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Von der Wahrheit

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Von der Wahrheit

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Was ist drin?

Eine der ganz großen Fragen der Philosophie: Was ist Wahrheit? – Thomas von Aquin lieferte im Mittelalter eine Antwort.


Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Mittelalter

Worum es geht

Die Definition von "Wahrheit"

In allen Jahrhunderten haben sich die Philosophen damit beschäftigt, Definitionen für Alltagsbegriffe zu finden. „Wahrheit“ ist ein solcher Begriff: Wir verwenden ihn Tag für Tag mehr oder minder unreflektiert, doch was genau bezeichnet er? – Thomas von Aquin hat eine überraschend simple Antwort: Wahrheit ist die Übereinstimmung zwischen dem, was wir denken, und dem, was ist. Wenn wir also einen Sachverhalt der Welt richtig erkennen, haben wir etwas Wahres gefunden. So weit, so einleuchtend. Doch beim nächsten Schritt, den Thomas macht – er untersucht, wie wir überhaupt erkennen –, beginnen die Schwierigkeiten: Die mittelalterlichen und antiken Denktraditionen, die das Buch prägen, sind heute kaum noch nachvollziehbar. Allein die Rückführung alles Existierenden auf Gott dürfte in den Augen vieler heutiger Leser hinfällig geworden sein. Obwohl das Werk eine Reihe von Denkern beeinflusst hat, ist seine Bedeutung vor allem eine historische: Die Argumentationen in Von der Wahrheit bieten uns einen interessanten Einblick in eine lang vergangene Epoche und eine ebenso vergangene Art des Philosophierens.

Take-aways

  • Von der Wahrheit ist ein Auszug aus den umfangreichen Vorlesungsschriften des Thomas von Aquin, den Quaestiones (Untersuchungen).
  • Es ist ein Werk der mittelalterlichen Scholastik, die versuchte, die Lehren des Aristoteles mit christlichem Gedankengut zu vereinbaren.
  • Zentrales Thema des lateinisch geschriebenen Textes ist die Frage, was Wahrheit ist und wie wir zu ihr gelangen.
  • Thomas beantwortet den ersten Teil der Frage kurz und knapp: „Wahr ist, was ist.“
  • Alle Wahrheit stammt ursprünglich von Gott und ist auf seine Schöpfung zurückzuführen: Was Gott will – was also existiert – ist wahr.
  • Der menschliche Verstand erhält von den Dingen eine Art Impuls, durch den er deren Wahrheit erkennt.
  • Um die Wahrheit eines Dings zu erfassen, muss sich der Verstand dem Ding angleichen.
  • Die Dinge können auf zweierlei Weise wahr sein: Grundlegend wahr sind sie, weil sie dem göttlichen Verstand angeglichen, also von ihm gewollt sind.
  • In einer zweiten Weise sind sie wahr, wenn sie dem menschlichen Verstand ein wahres Bild von sich vermitteln können.
  • Gott garantiert die Wahrheit der Dinge. Wenn der Mensch diese aber falsch wahrnimmt oder interpretiert, kann er trotzdem zu falschen Erkenntnissen gelangen.
  • Thomas’ Korrespondenztheorie der Wahrheit hat späteren Denkern wie Spinoza, Locke oder Wittgenstein wichtige Impulse gegeben.
  • Erst im 20. Jahrhundert setzte sich die Ansicht durch, dass Wahrheit nicht eine Beziehung von Objekt und Verstand beschreibt, sondern eine Eigenschaft von Aussagen.

Zusammenfassung

Was ist Wahrheit?

Auf Augustinus geht die Definition „Wahres ist das, was ist“ zurück. Man kann die Wahrheit also gleichsetzen mit Existenz oder Seiendheit. Dennoch wird mit dem Satz „Dieses Ding ist wahr“ noch etwas mehr ausgesagt als bloß, dass es existiert. Der menschliche Geist vereint in sich zwei wichtige Kräfte: Die Strebekraft lässt ihn sich dem Guten zuwenden, die Erkenntniskraft dagegen führt ihn zum Wahren. Dabei passt sich der Verstand dem zu erkennenden Ding an. So kann man z. B. eine Farbe erkennen, weil sich der Verstand in einen Zustand versetzt, der der Farbe angeglichen ist. Ein existierendes Ding ist für den Menschen also dann wahr, wenn sein Verstand sich ihm angleicht und das Ding dadurch erkennt. Diese Möglichkeit der Angleichung ist es, die den Begriff des Wahren von dem des Seienden unterscheidet.

„Zuerst wird gefragt: Was ist Wahrheit? Es scheint aber, als sei Wahres ganz dasselbe wie Seiendes.“ (S. 3)

Wahrheit kann also zuerst den Dingen (wenn auch nur als auf den Verstand ausgerichtete Eigenschaft) und dann erst dem Verstand zugeschrieben werden. Das gilt allerdings nur für den „theoretischen“ Verstand, der sich mit der Erkenntnis der äußeren Dinge beschäftigt und von ihnen die notwendigen Erkenntnisimpulse empfängt. Anders verhält es sich mit dem „praktischen“ Verstand, der Begriffe und Dinge erfinden kann, die es außerhalb seiner selbst zuvor nicht gegeben hat. In diesem Fall geht die Wahrheit vom schaffenden, praktischen Verstand aus.

Göttlicher und menschlicher Verstand

Um den Begriff der Wahrheit noch besser zu verstehen, muss man die Beziehungen zwischen göttlichem Verstand, menschlichem Verstand und den Dingen näher betrachten. Der göttliche Verstand ist durch nichts eingeschränkt, er ist das Maß aller Dinge. Natürlich existiert nur das, was dem göttlichen Verstand entspricht, von dem er also will, dass es existiert. Insofern sind alle existierenden Dinge wahr und umgekehrt. Der menschliche Verstand dagegen ist nicht für die Wahrheit der Dinge verantwortlich, vielmehr muss er sich diesen angleichen. Hier geht die Wahrheit also von den Dingen aus.

„Jede Erkenntnis aber vollzieht sich durch eine Anpassung des Erkennenden an das erkannte Ding, und zwar derart, dass die besagte Anpassung Ursache der Erkenntnis ist.“ (S. 9)

Damit lässt sich sagen: Zuerst ist ein Ding durch seine Übereinstimmung mit dem göttlichen Verstand wahr. Auch wenn es keinen einzigen Menschen gäbe, wären die Dinge wahr in Bezug auf Gott. In einem zweiten Schritt sind die Dinge wahr für den Menschen, und zwar in dem Sinne, dass sie eine wahre Einschätzung ihrer selbst im Menschen verursachen.

Erkenntnis und Urteil

Innerhalb des Verstandes ist zwischen zwei Vermögen zu unterscheiden: Erstens ist der Verstand in der Lage, die „Washeit“, also das Wesen eines Dinges zu erkennen. Hierin liegt jedoch noch nicht die erwähnte Angleichung. Denn damit sich etwas einem Ding angleichen kann, müssen sich die beiden zuerst voneinander unterscheiden. Die Angleichung findet daher im zweiten Vermögen des Verstandes statt, nämlich der Fähigkeit, zu trennen und zusammenzusetzen. In diesem zweiten Vermögen bildet sich der Verstand ein Urteil über das erkannte Ding.

„Gemäß der Angleichung an den göttlichen Verstand heißt (ein Ding) nämlich ‚wahr‘, insofern es das erfüllt, wozu es durch den göttlichen Verstand bestimmt ist.“ (S. 17)

Dieses Urteil ist etwas, das nicht vom Ding selbst, sondern allein vom Verstand bewirkt wird, und somit sein eigenes Werk. Im Urteil unterscheiden sich also Verstand und Ding, und im Urteil gleicht sich der Verstand an das Ding an. Das Urteil ist demnach die eigentliche Leistung, durch die der Verstand Wahrheit erkennt. Daher kann man von Wahrheit in Bezug auf den menschlichen Verstand vor allem dann sprechen, wenn er ein richtiges Urteil fällt oder eine zutreffende Definition bildet.

Die erste Wahrheit

Im Gegensatz zum Menschen, dessen Verstand begrenzt ist und für den es verschiedene Wahrheiten von verschiedenen Dingen gibt, kennt Gott nur eine einzige Wahrheit. So, wie es nur eine Zeit gibt, an der alle zeitlichen Dinge gemessen werden, gibt es auch nur eine „erste“ Wahrheit, die allen existierenden Dingen durch ihre Beziehung zum allwissenden göttlichen Verstand innewohnt. Diese Wahrheit bleibt selbst dann bestehen, wenn alle Dinge zerstört werden.

Ewige und zeitgebundene Wahrheiten

Nach der Feststellung, dass es eine erste, ewige Wahrheit gibt, stellt sich nun die Frage, ob außer ihr noch weitere Wahrheiten ewig, d. h. unabänderlich und immer gültig sind. In Bezug auf den göttlichen Verstand sind alle Wahrheiten ewig, denn er hat ja festgelegt, dass sie gelten sollen. Aus der Perspektive des menschlichen Verstandes hingegen sind Wahrheiten an Zeitpunkte gebunden.

„Gemäß der Angleichung an den menschlichen Verstand heißt ein Ding aber ‚wahr‘, insofern es geeignet ist, eine wahre Einschätzung seiner selbst zu bewirken (...)“ (S. 17)

So sind etwa die Sätze „Sokrates saß“, „Sokrates sitzt“ und „Sokrates wird sitzen“ aus der nicht an die Zeit gebundenen, göttlichen Perspektive alle gleich und ewig wahr. Wenn also Sokrates jemals gesessen hat oder jemals sitzen wird, ist auch der Satz „Sokrates sitzt“ aus dieser Perspektive ewig und unabänderlich wahr. Der menschliche Verstand kann jedoch nur die jeweils gültige Zeitform für wahr halten. Wenn ich sehe, dass Sokrates sitzt, urteile ich, dass „Sokrates sitzt“ ein wahrer Satz ist. Steht Sokrates jedoch auf, ist die Äußerung „Sokrates sitzt“ für mich nicht mehr wahr. Von dieser Regel gibt es freilich Ausnahmen: So kann der Mensch auch über in der Zukunft liegende Ereignisse wahre Aussagen machen, solange er sich sicher sein kann, dass sie eintreten werden. Ein Beispiel einer solchen Aussage: „Der Antichrist wird geboren werden.“

Verneinungen und Mängel

Das bisher Gesagte legt den Schluss nahe, dass jede Wahrheit von Gott stammt, also ihren Ursprung in der ersten Wahrheit hat. Das trifft jedoch nicht zu. Denn sonst wäre ja auch der Satz „Der Mensch treibt Unzucht“ wahr aufgrund der göttlichen ersten Wahrheit. Gott kann aber nicht Ursache der Unzucht sein, so wie er überhaupt nicht Ursprung von Mängeln oder Fehlern sein kann.

„Sobald der Verstand aber anhebt, über das erfasste Ding zu urteilen, ist dieses Urteil des Verstandes etwas ihm Eigenes, das nicht im Ding außerhalb zu finden ist.“ (S. 21)

Um zu verstehen, wie solche Aussagen wahr sein können, ohne von der ersten Wahrheit abzustammen, muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, wie Wahrheit in den Dingen und im Verstand auftritt. Die Dinge besitzen Wahrheit in zweierlei Hinsicht: Zum einen liegt ihre Wahrheit in ihrer Übereinstimmung mit dem göttlichen Verstand. Zum anderen sind sie insofern wahr, als sie vom menschlichen Verstand durch Angleichung als wahr erkannt werden. Beide Formen von Wahrheit gelten jedoch nicht für Dinge, die gar nicht existieren, und auch nicht für irgendwelche Mängel. Ein Beispiel: Die Aussage „Dieser Stein ist wahr“ hat zwei Bedeutungen: zum einen, dass dieser Stein existiert (in Übereinstimmung mit dem göttlichen Verstand), zum anderen, dass der Stein im menschlichen Verstand die Erkenntnis seiner selbst verursacht. Der Satz „Diese Blindheit ist wahr“ sagt jedoch etwas ganz anderes aus. Hier erkennt der Verstand die Nichtexistenz von etwas, nämlich des Sehvermögens. Die Blindheit ist weder durch den göttlichen Verstand verursacht, noch übermittelt sie sich wie ein existierendes Ding dem menschlichen Verstand. Der Verstand entwickelt solche Urteile also unabhängig von etwas Existierendem.

Sinnliche Wahrnehmung und Verstand

Bisher wurden lediglich die Zusammenhänge zwischen Wahrheit und Verstand betrachtet. Doch wie verhält es sich mit der Sinneswahrnehmung? Inwiefern können uns die Sinne Wahres oder Falsches vermitteln? Die Philosophen sind sich nicht einig: Bei Anselm findet sich z. B. die Aussage, dass nur der Verstand die Wahrheit erfassen kann, während Augustinus behauptet, Wahrheit sei das, wodurch sich zeigt, was ist; und um feststellen zu können, was ist, also existiert, benötige man die Sinne.

„Wenn auch die Erfassung der Washeit die erste Tätigkeit des Verstandes ist, so hat er durch sie jedoch noch nicht etwas ihm Eigenes, welches der Sache angeglichen sein kann, und daher liegt in ihr nicht Wahrheit im eigentlichen Sinn.“ (S. 25)

Diese widersprüchlichen Schlüsse lassen sich in Einklang bringen, indem man sich vor Augen führt, dass Wahrheit im Verstand und in den Sinnen auf unterschiedliche Weise vorliegt. Im Verstand wird sie durch einen Verstandesakt, ein Urteil, erzeugt. Diese Tätigkeit erfordert, dass der Verstand sich nicht nur des erkannten Dings, sondern auch seiner selbst und seiner Tätigkeit bewusst ist. Der Verstand ist also zur Erkenntnis der Wahrheit fähig, weil er über sich selbst und seine Tätigkeiten reflektieren kann. Nur so kann er sein Verhältnis zum Ding erkennen und sich diesem angleichen.

„Die Wahrheit aber, welche von den Dingen im Verhältnis zum göttlichen Verstand ausgesagt wird, haftet unabtrennbar an ihnen, weil sie nur durch den göttlichen Verstand, der sie ins Sein hervorbringt, Bestand haben können.“ (S. 27)

Die Sinne können zwar Dinge wahrnehmen, und sie erkennen darüber hinaus, dass sie sie wahrnehmen. Eine wirkliche Reflexion über ihr eigenes Wesen und ihre Tätigkeit ist ihnen jedoch nicht möglich. In gewisser Weise bleibt ihre Erkenntnis der Wahrheit passiv und auf das Äußere bezogen, weil sie nicht bis zur eigenen Natur durchdringt.

Falschheit

Die eingangs eingeführten Definitionen legen nahe, dass es nichts Falsches geben kann. Denn wenn der Satz „Wahr ist, was ist“ uneingeschränkt gilt, dann muss alles, was existiert, wahr sein, und alles, was falsch ist, kann nicht existieren. Folglich gibt es nichts Falsches. Natürlich muss dieses Argument einen Haken haben: Wir wissen ja, dass wir uns täuschen können, dass es falsche Aussagen und Urteile gibt.

„Die Wahrheit, die verbleibt, wenn die Dinge zerstört sind, ist die Wahrheit des göttlichen Verstandes. Und diese ist schlechthin der Zahl nach eine.“ (S. 31)

Wie verhält es sich also mit der Falschheit? Zunächst muss wieder einmal zwischen der Hinordnung der Dinge auf den göttlichen Verstand und ihrem Verhältnis zum menschlichen Verstand unterschieden werden. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie sich das Verhältnis zwischen einem Ding und dem göttlichen Verstand verstehen lässt. Erstens kann man es als das Verhältnis eines Gemessenen zu seinem Maß auffassen. In dieser Perspektive ist das Ding dem göttlichen Verstand angeglichen, weil er es entworfen, geschaffen hat. Aber auch Mängel oder Fehler können dem göttlichen Verstand angeglichen sein: In diesem zweiten Fall ist das Verhältnis wie das eines Erkannten zum Erkennenden. Denn natürlich erkennt Gott auch Verneinungen und Mängel, obwohl er sie nicht verursacht hat. Daraus folgt, dass die Nichtexistenz eines Dings ebenfalls auf eine bestimmte Art dem göttlichen Verstand angeglichen ist, denn er weiß ja, dass dieses Ding nicht existiert. Da insofern wirklich alles dem göttlichen Verstand angeglichen ist, gibt es für ihn tatsächlich nichts Falsches.

„Er (Gott) besitzt nämlich nicht verschiedene Erkenntnisse von den verschiedenen Dingen, sondern erkennt alles in einer einzigen Erkenntnis (...)“ (S. 37)

Anders verhält es sich mit dem menschlichen Verstand: Hier kann ein Ding bewirken, dass der Verstand es auf die falsche Weise wahrnimmt oder dass die Sinne die Eigenschaften des Dings nicht richtig erkennen. Ein Beispiel ist das so genannte falsche Gold: Es sieht aus wie Gold, und deshalb kann der Mensch zu der Überzeugung gelangen, es handle sich tatsächlich um solches. Diese Wirkung des Dings ist natürlich keine absichtliche Täuschung und führt nicht notwendigerweise ein falsches Urteil herbei. Die Falschheit liegt nicht im Ding, sondern im Urteil, das der Verstand vorschnell über das Ding fällt.

Falsche Sinneswahrnehmungen

Unsere Erkenntnis der Dinge beginnt mit einer Sinneswahrnehmung und wird im Verstand vollendet. Die Sinne sind also eine vermittelnde Instanz zwischen den Dingen und dem Verstand. Sie können im Hinblick auf den Verstand eine wahre oder eine falsche Erkenntnis bewirken. In diesem Zusammenhang kann man die Sinne also auch als „Ding“ verstehen, das entweder zu einer wahren oder einer falschen Erkenntnis führen kann. Nun muss unterschieden werden, ob die Sinne dem Verstand ihren eigenen Zustand vermitteln oder aber äußere Gegenstände. Im Hinblick auf den eigenen Zustand können sie den Verstand nicht trügen: Entweder sind sie in diesem Zustand oder nicht. Die äußeren Dinge können von den Sinnen jedoch sehr wohl falsch dargestellt werden, etwa wenn sie einen Gegenstand nur flüchtig oder ungenau erkennen.

Falsche Verstandesurteile

Der Verstand erkennt das innere Wesen der Dinge, während die Sinne nur deren äußere Erscheinung wahrnehmen. Die Erkenntnis des Wesens, der Washeit, ist das eigentliche Hauptvermögen des Verstandes. Dieses Vermögen kann sich nicht täuschen, da die Wahrheit ja von den Dingen selbst stammt. Daneben besitzt der Verstand jedoch auch ein zusammensetzendes und trennendes Vermögen, also die Fähigkeit, zu schlussfolgern und zu urteilen. Bei dieser zweiten Tätigkeit kann es durchaus zu Fehlern kommen, insbesondere wenn ein Urteil nicht wohlerwogen und aus sicheren Grundlagen gewonnen wird.

Zum Text

Aufbau und Stil

Von der Wahrheit (De veritate) ist ein Auszug aus der größeren Schrift Quaestiones. Dabei handelt es sich nicht um eine philosophische Abhandlung im eigentlichen Sinn, sondern um die Niederschrift der Inhalte verschiedener Vorlesungen, die Thomas während seiner Lehrtätigkeit gehalten hat. Die klassische Form akademischer Vorlesungen veränderte sich im 13. Jahrhundert grundlegend. Immer mehr setzte sich die Lehrmethode der Disputation oder Quaestio durch, die bei einschlägigen Quellen ansetzte, vor diesem Hintergrund verschiedene Einzelfragen aufwarf und diese anschließend im Plenum erörterte. Der Ablauf einer solchen Veranstaltung schlägt sich deutlich in der Textform von Von der Wahrheit nieder. Am Anfang jedes der zwölf Artikel wird eine Frage aufgeworfen, die mit dem Begriff der Wahrheit in Verbindung steht. Dann werden die Meinungen der wichtigsten damaligen Autoritäten – Augustinus, Anselm von Canterbury und Aristoteles – einander gegenübergestellt. Im Anschluss daran wird versucht, auftretende Widersprüche zu klären und schließlich eine eigene Antwort auf die Frage zu finden. Führt man sich dieses Vorgehen vor Augen, wird schnell deutlich, warum sich der Inhalt der Erörterungen dem philosophischen Laien so vehement verschließt: Thomas wendet sich mit einem schwierigen, abstrakten Thema an eine Leserschaft, die nicht nur die einschlägigen Quellen kennt, sondern sich bereits selbst intensiv mit den zentralen Fragen beschäftigt hat. Dem heutigen Leser dagegen müssen Begriffe wie „Seiendheit“, „Washeit“ usw. in hohem Maße fremd vorkommen – und durch den verschachtelten Stil werden sie nicht eben verständlicher. Von der Wahrheit ist also ein Text, der eine intensive Lektüre verlangt und zumindest philosophische Grundkenntnisse voraussetzt, dann aber auch einen tiefen Einblick ins mittelalterliche Philosophieren gewährt.

Interpretationsansätze

  • Thomas entwickelt, wie schon Aristoteles, eine Korrespondenztheorie der Wahrheit. Sie geht davon aus, dass Wahrheit auf der Übereinstimmung zwischen Gegenstand und menschlichem Verstand beruht. Dieser Ansatz war bis ins 20. Jahrhundert die Standardantwort auf das Problem.
  • Mit der Wahrheitsfrage eng verbunden ist die Erkenntnistheorie: Thomas erläutert, wie der Mensch seine Erkenntnisse gewinnt und wie der Verstand arbeitet. Dabei unterscheidet er zwischen einem Verstandesvermögen, das die Gegenstände und ihre Natur erkennt, und einem zweiten, trennenden und zusammensetzenden Vermögen, das es dem Menschen erlaubt, über das Erkannte zu urteilen. Diese Auffassung vom Aufbau und der Tätigkeit des Verstandes findet sich noch in der frühen Neuzeit, etwa bei René Descartes.
  • Zentral ist Thomas’ Anbindung des Wahrheitsbegriffs an Gott: Viele Argumentationslinien des Texts beruhen auf der im Mittelalter üblichen Annahme, dass Gott alle Dinge geschaffen hat und somit auch Garant für deren Wahrheit ist. Für die meisten heutigen Leser ist dieser Gottesbezug unbefriedigend.
  • Unterschwellig vorhanden ist – wie in fast jeder mittelalterlichen Schrift – das Problem der Theodizee: Wenn wir von einem perfekten Gott geschaffen sind, warum machen wir dann Erkenntnisfehler? Kein Denker des Mittelalters konnte dieses Problem lösen, auch nicht Thomas von Aquin.
  • Thomas’ Ontologie (Lehre vom Seienden) ist heute überholt. Thomas schreibt den Dingen besondere Eigenschaften zu, wie etwa die Fähigkeit, etwas im menschlichen Verstand zu bewirken, was wir heute in dieser Form nicht mehr annehmen.

Historischer Hintergrund

Die römische Kirche im 13. Jahrhundert

Anfang des 13. Jahrhunderts erlangte die römische Kirche bislang unerreichte weltlich-politische Macht. Nicht mehr zufrieden damit, nur in religiösen Belangen das Sagen zu haben, hatten die Päpste seit Innozenz II., also schon rund 100 Jahre vorher, versucht, ihren Vorrang gegenüber den christlichen Königen und schließlich auch gegenüber dem Kaiser durchzusetzen. Im Jahr 1220 wurde Friedrich II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt. Anders als seine Vorgänger kümmerte er sich während seiner Regierungszeit vornehmlich um die Belange Italiens, vor allem um die Befriedung des umkämpften Königreichs Sizilien. Natürlich waren auf diesem Boden Auseinandersetzungen mit der ohnehin machthungrigen Kirche vorprogrammiert. Friedrich mischte sich immer wieder in römische Belange ein und wandte sich wiederholt gegen den Papst. Auf dem Konzil von Lyon 1245 verkündete Innozenz IV. schließlich die offizielle Absetzung Friedrichs als Kaiser und König von Sizilien – eine drastische Zurschaustellung der kirchlichen Machtposition. Friedrich widersetzte sich hartnäckig, starb jedoch 1250 überraschend. Damit stand dem Papst keine ebenbürtige, weltliche Macht mehr gegenüber. Italien verlor schnell den Zusammenhalt und zersplitterte sich in mehrere kleine Staaten. Doch auch das Papsttum ging letztlich geschwächt aus der Auseinandersetzung hervor: Nicht nur der Krieg gegen Friedrich, auch die Kreuzzüge hatten ungeheure Summen verschlungen. Die Sonderabgaben, mit denen die Kriege von der Kirche finanziert worden waren, hatten das Volk schwer belastet und ließen bald kritische Stimmen aufkommen, welche die moralische Autorität des Papstes infrage stellten. Außerhalb der Kirche waren es vor allem die Glaubensbewegungen der Waldenser und Katharer, die eine Reform forderten (und dafür als Ketzer verfolgt wurden); innerhalb der Kirche strebten die Franziskaner und Dominikaner eine Rückkehr zu den Grundsätzen des Evangeliums an.

Entstehung

Das 13. Jahrhundert brachte Europa einen wahren Boom der Wissenschaften. Die akademische Welt rückte näher zusammen und konzentrierte sich in den zahlreichen neuen Universitäten. Die Scholastik, eine Geistesbewegung, die sich vornehmlich mit den gerade erst wiederentdeckten Schriften des Aristoteles beschäftigte, prägte die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit. Diese bestand in erster Linie in der Beschäftigung mit Werken der Vergangenheit, die zueinander in Verbindung gesetzt wurden. In dieser Atmosphäre der scholastischen Gelehrsamkeit verfasste Thomas von Aquin seine Texte. Von der Wahrheit ist eine nachträgliche Zusammenfassung von Teilen seiner Vorlesungen. Das Werk zählt zu Thomas’ frühen Schriften und entstand zwischen 1256 und 1259, als er in Paris unterrichtete. In seiner Funktion als Lehrmittel nimmt der Text natürlich ausdrücklich Bezug auf die wichtigsten geistigen Autoritäten der damaligen Zeit. Zu Thomas’ Vordenkern zählen u. a. Anselm von Canterbury und Augustinus. Auf ihre Schriften stützt er sich an mehreren Stellen. Typisch für die Scholastik ist daneben die beinahe ehrfürchtige Rückführung der eigenen Erkenntnisse auf Aristoteles, der im Text nur „der Philosoph“ genannt wird. In diesem Zusammenhang beruft sich Thomas auch auf die muslimischen Kommentatoren des antiken Denkers, allen voran Avicenna. Thomas sieht, wie in jener Zeit üblich, die Thesen seiner Vorgänger als feste Wahrheit an und versucht, die Widersprüche zwischen ihnen durch geschickte Definitionen und Deutungen auszugleichen.

Wirkungsgeschichte

Thomas von Aquin wurde bereits zu Lebzeiten hoch verehrt, nach seinem Tod rege rezipiert und 1323 heiliggesprochen. Der an seinen Lehren orientierte Thomismus blieb jedoch eine mäßig bedeutsame theologische Schule. Heute, nach mehr als 700 Jahren, scheint Thomas’ Schrift Von der Wahrheit keine besondere Relevanz mehr zu haben. Dennoch ist der Rang des Werks nicht zu unterschätzen: Durch Thomas und andere mittelalterliche Denker wurde die neuzeitliche Philosophie überhaupt erst möglich. Die Scholastik legte den Grundstein für die Beschäftigung mit den antiken Klassikern, für die Form der philosophischen Lehre – und nicht zuletzt auch für das Projekt der Aufklärung, welche die Wissenschaft auf die Grundlage des Verstandes stellte und Gott aus der Erkenntnistheorie strich. Auch im Kleinen kann man Thomas’ Werk als Vorwegnahme späterer Theorien begreifen: Seine Unterscheidung zwischen Verstandes- und Sinneserkenntnis z. B. kann durchaus als erster Schritt zur Unterscheidung von Rationalismus und Empirismus gesehen werden. Die von Thomas vertretene, aber schon auf Aristoteles zurückgehende Korrespondenztheorie der Wahrheit hat späteren Denkern wie Baruch de Spinoza, John Locke und Ludwig Wittgenstein wichtige Impulse gegeben. Erst mit Alfred Tarski, Bertrand Russell und Karl Popper setzte sich im 20. Jahrhundert die Sichtweise durch, dass Wahrheit weniger eine Eigenschaft von Objekten bzw. ihrer Beziehung zum menschlichen Geist ist, sondern eine Eigenschaft von Sätzen bzw. Aussagen.

Über den Autor

Thomas von Aquin wird 1224 oder 1225 in der Grafschaft Aquino bei Neapel geboren. Sein Vater ist eine wichtige Persönlichkeit am Hof des freidenkerischen Friedrich II. Thomas wird im Benediktinerkloster Monte Cassino erzogen, wo er auf Wunsch der Eltern später Abt werden soll. Mit 14 geht er zum Studium an die Universität von Neapel. Hier kommt er erstmals mit griechischer Philosophie, insbesondere mit Aristoteles, und arabischer Astronomie in Kontakt. Nach seinem Studium tritt er 1244 – gegen den Willen seiner Familie – in den Bettelorden der Dominikaner ein. Seine Eltern halten ihn daraufhin ein Jahr im Familienschloss Roccasecca gefangen, um ihn umzustimmen. Einer Legende zufolge wird ein wunderschönes Mädchen in die Kammer des Sohnes geschickt, um ihm die fleischlichen Freuden schmackhaft zu machen. Doch der junge Mönch vertreibt es mit einem glühenden Holzscheit und brennt damit ein Kreuz auf seine Tür. Von Thomas’ unbeirrbarer Frömmigkeit überzeugt, lässt ihn die Familie schließlich nach Paris ziehen. Hier studiert er bei Albertus Magnus und geht bald zusammen mit ihm nach Köln. Auf Vorschlag Albertus’ wird er 1252 als Lehrer wieder nach Paris entsandt. In dieser Zeit beginnt Thomas mit einer langen Reihe von Schriften, in denen er nach dem Vorbild Albertus’ die aristotelische Philosophie mit der christlichen Lehre zu vereinen sucht. Sieben Jahre später verlässt er Frankreich, um am päpstlichen Hof in Rom, in Viterbo und Orvieto zu unterrichten. 1269 kehrt er für eine zweite Professur nach Paris zurück, vor allem um gegen den dort schwelenden Averroismus zu kämpfen. 1272 gründet Thomas eine Dominikanerschule in Neapel. Dann kommt der Dezember 1273: Aufgrund einer überwältigenden Erfahrung hört Thomas plötzlich mit dem Schreiben auf. Manche haben diese als Vision, andere als Nervenzusammenbruch interpretiert. Schließlich stirbt Thomas 49-jährig am 7. März 1274 auf dem Weg zum Konzil von Lyon. Er hinterlässt ein gewaltiges Werk, darunter die beiden Summen (Summe der Theologie und Summe gegen die Heiden).

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