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Vom glücklichen Leben

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Vom glücklichen Leben

Kröner,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Der reiche Philosoph Seneca sagt: Reichtum bedeutet nichts. Und genau darum dürfen Weise ihn nutzen.


Literatur­klassiker

  • Künstlernovelle
  • Biedermeier

Worum es geht

Reichtum ist wertlos. Lasst uns ihn nutzen.

Sei standhaft und gut, folge deinen Prinzipien, begib dich auf den Weg zu Tugend und Weisheit, gib nichts auf Äußerlichkeiten, beherrsche deine Begierden und mache dich nicht zum Sklaven des Geldes – das sind die Kernbotschaften eines fast 2000 Jahre alten Textes, der im 21. Jahrhundert entweder naiv klingt oder aber wie der kluge und radikale Gegenentwurf zum Turbokapitalismus. Seneca vertritt in Vom glücklichen Leben eine Lehre, die der seines Zeitgenossen Jesus Christus in vielem ähnelt. Es gibt da jedoch einen entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz zum Mann aus Nazareth war Seneca unermesslich reich. Während Jesus lehrt, eher gehe ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes eingehe, sieht Seneca es grundlegend anders: Reichtum ist in den Händen eines Weisen am besten aufgehoben, denn ein reicher Weiser kann mehr Tugenden pflegen und mehr Gutes tun als ein armer. Ist das ein halbgarer Akt der Imagepflege oder eine ernst zu nehmende Anleitung zum Glücklichsein? Es ist beides. Und das macht Senecas Vom glücklichen Leben auch heute noch zur sinnstiftenden Lektüre mit Aha-Erlebnissen.

Take-aways

  • Senecas Vom glücklichen Leben gilt als Verteidigungsschrift des Philosophen, der Bedürfnislosigkeit predigte und selbst im Reichtum lebte.
  • Inhalt: Ein glückliches Leben ist ein tugendhaftes Leben. Es ist mit sich selbst und mit der Natur im Einklang. Mithilfe der Vernunft erkennt der Mensch sein Maß und findet Ruhe. Begierden und Laster fördern die Maßlosigkeit. Der Weise sucht keinen Reichtum, doch er akzeptiert ihn, denn nur er kann ihn sinnvoll und tugendhaft verwenden.  
  • Der Text ist als Brief an Senecas Bruder gestaltet, spricht als „halber Dialog“ aber alle Leser an. 
  • Mit seinem Stil, der auf kurze, pointierte Sinnsprüche setzt, schuf Seneca eine neue Rhetorik, die sich vom Vorbild Ciceros absetzte.
  • Seneca stellt sich in die Nachfolge des Sokrates und lässt diesen auch in seinem Text auftreten.
  • Das Werk ist der Schule der Stoa verpflichtet, die sich Vernunft und die Beherrschung von Affekten auf die Fahnen schrieb. 
  • Inhaltlich blickt Vom glücklichen Leben über den stoischen Tellerrand hinaus und schlägt eine Brücke zur Schule des Epikur.
  • Seneca schrieb den Text auf dem Höhepunkt seiner Macht als Mentor des jungen Kaisers Nero. 
  • Die propagierte Abkehr von weltlichen Dingen und die Hinwendung zu inneren Werten wie Tugend und Weisheit zeigt eine große Nähe zum frühen Christentum.
  • Zitat: „Beim Weisen ist der Reichtum Sklave, beim Toren ist er Herrscher.“

Zusammenfassung

Vom Wesen des Glücks

Alle Menschen wollen glücklich sein, das ist ihre Natur. Doch die meisten wissen nicht, auf welchem Weg sie dahin gelangen. Hast, ein Mangel an Muße und an Führern leiten die Suchenden auf die falsche Fährte. Wer der Menge folgt, ohne eigenständig zu urteilen, geht fehl. Mehr noch: Sein Irren bringt auch andere vom rechten Weg ab, denn es kommt oft vor, dass Menschen lieber anderen vertrauen als auf ihr eigenes Urteil. Das Bessere ist daher nicht, was von der Mehrheit bejaht wird, sondern im Gegenteil: Was die Masse der Menschen gutheißt, ist in der Regel das Schlechte.

„Glücklich zu leben, mein Bruder Gallio, wünschen sich alle; aber zu durchschauen, was ein glückliches Leben ausmacht, dafür sind sie blind.“ (S. 1)

Als Stoiker muss man den Vordenkern dieser Schule nicht in allem folgen. Vielmehr sollte man seine eigene Position innerhalb der stoischen Lehre beziehen. Allen stoischen Philosophen ist aber gemeinsam, dass sie ihren Anfang bei der Natur nehmen. Ein glückliches Leben steht mit der Natur im Einklang.

Vernunft ist die Basis

Grundlage für das Erlangen von Weisheit ist ein gesunder Geist. Nur mentale Gesundheit gewährleistet Entschlossenheit, Leidensfähigkeit und Achtsamkeit. Der sittlich gute Mensch legt keinen Wert auf Äußerliches. Wenn wir nicht sinnliche Genüsse, sondern Sittlichkeit zum Ziel unserer Bestrebungen machen, stellen sich Harmonie, Ruhe und Frieden ein. Wer sich seinen sinnlichen Lüsten hingibt, macht sich zu deren Knecht. Freiheit lässt sich nur erreichen, indem man dem Schicksal mit Gleichmut begegnet und sein Inneres dem Äußeren vorzieht.

„Niemand irrt für sich allein, sondern er ist auch Ursache und Urheber fremden Irrtums.“ (S. 2)

Lust und Schmerz sind unzuverlässig. Wer sie überwindet, gewinnt die „Heiterkeit der Seele“. Doch ist Vernunft stets die Voraussetzung für Glück. Nur wer durch die Vernunft teilhat an der Wahrheit, kann glücklich werden. Und wer über Vernunft verfügt, der wird sein Begehren nie auf die Zukunft richten. Glücklich ist der, der sich mit den Umständen seiner Gegenwart einverstanden erklärt.

Vom Verhältnis der Tugend zur Lust

Tugend und Lust schließen sich gegenseitig aus. Das höchste Gut, die Tugend, ist etwas Hehres, Sichtbares, Helles. Sinnliches Vergnügen ist dagegen etwas Verborgenes, Dunkles und Verdorbenes. Tugend ist beständig, Lust flüchtig. Tugend ist fest, Lust dagegen ständig in Bewegung. Sinnliche Eindrücke sollen Hilfsmittel sein, nicht Ziel unseres Handelns. Die Wahrnehmung soll die Vernunft anregen und zu sich selbst zurückführen. So wie die Natur, der Kosmos und die Gottheiten aus sich heraustreten und zu sich zurückkehren, so soll es auch der menschliche Verstand tun. Ist dieser zu sich zurückgekehrt, erlangt er Macht über sich selbst und das Äußere. Auf diese Weise entsteht Einklang. Tugend ist von Einigkeit mit sich selbst geprägt, Laster aber von Uneinigkeit mit sich selbst.

„Weder ist jemand ohne gesunden Verstand glücklich, noch ist der bei gesundem Verstand, der Zukünftiges als das Beste begehrt.“ (S. 7)

Können wir aber nicht Tugend auch genießen, also Lust aus ihr gewinnen? Das ist nicht prinzipiell ausgeschlossen, doch Lust ist nicht das Ziel der Tugend – bestenfalls ein Bonus. Die Tugend genügt sich selbst. Wir erstreben sie um ihrer selbst willen. Dass wir uns an ihr erfreuen, ist eine Zugabe, nicht der Grund dafür, dass wir sie erstreben. Der Weise dämpft seine Lust, denn er hat die Sinnenfreuden nicht herbeigerufen, und er schätzt sie auch nicht übermäßig, wenn sie sich einstellen. Diejenigen, die sich Sinnenfreuden hingeben und sich dabei auf Epikur beziehen, tun Unrecht. Denn sie übersehen, dass bei Epikur – wie auch bei den Stoikern – die Natur das Maß der Lust ist. Die Natur aber ist maßvoll, der Genusssüchtige dagegen maßlos.

„Denn da müssen Tugenden sein, wo Übereinstimmung und Einigkeit sind; Laster sind uneins mit sich selbst.“ (S. 10)

Daher sind alle, die sich in ihrer Genusssucht auf Epikur berufen, Heuchler und für den schlechten Ruf der epikureischen Schule verantwortlich. Sie sind nur auf der Suche nach einem Vorwand, für ihre Schwächen nicht selbst Verantwortung übernehmen zu müssen. Der Genusssüchtige ist nicht Herrscher über seine Lüste, sondern ihr Sklave, denn entweder verursacht ihm der Mangel an Lust Qualen, oder das Zuviel an Lust überfordert ihn. Wie der Jäger das gefangene wilde Tier fürchten muss, so muss der Mensch seine Lüste fürchten, denn diese können ihn jederzeit vernichten.

„Daher sage ich nicht wie die meisten der unsrigen, Epikurs Schule sei eine Lehrerin der Laster, sondern das sage ich: Sie hat einen schlechten Ruf, sie ist übel angesehen. Und das zu Unrecht.“ (S. 15)

Die Freude über die Tugend ist nicht Teil der Tugend selbst, sondern nur deren Folge. Man nehme sie zur Kenntnis, aber nicht zum Leitbild. Wer sich von seinen Gefühlen, von Leid, Trauer und äußeren Umständen der Welt leiten lässt, der hadert mit Dingen, die nicht zu ändern sind. Wer aber jammert und hadert, wird seinen Pflichten nicht gerecht. Seinem Schicksal, der Natur und den Göttern zu folgen – das ist das wahre Wesen der Freiheit. Die Tugend selbst ist göttlich. Wer sie erlangt, erlangt das Höchste. Wer keine Wünsche und Gelüste in Bezug auf die äußere Welt hat, sondern stattdessen alles in sich selbst trägt, was er zu seinem Glück braucht, der ist tatsächlich tugendhaft.

Der Widerspruch von Wort und Tat

Warum aber spricht mancher Philosoph so und handelt anders? Warum gelten die hehren Maßstäbe, die er an den Menschen anlegt, nicht für ihn selbst? Wie kann er einerseits Geringschätzung des Äußeren propagieren, aber andererseits in Reichtum und Überfluss leben? Die Antwort, was Seneca persönlich betrifft, lautet: Er ist kein Weiser. Er ist nicht im Besitz der Tugend, er ist lediglich auf dem Weg zur ihr. Auch erwartet er nicht, die vollkommene Weisheit in seinem Leben noch erreichen zu können. Daher verlange man nicht von einem unvollkommenen Menschen vollkommenes Handeln. Und man soll auch nicht Menschen, die sich auf dem Weg zur Tugend befinden, schlechter machen als solche, die sich nicht auf diesem Weg befinden und diesen Weg auch gar nicht erst einschlagen.

„Wir sind unter einer Königsherrschaft geboren. Dem Gott zu gehorchen, ist Freiheit.“ (S. 18)

Man hat selbst Platon vorgeworfen, nicht so zu leben, wie er es vom Weisen forderte. Doch auch Platon hat nie davon gesprochen, wie er selbst lebt, sondern davon, wie der Mensch generell leben sollte. Die Kritiker der großen Lehrer haben die Tendenz, diese noch unbarmherziger anzugreifen als die Bösen – und das, obwohl das Verdienst dieser Lehrer offensichtlich ist. Das Verhalten des Lehrers wird gewichtiger bewertet als seine Idee, seine Verfehlungen sind Gegenstand der Debatten im Volk, nicht aber der Gedanke des Guten, den er lehrt. Das hat seinen Grund: Es sind vor allem solche Menschen, die selbst gar keinen Begriff von Tugend haben, die die Verfehlungen der Lehrer geißeln. So verleugnen sie nicht nur die Lehrer, sondern die Tugend gleich mit, um selbst ungestörter sündigen zu können.

Reichtum ist ein Mittel, der Tugend zu dienen

Die Philosophen vertrauen nicht auf ihre individuellen Stärken, sondern auf die Natur, die in ihrem Geist waltet. Die Natur treibt den Philosophen auf den Weg zum Höheren und zur Erkenntnis, wie das Leben sein soll. Wer sich diesen Weg ernsthaft vornimmt, der strebt den Göttern nach. Und wenn er auch diesen Weg nicht vollendet, weil seine individuellen Kräfte nicht ausreichen, so soll man doch seinen Versuch würdigen.

„Ich bin kein Weiser, und – um deiner üblen Meinung noch mehr Nahrung zu geben – ich werde es auch nie sein.“ (S. 20)

Wie verhält es sich nun mit dem Reichtum? Ist ein Philosoph, der einerseits Genügsamkeit predigt und andererseits im Reichtum lebt, nicht unglaubwürdig? Nein. Denn der Weise verschmäht den Reichtum nicht. Wenn er es täte, müsste er sich selbst als unwürdig ansehen, ihn zu besitzen. Doch der Weise akzeptiert den Reichtum als Begleiterscheinung, ohne sein Herz an ihn zu hängen. Reichtum ermöglicht es dem Weisen, sein Wissen und seine Wirksamkeit zu vergrößern. So ist der Tugend weit mehr geholfen, wenn ein reicher Weiser seinen Besitz für Gutes verwendet, als wenn ein armer Weiser dies tut. Die einzige Tugend, die der arme Weise sein Eigen nennt, ist die Standfestigkeit. Der reiche Weise dagegen übt zudem noch Großzügigkeit, Zurückhaltung, Maß und auch Sorgfalt gegenüber den Menschen, die ihm anempfohlen sind. Darum wird der Weise, wenn er die Wahl hat, Reichtum statt Armut wählen. Ebenso wird er den starken Körper dem schwachen vorziehen, denn der starke bietet mehr Möglichkeiten, die Tugend zu befördern.

Vom Besitzen und vom Besessensein

Wenn der reiche Mann ohne Tugend fragt, was der Unterschied zum reichen Weisen sei, lautet die Antwort: Der Weise fürchtet den Verlust des Reichtums nicht. Ist der Reichtum verloren, so ist nur dieser verloren, nichts weiter. Für den Weisen hat der Reichtum untergeordneten, dienenden Charakter. Der Weise besitzt den Reichtum, doch der tugendlose Reiche ist von seinem Reichtum besessen. Verliert der Tugendlose sein Geld, verliert er sich selbst.

„Denn der Weise hält sich nicht für unwürdig irgendwelcher Gaben des Schicksals: Er liebt den Reichtum nicht, aber er zieht ihn vor; er nimmt ihn nicht in seine Seele, wohl aber in sein Haus auf, und er verschmäht nicht, ihn zu besitzen, sondern hält ihn zusammen und möchte, dass seiner Tugend größere Mittel zur Verfügung stehen.“ (S. 24 f.)

Der Reichtum des Weisen gründet sich niemals auf Ausbeutung und Verbrechen. Seine Schätze sind nicht auf Kosten anderer angehäuft worden. Sie verdanken sich ausschließlich rechtmäßigen und ehrenhaften Geschäften. Der Philosoph betrachtet seine Güter als Gäste: Sie werden nicht des Hauses verwiesen, aber auch nicht zum Bleiben genötigt. Der Weise wird von seinem Reichtum Teile verschenken: aber nur an gute Menschen oder an solche, die er mit dem Geschenk zum Guten bekehren kann. Schenken gehört zu den schwierigsten Handlungen des weisen Reichen, denn es gilt, nur solche Geschenke zu machen, die auch wirken.

„Bei mir nimmt der Reichtum einen gewissen Rang ein, bei dir aber den höchsten. Schlussendlich: Ich besitze den Reichtum, dich besitzt dein Reichtum.“ (S. 26)

Und wenn der Kritiker fragt, wofür der reiche Weise ein reiches Haus benötigt, dann antworte man ihm: Auch innerhalb der Mauern eines reichen Hauses lassen sich Wohltaten verrichten. Auch dort gibt es Schutzbefohlene, die vom Reichtum des Hausherrn profitieren. Das „frei“ im Begriff „Freigiebigkeit“ stammt nicht daher, dass der Reiche diese den Freien schuldet, sondern daher, dass es sich beim Freigiebigen um eine „freie Seele“ handelt, die ihre Wohltaten spendet. 

„Ich leugne, dass Reichtum ein Gut sei; denn wäre er es, so würde er die Menschen gut machen.“ (S. 29)

Reichtum ist kein Gut an sich. Das lässt sich daran sehen, dass Reichtum nicht alle Menschen gut macht, die ihn besitzen. Der Weise erkennt, dass sein Wesen vom Reichtum unberührt bleibt. Er bildet sich nichts darauf ein, er fühlt sich nicht glücklicher, wenn er Besitz anhäuft. Selbstgefälligkeit ist ihm fremd. Ob als armer oder reicher Mann – der Weise trägt sein Schicksal mit Ruhe und Gelassenheit, er verflucht nicht sein Dasein, hadert nicht mit den Umständen. Und dennoch wird er immer, wenn ihm die Wahl gelassen wird, das Bessere vorziehen: den Reichtum der Armut, die Gesundheit der Krankheit, den Komfort der Anstrengung.

„Beim Weisen ist der Reichtum Sklave, beim Toren ist er Herrscher.“ (S. 31)

Der reiche Mensch, der sich nicht auf dem Weg zur Tugend befindet, sieht seinen Besitz als sein Recht an. Er hängt sich selbst daran, definiert sich über sein Eigentum. Die Selbstverständlichkeit, mit der der reiche Tugendlose sich auf seinen Besitz stützt, blendet aus, dass der Besitz vergänglich ist. So wie der Feldherr im Frieden immer die Möglichkeit eines Krieges bedenkt, so weiß auch der weise Reiche immer um die Vergänglichkeit des Reichtums.

Von der Göttlichkeit der Tugend

Wer Weisheit erlangt hat, der wird nichts auf die Meinungen der Masse geben. Nicht das Bild, das er in der Öffentlichkeit abgibt, interessiert den Weisen, sondern einzig seine tugendhafte Seele. So wie Tempelschänder den Göttern nichts anhaben können, wenn sie deren Altäre zerstören, so kann auch die Masse dem Weisen nichts anhaben, wenn sie ihn und die Tugend selbst verschmäht. So wie Jupiter keinen Schaden nimmt, wenn Dichter ihm Ehebruch zuschreiben, nimmt der Weise keinen Schaden, wenn man seine Sittlichkeit angreift. Unter diesem Angriff leidet nicht der Angegriffene, den Schaden haben vielmehr die Angreifer. Denn durch die Demontage der Tugend bereiten diese nur ihren eigenen Abstieg in die Lasterhaftigkeit vor. Darum soll man die Tugend ehren wie die Götter, und man soll Lehrern folgen, die die Tugend achten und sie lehren, wie man den Priestern der Götter folgt.

„Das seht ihr nicht ein und nehmt eine eurem Zustand unangemessene Miene an, so wie sehr viele ruhig im Zirkus oder im Theater sitzen, die zu Hause schon ein Trauerfall erwartet und die von dem Unheil noch nichts erfahren haben.“ (S. 35)

Mit Sokrates lässt sich sagen, es ist falsch und sinnlos, gegen die Tugend und die Götter zu eifern. Wer gegen ihn, Sokrates, wütete, der tat im Grunde nichts anderes, als dessen Tugend zu stärken. Nirgendwo tritt das Gute sichtbarer hervor als dort, wo man es angreift. So wie man die Härte eines Steines am besten spürt, wenn man auf ihn einschlägt, so ist auch Tugend am besten erfahrbar, wenn man sie angreift.

Die Menschen täten gut daran, die Sinnlosigkeit ihrer Angriffe einzusehen und stattdessen den Blick auf sich selbst zu richten. Denn das Leben ist zu kurz, um es mit Kritik und Missgunst gegenüber den Guten zu verschwenden. Missgunst und Mäkelei verursachen Unruhe in der Seele. Und die wird zudem davon genährt, dass der Mensch nicht bei sich selbst und seiner Gegenwart ist, sondern den Blick stets auf andere und auf die Zukunft richtet.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vom glücklichen Leben ist formal ein Brief Senecas an seinen Bruder Gallio. Er besteht aus 28 Abschnitten auf – je nach Ausgabe – 30 bis 40 Seiten. Der letzte Abschnitt bricht jäh ab, da das Ende nicht überliefert ist. Der erste Teil des Textes behandelt theoretische Grundlagen der stoischen Lehre, der zweite ist eine Rechtfertigung Senecas gegenüber seinen Kritikern. Seneca spricht häufig in der Ich-Form und mit einer direkten Ihr-Ansprache, die sich an unbenannte Kritiker und die anonyme Masse richtet. Einzelne Passagen sind auch in der Du-Anrede verfasst. Der Text besteht zu großen Teilen aus sogenannten Sentenzen, also kurz und knapp gehaltenen Aussprüchen, die eine Lehre transportieren und Allgemeingültigkeit beanspruchen. Der Ton ist belehrend und hat über weite Strecken den Charakter einer Richtigstellung. Ein oft verwendetes Stilmittel sind gehäufte Fragen, die Kritiker dem Autor stellen könnten. Seneca beruft sich auf ältere griechische Philosophen, vor allem Sokrates, und instrumentalisiert diese als Sprachrohr für seine eigenen Aussagen, indem er sie in direkter Rede sprechen lässt. Daneben finden sich vereinzelte Zitate von Ovid und Bezüge auf historische römische Figuren, die er zur Verdeutlichung seiner Argumente heranzieht.

Interpretationsansätze

  • Seneca verfasste Vom glücklichen Leben vor allem, um seinen Lebenswandel zu rechtfertigen. Als reicher und mächtiger Berater des Kaisers Nero wurde er vielfach kritisiert. Seneca wirbt um Verständnis für seine Situation. Er ist sich des Widerspruchs zwischen Leben und Werk bewusst, aber er liefert Argumente, die den Widerspruch abmildern.
  • Der Text schlägt eine Brücke zwischen den verfeindeten philosophischen Schulen der Stoa und des Epikureismus. Mit dem Blick über den Tellerrand der eigenen philosophischen Schule hinaus – der Stoa – öffnet Seneca auch seine eigenen Schriften für die Verwendung nachfolgender Denkschulen – bis hin zum Christentum. Mit Letzterem verbindet Senecas Lehre auch die Abkehr von weltlichen Dingen und die Hinwendung zu inneren Werten wie Tugend und Weisheit.
  • Senecas Argumentation ist nicht konsistent: Zum einen predigt er Gemütsruhe, zum anderen wettert er in aggressivem Ton gegen seine Kritiker. Der Philosoph vergisst hier und da im Ärger über seine Kritiker die eigenen stoischen Grundsätze.
  • Der Stil Senecas ist ein Bruch mit dem damals vorherrschenden Stil Ciceros. Seine verkürzte, pointierte Sprache, die sich immer wieder zu Sinnsprüchen verdichtet, zielt auf eine Verschmelzung von Stil und Aussage. Mit diesem Stil wird die Sprache zur Show – und zum Vorbild für die Form der Predigt.
  • Die Briefform ist als „halber Dialog“ besonders dazu geeignet, die Leser mit direkter Rede anzusprechen. Der Adressat, Senecas Bruder, ist nur Platzhalter für die römische Öffentlichkeit und für zukünftige Leser.
  • Vom glücklichen Leben ist auch der Versuch Senecas, den zunehmend über die Stränge schlagenden Nero auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, und zwar durch das eigene Beispiel.
  • Die von Seneca selbst gewählte Gattungsbezeichnung „Dialog“ knüpft an die klassischen Sokrates-Dialoge an. Der Brief ist keine systematische Bearbeitung des Themas, sondern ein fortgesetztes Nachdenken über den Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln, wie es in den von Platon überlieferten Sokrates-Gesprächen praktiziert wird. 

Historischer Hintergrund

Die Redekunst im römischen Kaiserreich

Die Rhetorik, also die Redekunst, galt im alten Rom als eine der wichtigsten Disziplinen. Zu Zeiten der Republik waren die politische Rede im Senat und die juristische Rede auf dem Forum eine hohe Kunst. Entsprechend war sie zentraler Bestandteil der Erziehung. Großes Vorbild der Redner in der späten Republik war Cicero, der die lange, kunstvolle Satzperiode als stilistisches Ideal etablierte. Nach der Zerstörung der römischen Republik durch Cäsars Alleinherrschaft, nach dessen Tod im Jahr 44 v. Chr. und dem darauf folgenden Bürgerkrieg änderte sich die Funktion der Rhetorik erheblich. Cäsars Nachfolger Octavian (der spätere Kaiser Augustus) trat zwar nicht als Diktator, sondern als „Prinzeps“, also als Erster unter Gleichen auf, doch de facto war er Alleinherrscher. Der Einfluss rhetorisch geschulter Juristen und Senatoren war im Vergleich zur Republik nur noch gering. Octavian bestimmte den Rahmen der Politik und der Gerichtsbarkeit weitgehend selbst. Statt in ausgefeilten Reden in Senatsversammlungen war der bescheidene Schauplatz der Rhetorik nun in der Theorie zu finden. Die rhetorischen Schulen erprobten sich, indem sie fiktive Strafprozesse formulierten und durchspielten. Senecas Vater, Seneca der Ältere, verfasste eine rhetorische Schrift, die sich mit dem ausufernden Stil und zusammenfantasierten Inhalt dieser Praxis kritisch auseinandersetzte – auf Wunsch und zur Belehrung seiner Söhne.

Entstehung

Als er den Brief Vom glücklichen Leben um 58/59 n. Chr. schrieb, war Seneca Vertrauter und Lehrer des jungen Kaisers Nero und einer der wohlhabendsten und mächtigsten Männer Roms. Neros Mutter Agrippina hatte Seneca als Mentor ihres Sohnes unter anderem deswegen installiert, um ihren eigenen Einfluss auf den jugendlichen Kaiser aufrechtzuerhalten. Wie schon die vorher verfasste Schrift Über die Güte, die an Nero adressiert war, ist auch Vom glücklichen Leben zum Teil als Versuch zu verstehen, den Schüler Nero im Hinblick auf dessen ausschweifenden Lebensstil zu mäßigen. Seneca selbst hatte in einer Schmährede auf Neros Vorgänger Claudius – der möglicherweise von Agrippina vergiftet worden war – Neros kommende Kaiserschaft in vorauseilendem Lob als goldene Zeit angekündigt.

Ein weiterer Ausgangspunkt ist Senecas Bestreben, im Kanon der stoischen Schule eine eigene Position abzustecken. Seine für einen Stoiker ungewöhnlich positive Darstellung der Lehren des Epikur sollte klarstellen, dass sich beide Lager keineswegs unversöhnlich gegenüberstehen mussten. Als zentrale Motivation für die Schrift muss allerdings der Umstand angenommen werden, dass Seneca gegenüber seinen Neidern und Kritikern die eigene gehobene Stellung rechtfertigen wollte – inklusive seines immensen Reichtums. Denn bereits zu seinen Lebzeiten monierten viele Römer den Widerspruch von Lehre und Leben des Seneca.

Wirkungsgeschichte

Der Historiker Cassius Dio berichtete im dritten nachchristlichen Jahrhundert über den sogenannten Suillius-Prozess. Besagter Suillius habe Seneca den Widerspruch von Leben und Werk sehr öffentlichkeitswirksam vorgeworfen. So wurde zum Teil bis in die aktuelle Seneca-Rezeption hinein der konkrete Vorwurf eines römischen Zeitgenossen als zentraler Anlass für die Niederschrift von Vom glücklichen Leben angesehen. Das änderte allerdings nichts an der Wirkung des Werks. Senecas Schriften fanden Eingang in den frühchristlichen Kanon wichtiger Bücher. Die stoischen Grundprinzipien – das Streben nach Tugend, die Unwichtigkeit von Reichtum und äußeren Einflüssen, die Schicksalsergebenheit – passten mit Teilen der frühchristlichen Lehre sehr gut zusammen.

Auch der Stil Senecas, die Sentenz und die Briefform wurden in Form von Predigt und apostolischen Briefen im Christentum aufgegriffen. So wurde das Werk Senecas durch Hieronymus in den Katalog christlicher Schriftsteller aufgenommen. Durch einen gefälschten Briefwechsel zwischen Seneca und dem Apostel Paulus wurde Senecas Verbleib im christlichen Kanon durch das ganze Mittelalter hindurch legitimiert. Erasmus von Rotterdam veröffentlichte Neuauflagen von Senecas Werken. Von Erasmus stammt auch die Feststellung über Seneca, es sei „völlig klar, dass er das ernsthaft betrieb, was er lehrte.“ Damit bezog er klar Stellung zu den Vorwürfen, mit denen Seneca sich in Vom glücklichen Leben beschäftigt hatte.

In Deutschland fand Senecas Vom glücklichen Leben zuerst im 17. Jahrhundert bei Martin Opitz Erwähnung. Die von Seneca verwendete Briefform kann als Vorbild für die Essays von Johann Gottfried Herder und Friedrich Schiller gelten. Seit dem späten 20. Jahrhundert findet sich die stoische Idee von der Genügsamkeit und der Konzentration aufs Innere in populärphilosophischen Ratgebern, die oft Passagen aus Vom glücklichen Leben zitieren.

Über den Autor

Lucius Annaeus Seneca wird um das Jahr 1 n. Chr. in Cordoba, damals Hauptstadt der römischen Provinz Baetica, geboren. Er stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus, sein Vater ist ein angesehener Rhetoriker. Senecas Ausbildung in Rom ist umfangreich. Nach einem längeren Aufenthalt in Ägypten aus gesundheitlichen Gründen wird er im Jahr 31 in Rom Quästor und erarbeitet sich in der Regierungszeit von Kaiser Tiberius einigen Ruhm. Nach dessen Tod verbannt dessen Nachfolger Claudius Seneca für acht Jahre auf die Insel Korsika. Grund ist der von Claudius’ Frau Messalina erhobene Vorwurf eines Ehebruchs von Seneca mit einer Rivalin Messalinas am Hof. Claudius’ zweite Frau Agrippina holt Seneca aus der Verbannung nach Rom zurück und macht ihn zum Lehrer ihres Sohnes Nero. Als dieser im Alter von 17 Jahren Kaiser wird, ist Seneca einer der mächtigsten Männer im Staat. Der Beginn von Neros Regentschaft geht als „glückliches Jahrfünft“ in die Geschichte ein. Gemeinsam mit Burrus, dem Leiter der Prätorianergarde, verwaltet Seneca das Reich und wird dabei zu einem der reichsten Männer Roms. Er ist weithin geachtet und verfasst eine Reihe philosophischer Dialoge und Briefe, die der griechischen Schule der Stoiker verpflichtet sind. Zudem schreibt er die einzigen heute noch vollständig erhaltenen Tragödien der römischen Antike. In ihnen entwickelt er seine stoische Philosophie am Beispiel griechischer Charaktere wie Ödipus, Medea oder Herkules. Nach dem Tod von Agrippina, in den Seneca verwickelt gewesen sein soll, zieht er sich Stück für Stück aus dem politischen Leben zurück und verfasst sein Spätwerk, unter anderem naturwissenschaftliche Betrachtungen. Im Zuge der Pisonischen Verschwörung gegen Nero wird Seneca des Verrats beschuldigt und vom Kaiser zum Selbstmord aufgefordert. Seneca fügt sich in sein Schicksal und stirbt von eigener Hand im Jahr 65 n. Chr.

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