dass er sich nach dem Schöpfungsakt nicht mehr in den Lauf der Welt eingemischt habe.
- Modern zeigt sich Locke in seiner Betonung der Sprache. Jahrhunderte vor dem „linguistic turn“ der modernen Wissenschaften stellte er fest, dass die Sprache unser Denken bestimmt. Sie hat großen Einfluss darauf, ob und was wir erkennen können.
Historischer Hintergrund
Die Glorious Revolution in England
Das 17. Jahrhundert war in England von einem fortwährenden Kampf zwischen König und Parlament geprägt; zwischen 1642 und 1649 herrschte sogar Bürgerkrieg. 1685 bestieg Jakob II. den Thron. Da er eine prokatholische Politik verfolgte und sich überdies den französischen Absolutismus zum Vorbild nahm, waren Konflikte vorprogrammiert. Systematisch spielte er die Parteien der Whigs und der Tories im Parlament gegeneinander aus. Die anglikanische Kirche verärgerte er, indem er die katholische Minderheit im Land laufend begünstigte. Da der König keinen Sohn hatte und die Thronfolge auf den protestantischen Wilhelm III. von Oranien übergehen sollte, der mit Jakobs Tochter Maria verheiratet war, hoffte man, der katholische Spuk werde bald zu Ende sein. Dann wurde 1687 bekannt, dass Jakobs Frau schwanger war. Eine katholische Dynastie schien plötzlich möglich. Der Groll der Amtskirche verschärfte sich, als Jakob sieben Bischöfe, die sich ihm widersetzt hatten, in den Tower sperren ließ. Im Juli 1688, einen Monat nach der Geburt des Kronprinzen, baten Jakobs Gegner Wilhelm um Hilfe. Er sollte die katholische Thronfolge mit Gewalt verhindern. Im November des gleichen Jahres landete er mit einer Armee an der englischen Küste und zwang Jakob zur Flucht. Dieser unblutige Umsturz erhielt im Nachhinein den Namen „Glorious Revolution“. Das Parlament bot Wilhelm die Krone Englands unter einer Bedingung an: Er musste die Bill of Rights unterschreiben, ein Papier, das die Rechte des Parlaments stärkte. Wilhelm akzeptierte und wurde 1689 gekrönt. Englands Übergang vom Absolutismus zur parlamentarischen Monarchie war geglückt.
Entstehung
John Locke verdankte René Descartes viele Anregungen – was ihn nicht daran hinderte, dessen rationalistische Philosophie kritisch zu sehen. Die Auffassung, dass es keine dem menschlichen Geist eingeschriebenen Ideen geben könne, formulierte Locke erstmals 1663. Acht Jahre später ermunterte ihn Lord Ashley Cooper, in dessen Dienst er sich zu dieser Zeit befand, seine wissenschaftlichen Theorien und Experimente fortzusetzen. Locke gründete einen Gesprächskreis, in dem nicht nur die Prinzipien der Moral diskutiert wurden, sondern auch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ein Diskussionspapier, das er 1671 erstellte, wurde zur Keimzelle des späteren Werkes Versuch über den menschlichen Verstand. Noch im Herbst desselben Jahres entwickelte er eine weitere Version des Textes. Danach vereinnahmte ihn die Tagespolitik, und er ließ die Arbeit liegen, bis er 1675 aus gesundheitlichen Gründen nach Frankreich reiste. Seine Tagebucheinträge belegen, dass er sich damals intensiv mit Descartes und der materialistischen Lehre des französischen Philosophen Pierre Gassendi beschäftigte. Lockes Gedanken kreisten um die Naturrechtsphilosophie und den rationalistischen Gottesbeweis. 1683 floh er, wie Lord Ashley zuvor, nach Holland, um den Repressalien im eigenen Land zu entgehen, die ihm als Anhänger der Whigs geblüht hätten. Dort stellte er den Versuch über den menschlichen Verstand fertig, den er – der „Glorious Revolution“ sei Dank – 1690 in London publizieren konnte.
Wirkungsgeschichte
Lockes Versuch war in mehrfacher Hinsicht ein herausragendes Buch. Es verkaufte sich gut und erlebte zwischen 1690 und 1714 stolze sechs Auflagen. Locke war einer der Ersten, der eine systematische Abhandlung über die menschliche Erkenntnis schrieb. Damit gab er der Philosophie eine völlig neue Stoßrichtung. Das Buch inspirierte Empiristen, Rationalisten und Idealisten gleichermaßen und erntete ebenso viel Bewunderung wie Kritik. Fast alle großen Philosophen nach Locke beziehen sich irgendwo auf eine im Versuch geäußerte Behauptung. David Hume machte da weiter, wo Locke aufgehört hatte, er verfeinerte dessen Begriffe, äußerte sich allerdings kritisch zu einigen von Lockes Ansätzen, etwa der Unterscheidung einer realen und einer geistigen Welt. Gottfried Wilhelm Leibniz verfasste in direkter Anlehnung an Locke Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Auch Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft und Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre beziehen sich auf Lockes Werk.
Lockes Ideen brachen sich sogar in der belletristischen Literatur Bahn. Seine Lehre, dass sich aus Erfahrungen und Assoziationen neue Bewusstseinsinhalte formen lassen, inspirierten Laurence Sterne im 18. Jahrhundert zu einem Romanexperiment: In Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys führt er das Assoziationsprinzip systematisch ad absurdum, indem er vor lauter Abschweifungen die eigentliche Geschichte vernachlässigt.
Über den Autor
John Locke wird am 29. August 1632 in Wrington, Somerset geboren. Aufgrund guter Beziehungen seines Vaters tritt er 1647 in die angesehene Westminster School ein und lernt dort Griechisch, Latein, Hebräisch, Rhetorik, Politik und Logik. 1652 erhält er ein Stipendium für ein Studium am Christ Church College in Oxford, wo er der scholastischen Erziehung der Zeit entsprechend in Logik, Metaphysik und den klassischen Sprachen unterwiesen wird. Locke hält diese Fächer zwar für Zeitverschwendung, legt aber dennoch 1656 den Bachelor of Arts und 1658 den Magister Artium ab. Er bleibt als Tutor am College und studiert nun die Fächer, die ihn wirklich interessieren: Naturwissenschaften und Medizin. Außerdem beschäftigt er sich in den folgenden Jahren intensiv mit dem Naturrecht, das damals Grundlage jeder politischen Theorie ist. 1667 wird Locke Leibarzt von Lord Anthony Ashley Cooper, dem späteren Grafen von Shaftesbury, und steigt dadurch in die High Society auf. Als Shaftesbury wegen politischer Machtkämpfe ins holländische Exil gehen muss, folgt ihm Locke. In Holland verfasst er den größten Teil seiner Two Treatises of Government (Zwei Abhandlungen über die Regierung), die 1690 veröffentlich werden, im gleichen Jahr wie Lockes erkenntnistheoretisches Hauptwerk An Essay Concerning Human Understanding (Versuch über den menschlichen Verstand). 1688 nach England zurückgekehrt, wird ihm von König Wilhelm III. von Oranien ein Amt im Handelsministerium übertragen. Er lebt und arbeitet im Landhaus von Freunden in Oates, in der Nähe von London. Am 18. Oktober 1704 stirbt Locke.
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