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Was vom Tage übrig blieb

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Was vom Tage übrig blieb

Heyne,

15 Minuten Lesezeit
10 Take-aways
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Was ist drin?

Der Roadtrip eines Butlers wird zur Reise zu sich selbst – und zu unbequemen Wahrheiten.


Literatur­klassiker

  • Liebesroman
  • Postmoderne

Worum es geht

Roadtrip und berührende Lebensreise

Stevens, ein pflichtbewusster, emotionsloser Butler, dessen Vorname nie genannt wird, macht sich auf eine Autofahrt, die zur Lebensreise wird. Er gesteht sich kaum ein, dass er unterwegs ist, um eine verlorene Liebe wiederzugewinnen, und seine Gedanken verlieren sich in ausschweifenden Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit der Haushälterin Miss Kenton und die geschichtsträchtigen Ereignisse unter dem Dach seines Dienstherrn, der Kontakte zu den Nationalsozialisten knüpfte. So entsteht die Geschichte eines einfachen Mannes in der komplizierten Welt der englischen Oberschicht, das Porträt einer unsicheren Seele in der schützenden und zugleich abschirmenden Hülle kompromissloser Professionalität. Nach sechs Tagen steht Stevens am Ende der Reise am Meer – und vor den Trümmern seiner Existenz. Die Liebe ist auf immer verloren, und er muss sich eingestehen, dass seine exzellente Lebensleistung dadurch ihre Größe einbüßt, dass er sie im Dienst des falschen Herrn erbracht hat. Während Gott am siebten Tage ruhte, rafft sich Stevens noch einmal auf. Er lässt die Vergangenheit hinter sich und will das Beste machen aus dem, was vom Tage übrig bleibt.

Take-aways

  • Was vom Tage übrig blieb ist einer der wichtigsten englischen Romane seit 1945.
  • Inhalt: Der alternde Butler Stevens reist 1956 nach Cornwall, um die frühere Haushälterin Miss Kenton zurückzugewinnen. In ihm nagt eine nie eingestandene Sehnsucht, zugleich muss er sich am Ende eines ganz der Arbeit gewidmeten Lebens eingestehen, dass er einem politisch irregeleiteten Dienstherrn vertraut hat. 
  • Der Roman ergründet die Wege und Mechanismen des Erinnerns.
  • Er zeigt: Bestleistungen haben keinen Wert, wenn sie dem falschen Zweck dienen.
  • Der Roman ist das bekannteste Buch des Literaturnobelpreisträgers von 2017, Kazuo Ishiguro.
  • Das Nobelpreiskomitee zeichnete Ishiguro dafür aus, dass er in seinem Werk die Abgründe hinter unserer scheinbaren Verbindung mit der Welt aufdeckt.
  • Ishiguro, gebürtiger Japaner, kam mit fünf Jahren nach England. Dieser doppelte kulturelle Hintergrund hat sein Schaffen entscheidend geprägt.
  • Er schrieb das Buch im Wesentlichen während einer nur vierwöchigen Auszeit.
  • Der Stoff wurde mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen verfilmt.
  • Zitat: „,Würde‘ hat entscheidend zu tun mit der Fähigkeit eines Butlers, niemals die berufliche Identität preiszugeben, die ihn erfüllt.“

Zusammenfassung

Eine Reise in die Vergangenheit

Stevens, Butler in Darlington Hall, bricht im Sommer 1956 zu einer Reise nach Cornwall auf, wo die langjährige Haushälterin Miss Kenton – seit ihrer Heirat Mrs. Benn – lebt. Aus ihrem letzten Brief glaubt er, herauszulesen, dass ihre Ehe gescheitert ist und sie gern nach Darlington Hall zurückkehren würde. Ihm käme das zupass: In jüngster Zeit unterlaufen ihm immer wieder Fehler, die er auf den Personalnotstand im Haus zurückführt. Im Auto seines neuen Dienstherrn, des Amerikaners Farraday, der das Anwesen samt Butler nach dem Tod von Lord Darlington gekauft hat, fährt Stevens über Land und denkt über die Größe der englischen Landschaft nach. Auch was Größe und Würde eines Butlers ausmacht, beschäftigt ihn. Seiner Meinung nach ist dies die Fähigkeit, unter keinen Umständen aus seiner beruflichen Rolle zu fallen: Ein großer Butler lebt in seiner professionellen Identität und legt sie, wie seine Kleidung, nur ab, wenn er völlig allein ist.

Der Triumph der Professionalität um jeden Preis

Als Beleg für Größe denkt Stevens an eine große internationale Konferenz im Jahr 1923. Die selbstbewusste Miss Kenton war kurz zuvor ins Haus gekommen, außerdem hatte Stevens seinen greisen Vater – selbst ein bedeutender Butler – als Butlergehilfen aufs Altenteil zu sich nach Darlington Hall geholt. Die Konferenz war der Höhepunkt mehrjähriger Bemühungen Lord Darlingtons und brachte eine internationale Elite an einen Tisch, um darüber zu beraten, wie die sozialen Auswirkungen des Versailler Vertrags in Deutschland gemildert werden könnten. Darlington fühlte sich durch sein Verständnis von Moral und Ehre sowie durch persönliche Freundschaften zu Deutschen dazu motiviert, und Stevens verbittet sich bis heute alle Stimmen, die die Integrität Darlingtons in Zweifel ziehen. Während die Konferenz unter großer Anspannung begann, erlitt Stevens’ Vater einen Schlaganfall.

„Es wird immer wahrscheinlicher, dass ich tatsächlich jene Reise unternehme, die meine Fantasie bereits seit einigen Tagen mit einer gewissen Ausschließlichkeit beschäftigt.“ (S. 7)

Stevens pendelte zwischen seinen Pflichten als Butler und dem Krankenbett seines Vaters hin und her, zudem bekam er von Lord Darlington die ehrenvolle Aufgabe übertragen, dessen jungen, frisch verlobten Patensohn Reginald Cardinal aufzuklären. Außerdem forderte der heikelste Gast, der Franzose Dupont, permanent persönliche Betreuung ein. Beim Abschlussdinner kam es zu einer offenen Konfrontation, während der Dupont die Intrigen des Amerikaners Lewis offenlegte, der daraufhin, schon beträchtlich alkoholisiert, die ganze Gesellschaft als einen Haufen naiver Träumer und Lord Darlington als Amateur beschimpfte. Man lebe in Zeiten, in denen internationale Angelegenheiten „nichts mehr für Gentleman-Amateure“ seien. Beim Portwein fragte Darlington seinen Butler, ob alles in Ordnung sei, da dieser weinte. Es stellte sich heraus, dass in diesem Moment Stevens’ Vater starb. Dennoch führte Stevens seine Aufgabe in größter Professionalität zu Ende, und was ihm von diesem Abend in Erinnerung bleibt, ist das Gefühl, triumphiert zu haben.

Die Größe eines Butlers

Unterwegs beschäftigt Stevens weiter, was einen großen Butler ausmacht. Die Verbindung zu einem vornehmen Adelshaus stelle eine weitere Facette von Größe dar. Seine Generation sei idealistischer als frühere und wolle Dienstherren mit moralischem Status dienen, die das Wohl der Welt voranbringen. Somit sei berufliches Prestige mit Ethos und Moral des Arbeitgebers und der Zugehörigkeit zu einem noblen Haus eng verknüpft. Für Lord Darlington zu arbeiten, glich für Stevens einem Dienst an der Menschheit. Trotzdem weicht er aus, als er unterwegs gefragt wird, ob er den berühmten Lord persönlich gekannt habe und was für ein Typ der gewesen sei. Diese Begegnung weckt neue Erinnerungen. Eine Besucherin Farradays hat Stevens dieselbe Frage gestellt, und auch vor ihr hat er seinen alten Dienstherrn verleugnet. Das brachte Farraday in die Bredouille, da er Stevens vor seinen Gästen als echten englischen Butler alten Schlages angepriesen hatte. Stevens fürchtet, man könne den Eindruck gewinnen, er schäme sich seiner vorherigen Herrschaft, doch nichts liegt ihm ferner. Alles, was man so über Lord Darlington höre, sei blanker Unsinn. Darlington sei ein moralisch integrer Gentleman gewesen und er selbst habe nur zu einer Notlüge gegriffen, um sich aus unangenehmen Umständen galant zu befreien.

„,Würde‘ hat entscheidend zu tun mit der Fähigkeit eines Butlers, niemals die berufliche Identität preiszugeben, die ihn erfüllt.“ (S. 53)

Die Einfachheit seiner Unterkünfte während der Reise steht in großem Kontrast zu Darlington Hall und anderen vornehmen Häusern, doch Stevens genießt den rustikalen Charme des ländlichen England. In einem Pub gehen die Einwohner zögerlich auf Tuchfühlung und versuchen, durch kleine Witze das Eis zu brechen. Stevens’ Versuche, scherzhaft zu antworten, scheitern immer kläglich, das ist hier nicht anders als bei Farraday. Obwohl er gewissenhaft trainiert, humorvoll zu sein, bergen witzige Bemerkungen ein unkalkulierbares Risiko.

„Wer sagt, Lord Darlington habe geheime Beziehungen zu einem ausgewiesenen Feind unterhalten, lässt einfach, weil ihm das gelegen kommt, das wahre Klima jener Tage außer Acht.“ (S. 164)

Wieder unterwegs, philosophiert er über die Kunst der Silberpolitur, die er auf Weltklasseniveau beherrsche, und vom Polieren ist der Schritt zur Weltpolitik nicht weit: Als Lord Halifax und der deutsche Botschafter von Ribbentrop in Darlington Hall zusammentrafen, wurde die getrübte Stimmung von der Freude über das glänzend polierte Silber hinweggefegt, was den Abend gerettet habe. Ansonsten aber hat Darlingtons Reputation durch die Verbindung zu Hitlers Botschafter in London eher gelitten.
 

Beste Verbindungen 

Von Ribbentrop sei in den 1930er-Jahren in allen großen Häusern ein gern gesehener Gast gewesen und Lord Darlington sei nicht der Einzige gewesen, der die Gastfreundschaft der Nazis genossen habe. Wer heute heuchlerisch behaupte, Darlington habe Beziehungen zum Feind gepflegt, ignoriere das wahre Klima jener Zeit. Auch sei der Faschismus in England nahezu bedeutungslos gewesen und Darlington sei kein Antisemit gewesen, auch wenn sich damals die eine oder andere judenfeindliche Äußerung in seine Reden geschlichen habe und er die Hausmädchen Ruth und Sarah aufgrund ihrer Religion gefeuert habe. Miss Kenton hatte sich über dieses Unrecht hitzig empört und mit ihrer Kündigung gedroht, was sie jedoch nie in die Tat umsetzte. Stevens fand an der Entscheidung seines Herrn nichts auszusetzen und versteht immer noch nicht, warum dieses Ereignis die Beziehung zu Miss Kenton dauerhaft störte. Jahre später bedauerte Darlington die Kündigung und wollte sie rückgängig machen. Stevens redete über diesen Sinneswandel mit Miss Kenton. Es hätte ihr damals geholfen, sagte sie, wenn er Emotionen gezeigt und sie an seinen Empfindungen hätte teilhaben lassen. Immer noch ist Stevens dankbar für das Privileg, am Angelpunkt großer Ereignisse tätig gewesen zu sein und seinen kleinen Beitrag zum Verlauf der Weltgeschichte geleistet zu haben. Im Übrigen ist er zwei Tage vor dem Wiedersehen mit Miss Kenton unsicher, ob er ihren Brief wirklich richtig verstanden und nicht womöglich etwas hineingelesen hat.

Wendepunkte erkennt man immer erst hinterher

Stevens’ Auto bleibt mit leerem Tank liegen. Der Butler muss in der Dämmerung übers offene Moor und durch Felder marschieren, während Abendnebel aufzieht. An einer Hecke reißt er sich Jackett und Hose auf. So derangiert findet er schließlich Obdach bei Familie Taylor. Unter deren Dach schwelgt er weiter in seinen Erinnerungen an eine Begegnung mit Miss Kenton Mitte der 1930er-Jahre. Sie kam eines Abends in sein Butlerzimmer, was er als unerbetenes Eindringen empfand. Sie rückte ihm auf den Leib, um zu sehen, welches Buch er gerade las, versuchte es ihm gar zu entwinden. In dieser körperlichen Nähe blieb die Zeit abrupt stehen, alles schien verändert – und Stevens schmiss sie brüsk raus. Dass er gerade einen sentimentalen Liebesroman las – selbstredend nur zur sprachlichen Erbauung und Weiterbildung –, war das eine. Das andere aber war, dass sie ihn in einer privaten Situation ertappt hatte, obwohl doch ein Butler niemals aus seiner beruflichen Rolle fallen darf. Es war schlichtweg eine Frage der Würde, sie abzuweisen.

„Warum, Mr. Stevens, warum, warum, warum müssen Sie sich nur immer so verstellen?“ (Miss Kenton, S. 181)

Miss Kenton nahm sich bald darauf häufig frei, bekam wöchentlich Post, wurde launisch. Ganz klar: Sie hatte einen Verehrer. Stevens ließ sich nicht aus der Reserve locken, doch als sie eines Abends beim gemeinsamen Kakao – ein Ritual, das sie über Jahre pflegten, um sich auf dem Laufenden zu halten – über Müdigkeit klagte, reagierte er dünnhäutig und sagte alle weiteren Treffen ein für alle Mal ab. Sie konnte ihn nie mehr umstimmen. Stevens wird bewusst, dass man Wendepunkte erst im Rückblick als solche erkennt. Der erste war der Zwischenfall mit dem Buch, der zweite seine Aufkündigung der Kakao-Abende. Der dritte war ein Zusammentreffen just in dem Moment, als Miss Kenton vom Tod ihrer Tante erfuhr, zu der sie ein inniges Verhältnis hatte. Stevens war zu keiner Beileidsbekundung, ja zu überhaupt keiner Gefühlsregung fähig. Er trachtete stundenlang danach, dieses Versäumnis wettzumachen, doch als sich die Gelegenheit schließlich bot, krittelte er stattdessen nur an Miss Kenton herum und warf ihr Nachlässigkeit vor. Davon erholte sich das Verhältnis nie mehr.

Würde, eine Frage des Standpunkts

Bei den Taylors verwickelt ihn der Nachbar Harry Smith in ein Gespräch über Würde. Für diesen antifaschistischen Veteran ist Würde nicht nur etwas für Gentlemen, sondern eine Eigenschaft, die jeder freie Bürger sich aneignen kann. Das Gespräch weckt eine weitere Erinnerung in Stevens: 1935 führten ihn Darlingtons Freunde, in ihrer großen Mehrheit Befürworter autoritären Regierens, als simplen Mann von der Straße vor. Er, der solchen Wert darauf legt, einem „großen Haus“ anzugehören, und der findet, er habe auf der Weltbühne seine kleine Rolle gespielt, wurde von den Angehörigen der Oberklasse als Vertreter des einfachen Volkes benutzt, um das Dilemma der parlamentarischen Demokratie zu illustrieren, indem sie ihn vergeblich um seine Meinung zu politischen Ereignissen befragten. Stevens steht zu seiner Ignoranz und sagt sich, dass die Würde eines Menschen nicht davon abhänge, eine Meinung zu haben. Ein guter Butler könne nicht permanent seinen Dienstherrn kritisch beäugen, sondern müsse vertrauen.

Der Triumph jener Nacht, in der alles verloren geht

Am vierten Tag trifft Stevens in Little Compton in Cornwall ein. Während draußen der Regen fällt, fiebert er seinem Treffen mit Miss Kenton – oder vielmehr Mrs. Benn – entgegen. Er erinnert sich an ein Treffen zwischen von Ribbentrop und dem britischen Premier sowie dessen Außenminister in Darlington Hall. Unmittelbar vor Beginn der Zusammenkunft war der junge Reginald Cardinal, mittlerweile Kolumnist einer Zeitung, unangemeldet aufgetaucht. Auch an diesem Abend fielen dramatische Ereignisse zusammen: das politische Geheimtreffen, über dessen wahre Bedeutung Cardinal Stevens quasi zwangsaufklärte, und Miss Kentons überraschende Erklärung, dass ihr Verehrer ihr einen Heiratsantrag gemacht habe, sie aber noch darüber nachdenke. Während Stevens seinen Pflichten beim konspirativen Meeting nachkam und zugleich den in die Bibliothek verbannten Cardinal zu betreuen hatte, bot Miss Kenton ihm weitere Gelegenheit, in ihre Heiratspläne einzugreifen. Weil er ihr aber keine Beachtung schenkte, sagte sie ihm irgendwann brüsk zwischen Tür und Angel, dass sie den Antrag angenommen habe. Auch darauf wusste Stevens nichts zu entgegnen, was sie so wütend machte, dass sie ihm an den Kopf warf, wie sie sich mit ihrem Verlobten über seine Marotten lustig machte.

„Dann stand sie vor mir, und auf einmal ging mit der Atmosphäre eine merkwürdige Veränderung vor – fast so, als wären wir beide plötzlich auf irgendeine völlig andere Seinsebene geschleudert worden.“ (Miss Kenton und Stevens, S. 197)

In der Bibliothek konnte Cardinal es nicht fassen, dass Stevens nicht wenigstens neugierig war, was gerade hinter den Kulissen paktiert wurde. Cardinal sorgte sich um den naiven Lord Darlington, der zur Schachfigur der Nazis geworden war und dessen ritterlicher, althergebrachter Edelmut ausgenutzt wurde. Er warf Stevens vor, dass dieser wegen seiner Loyalität zu Darlington die nötige Loyalität für Land und Krone vermissen ließe. In dieser Gemengelage stand Stevens mit einem Tablett vor Miss Kentons Tür und war sich plötzlich sicher, dass sie, die doch gerade einen Heiratsantrag angenommen hatte, dahinter weinte. Er verlor an diesem Abend Miss Kenton und wurde Zeuge, wie Darlington, so Cardinals Worte, „in den Abgrund“ stürzte. Doch das Gefühl, das ihm von dieser Nacht blieb, ist wieder ein Gefühl des Triumphes. Er hat damals sein Bestes gegeben und war der zentralen Nabe jenes großen Rades, der Weltpolitik, nie näher. Sein Vater wäre stolz auf ihn.

Scherzen gegen ein gebrochenes Herz

Die Begegnung mit Miss Kenton liegt zwei Tage zurück. Entgegen Stevens’ Hoffnung ist ihre Ehe nicht gescheitert und sie wird auch nicht nach Darlington Hall zurückkehren. Stevens sah ihr eine gewisse Melancholie an und wagte es, sie zu fragen, ob sie glücklich sei in ihrem Leben. Sie gestand ihm, dass sie es lange Zeit nicht war, sie ihren Mann erst lieben lernen musste und in der Tat ein paar Mal abgehauen ist, weil sie ihr Leben nicht mehr ertragen konnte. Sie frage sich gelegentlich, wie ein Leben an Stevens’ Seite ausgesehen hätte. Aber das sei eine der verpassten Chancen des Lebens, die sich nicht mehr einholen ließen. Stevens, für den die Vergangenheit nur aus Arbeit bestand und für den auch die Zukunft nichts als Arbeit bereithalten wird, brach es das Herz.

„Gewiss deutete doch damals nichts darauf hin, dass solch offenkundig geringfügige Zwischenfälle ganze Träume für immer unerfüllbar machen würden.“ (S. 212)

Am Abend des sechsten Tages steht er im Seebad Weymouth auf dem Pier und blickt in die untergehende Sonne. Er hat alles für Darlington gegeben, der wenigstens seine eigenen Fehler gemacht hat. Nun, im Alter, kann Stevens seinen eigenen Standards nicht mehr genügen, doch er fasst den Entschluss, nicht in der Vergangenheit zu kramen, sondern „aus dem, was vom Tage übrig bleibt, noch das Beste zu machen“. Nach seiner Rückkehr will er Farraday mit einem guten Scherz überraschen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Was vom Tage übrig blieb erzählt in der Ich-Form von der sechstägigen Reise des Butlers Stevens im Juli 1956 von Oxfordshire nach Cornwall. Von dieser Gegenwartsebene schweift die Romanhandlung in die Vergangenheit: Lange Rückblenden schildern Ereignisse in Darlington Hall während der 1920er- und 1930er-Jahre. In diesen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit sind zusätzlich kleinere Erinnerungsschleifen an den Vortag, die vergangenen Stunden und die letzte Zeit eingeflochten. Häufig kündigt Stevens eine bestimmte Erinnerung an, schweift dann aber zu einer anderen ab. So spiegelt Ishiguro in der Struktur seiner Erzählung die Mechanismen des Erinnerns und spielt intelligent mit der Aufmerksamkeit der Leser, die Stevens’ Lebenslügen und psychologischen Falltüren schnell auf die Schliche kommen. Der Stil von Stevens’ Bericht ist geprägt von häufigen relativierenden Floskeln, die Aussagen abschwächen oder um die Zustimmung der Zuhörer heischen. Stevens formuliert umständlich, seine Gedankengänge sind weitschweifig, dennoch ist Ishiguros Prosa von großer Klarheit und leicht zugänglich. Stevens erscheint als ein Mensch mit Schwächen und ein Produkt seiner Zeit, seiner Umstände und seiner Psyche, sodass er trotz seiner Unnahbarkeit eine tragische Sympathie erweckt. Der Roman beginnt sehr gemächlich, gewinnt aber durch die politischen und individuellen moralischen Abgründe, die sich bald auftun, ab dem zweiten Drittel an Tempo und Spannung.

Interpretationsansätze

  • Ein wichtiges Thema des Romans ist die Erinnerung, sowohl die individuelle wie auch die kollektive ganzer Nationen. Ishiguro zeigt mithilfe der Erzählstruktur, warum und wie sich jemand an etwas in einem bestimmten Moment erinnert. Implizit, in einem höchst gelungenen Pakt mit dem Leser, zeigt er den inneren Kampf seines Helden mit den Ereignissen um ihn herum. Stevens’ Erinnerung weicht oft von dem ab, was in seiner Umgebung und der Öffentlichkeit gesagt wird oder was die Leser wahrnehmen.
  • Der emotionslose Butler ist ein Sinnbild für die Beziehung gewöhnlicher Leute zu Macht und Politik. Stevens gibt seine individuelle Verantwortung ab und befördert damit totalitäres Verhalten. Ishiguro zeigt, wie jemand sein Bestes geben kann und dennoch unwillentlich zu etwas Wertlosem oder gar Bösem beiträgt.
  • Die Darstellung des ländlichen England nimmt großen Raum ein: die Landschaft, die Dörfer und Kleinstädte, deren Bewohner. Man kann die Reise von Oxfordshire über Salisbury und die Grafschaften Dorset, Somerset und Devon bis nach Cornwall und ans Meer nachverfolgen. Ishiguro zeigt ein mythisches, stereotyp verklärtes „Old England“. Passend zum Titel spielen viele Szenen in der Abenddämmerung: Stevens steuert auf das Lebensende zu und legt sich Rechenschaft ab.
  • Ishiguro lässt historische Figuren im Roman auftreten: englische und deutsche Politiker, so den nationalsozialistischen deutschen Botschafter in London, von Ribbentrop, und den Chef der britischen Faschisten, Oswald Mosley, aber auch Literaten wie George Bernard Shaw. Stevens’ Dienstherr Lord Darlington hingegen ist keine historische Figur. Er steht stellvertretend für verschiedene deutschlandfreundliche Ratgeber und Einflüsterer der englischen Appeasement-Politik.
  • Der Begriff der Würde treibt Stevens um. Er zitiert die Definition seiner Zunft, reflektiert das eigene Ethos und führt leuchtende Beispiele ins Feld, nicht zuletzt seinen eigenen Vater. Dem gegenüber steht das Verständnis der Kriegsveteranen und einfachen Leute, die Würde für jeden in Anspruch nehmen. Am Ende gesteht Stevens sich ein, dass seine bedingungslose Loyalität zu einem irregeleiteten Dienstherrn zu einer Situation geführt hat, der es an Würde mangelt.

Historischer Hintergrund

Japan und Großbritannien im 20. Jahrhundert

Japan und Großbritannien – Ishiguros Geburtsland und seine Wahlheimat – sind Monarchien und die zwei reichsten Inselstaaten der Welt. Ihre Gesellschaften sind hierarchisch geprägt, die Einwohner neigen zu Emotionslosigkeit, Formalität und einer gewissen Exzentrik. Nicht umsonst wurde Japan auch als „Britannien des Ostens“ bezeichnet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lagen die jahrhundertealten Beziehungen jedoch auf Eis. Jene zu Deutschland und Italien pflegten die Briten hingegen im Rahmen ihrer Appeasement-Politik. Nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs galt diese Politik der Zugeständnisse zunächst als positiv und den Frieden wahrend. In manchen Kreisen der britischen Oberklasse galt der Faschismus als effiziente Form des Regierens und Bollwerk gegen den Kommunismus; sein prominentester Vertreter auf der Insel war Oswald Mosley. Die britische Appeasement-Politik gilt heute als einer der Gründe für Hitlers Erstarken. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Großbritannien aufseiten der Alliierten, während Deutschland und Japan mit Italien die faschistische Achse bildeten.

Japan versuchte, den asiatischen und pazifischen Raum zu dominieren, und trat mit dem Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 ins weltweite Kriegsgeschehen ein. Es eroberte unter anderem die britischen Kolonien Malaysia, Hongkong und Singapur sowie die unter amerikanischer Herrschaft stehenden Philippinen. Das Land kapitulierte erst nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki am 2. September 1945. Zu den Olympischen Spielen in London im Sommer 1948 erhielt Japan – wie Deutschland – keine Einladung, und erst 1951 wurden die britisch-japanischen Beziehungen im Friedensvertrag von San Francisco neu etabliert. 1953 vertrat Kronprinz Akihito sein Land bei der Krönung von Queen Elizabeth, die Briten eröffneten ein Kulturinstitut in Japan. 1966 spielten die Beatles in Tokyo: ein Riesenerfolg.

Die englische Gesellschaft mit ihren stark ausgeprägten Klassen war in der Nachkriegszeit einem starken Wandel unterworfen. Während es bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Großbritannien noch etwa 30 000 Butler gegeben hatte, waren Mitte der 1980er-Jahre nur noch 100 ihrer Art verzeichnet, was unter sozialhistorischen Gesichtspunkten mit einer Abnahme der Klassenunterschiede einhergeht. Unter den Bedingungen der Globalisierung hat die weltweite Nachfrage nach Butlern seit der Jahrtausendwende wieder stark zugenommen, zum Beispiel in China und den Ölstaaten des Nahen Ostens.

Entstehung

Nach seinen ersten Romanen war Kazuo Ishiguro schon so bekannt, dass Abendeinladungen, literarische Events und eine Flut von Post sein Schaffen behinderten. Im Sommer 1987 hatte er allerhand Tagebucheinträge und das Anfangskapitel eines neuen Romans geschrieben, war aber ein Jahr lang kaum vorangekommen und so frustriert, dass er zu einer drastischen Maßnahme griff: Er schaufelte sich vier Wochen frei und arbeitete von Montag bis Samstag von 9:00 bis 22:30 Uhr, las keine Post, ging nicht ans Telefon, empfing niemanden. Mit dieser Gewaltaktion (er selbst bezeichnete sie als „crash“) wollte er in seinem neuen Projekt beträchtlich vorankommen und in die fiktionale Welt seines Schreibens vollkommen eintauchen. Der Plan ging auf: Am Ende des Crashs hatte er den kreativen Durchbruch geschafft und eine Rohfassung von Was vom Tage übrig blieb niedergeschrieben. Der Rest war Überarbeitung.

Eine wichtige Inspiration für Ishiguro war der Song Ruby’s Arms von Tom Waits, eine Ballade über einen Soldaten, der seine Geliebte Ruby an einem frühen Morgen zurücklassen muss. Der Song lebt von der Spannung zwischen der Figur des Soldaten, der sein Herz normalerweise nicht auf der Zunge trägt, und einer Liedzeile, in der eben dieses Herz bricht. Ishiguro fand dies „beinahe unerträglich berührend“ und übernahm diesen Kontrast zwischen dem Gefühl selbst und der großen Überwindung, es zum Ausdruck zu bringen, für seinen Butler. Er schrieb sogar das Ende noch einmal um und Stevens’ gebrochenes Herz hinein. 

Wirkungsgeschichte

Was vom Tage übrig blieb katapultierte Ishiguro in den Olymp der englischsprachigen Schriftsteller. Das Buch gilt als einer der wichtigsten britischen Romane der Nachkriegszeit und wurde 1989 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichnet, für den Ishiguro mit vier seiner Bücher nominiert war. In einer Umfrage des Observer unter 150 Schriftstellern und Literaturkritikern kam das Buch unter die Top Ten, und der Guardian setzte es 2007 auf die Liste der Bücher, „ohne die man nicht leben kann“. Die für opulente Historienfilme bekannte Produktionsfirma Merchant Ivory verfilmte den Stoff 1993 mit Anthony Hopkins und Emma Thompson in den Hauptrollen. 2003 wurde der Roman von der BBC fürs Radio adaptiert und 2010 im Londoner Union Theatre als Musical auf die Bühne gebracht. Die Begründung des Nobel-Komitees für die Verleihung des Literaturpreises an Ishiguro im Jahr 2017 nimmt Bezug auf eine literarische Qualität, die Ishiguro in Was vom Tage übrig blieb zur Meisterschaft brachte: Der Preis gehe an einen Autor, „der in Romanen von starker emotionaler Wirkung den Abgrund in unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt aufgedeckt hat“.

Über den Autor

Kazuo Ishiguro kommt am 8. November 1954 in Nagasaki (Japan) zur Welt. Die Familie, zu der auch zwei Schwestern gehören, zieht nach England, als er fünf Jahre alt ist, und bis ins Erwachsenenalter reist er nicht mehr nach Japan. Er studiert Englisch, Philosophie und kreatives Schreiben und arbeitet ab dem Erscheinen seines ersten Romans Damals in Nagasaki (A Pale View of Hills, 1982) als freier Schriftsteller. In einer japanischen Familie in England aufgewachsen zu sein, gibt seinem Schreiben eine besondere Perspektive auf die Welt, und wie das erste Buch spielt auch Der Maler der fließenden Welt (An Artist of the Floating World, 1986) in einem imaginären Japan. Mit Was vom Tage übrig blieb (The Remains of the Day, 1989) wechselt Ishiguro zum Schauplatz England, bleibt jedoch seinen Themen Erinnerung und Lebenslüge treu. Seither gilt er als einer der wichtigsten lebenden englischsprachigen Autoren. Bereits in seinen frühen Werken kommt eine sprachliche Zurückhaltung zum Tragen, die in Kontrast zur Dramatik der geschilderten Ereignisse steht. Der nächste Roman Alles, was wir geben mussten (Never Let Me Go, 2005) ist düstere Science-Fiction und wird vom Time Magazine zum besten Buch des Jahres gekürt. Hier spielt Musik eine große Rolle, wie auch in der Novellensammlung Bei Anbruch der Nacht (Nocturnes: Five Stories of Music and Nightfall, 2009). Nicht von ungefähr: Ishiguro ist ein guter Gitarrist und komponiert, daneben arbeitet er für Film und Fernsehen. Er ist seit 1986 mit der Sozialarbeiterin Lorna MacDougall verheiratet und lebt mit der gemeinsamen Tochter Naomi in London. 2015 erscheint sein jüngster Roman Der begrabene Riese (The Buried Giant). 2017 erhält Ishiguro, der auch den Orden des Britischen Empires trägt und den Royal Societies für Kunst und Literatur angehört, den Nobelpreis für Literatur.

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