Henry James
Washington Square
Manesse, 2010
Was ist drin?
Erben oder verderben – das ist hier die Frage.
- Psychologischer Roman
- Realismus
Worum es geht
Seelisches Gemetzel
Nein, in dieser Geschichte fließt kein Blut, es werden auch kaum Tränen vergossen und selten verliert jemand die Beherrschung. Doch was ein gefühlskalter Vater und ein gewissenloser Freier der liebeshungrigen Catherine antun, ist ein seelisches Blutbad. „Wir haben das Schaf für ihn gemästet, bevor er es schlachtet“, ätzt Catherines Erzeuger im Hinblick auf den unerwünschten Schwiegersohn, nachdem er seine Tochter auf einer Europareise mit klassischer Bildung vollgestopft hat. Einig sind sich die verfeindeten Männer nur in der Einschätzung des Mastviehs: so intelligent „wie ein Bündel Halstücher“. Doch Henry James wäre nicht der feinsinnige Ironiker und Frauenversteher, wenn er das Opferschaf nicht vor der Schlachtbank bewahren und den brutalen Kerlen einen Denkzettel verpassen würde. Ihm dabei zuzusehen ist ein ästhetischer Genuss. Ein Rezensent kam in der Zeit nach der Lektüre der hochgelobten Neuübersetzung des Klassikers zu dem Schluss: „Ein Leben ohne Henry James ist möglich, aber sinnlos.“
Take-aways
- Henry James’ 1880 veröffentlichter Roman Washington Square ist ein wichtiger Vorläufer der literarischen Moderne.
- Inhalt: New York um 1840. Die biedere Catherine verlobt sich mit dem gut aussehenden Morris. Ihr Vater vermutet in diesem einen skrupellosen Mitgiftjäger und droht der Tochter mit Enterbung. Daraufhin macht sich der Beau aus dem Staub. Nach dem Tod des Vaters bittet Morris um eine zweite Chance, doch die gereifte Catherine gibt ihm den Laufpass.
- Der Roman handelt vom Selbsterkenntnisprozess einer gedemütigten Frau, die lernt, ohne Liebe zu leben.
- Catherine hat es mit einer moralisch verkommenen Gesellschaft zu tun, in der Menschen so viel wert sind wie ihr Vermögen.
- Der Wahleuropäer Henry James ließ Erinnerungen an das boomende New York seiner Kindheit in den Roman einfließen.
- Er übernahm von seinem Vorbild Balzac melodramatische Elemente und entwickelte sie weiter.
- Die klassischen, holzschnittartigen Romantypen weichen hier komplizierten, widersprüchlichen Charakteren.
- Zeitgenossen kritisierten die triste Atmosphäre in dem Werk, und auch der Autor selbst fand es misslungen.
- Heute gilt Washington Square als Meilenstein in der Entwicklung des psychologischen Romans.
- Zitat: „Dr. Sloper wäre gern stolz auf seine Tochter gewesen, doch gab es nichts an der armen Catherine, worauf er hätte stolz sein können.“
Zusammenfassung
Langweilig und gut
Der erfolgreiche Arzt Dr. Sloper lebt mit Tochter Catherine und seiner verwitweten Schwester Lavinia Penniman in einem stattlichen Haus am Washington Square in New York. Sein erstgeborener Sohn ist im Alter von drei Jahren gestorben und die geliebte Gattin kurz nach Catherines Geburt. Den Verlust seiner ebenso wohlhabenden wie bezaubernden Frau hat er nie verkraftet. Die Tochter ist für ihn eine einzige Enttäuschung. Mit Ausnahme der umfangreichen Mitgift hat das Mädchen in seinen Augen auch heiratswilligen Männern nichts zu bieten: „Nett“ ist so ziemlich das einzige Kompliment, das sie verdient. In der Tat ist sie ein gutes Kind: wahrheitsliebend, gehorsam und liebevoll; immer darauf bedacht, dem Vater zu gefallen und ihm alles recht zu machen. Ihre Mühen sind aber vergebens.
„Dr. Sloper wäre gern stolz auf seine Tochter gewesen, doch gab es nichts an der armen Catherine, worauf er hätte stolz sein können.“ (S. 16)
Catherine ist 22, als sie die Verlobungsfeier ihrer Cousine Marian besucht, der jüngsten Tochter von Dr. Slopers Schwester Elizabeth Almond. Diese ist mit einem wohlhabenden Kaufmann verheiratet und Mutter von neun Kindern. Auf der Feier stellt Marian ihrer Cousine Morris Townsend vor, den Vetter ihres Verlobten Arthur. Dem Mädchen verschlägt es vor Bewunderung die Sprache. Morris sieht aus wie gemalt und redet wie eine Figur aus einem Roman. Ihrer Cousine und dem Vater gegenüber lässt sie sich nichts anmerken. Lammfromm erträgt sie spöttische Bemerkungen ihres Vaters über die Geschäftstüchtigkeit ihres Verehrers. Wenige Tage später sprechen Morris und Arthur Townsend bei ihr vor. Während Morris sich mit Mrs. Penniman unterhält, sitzt Catherine gelangweilt neben Arthur, einem entwaffnend offenen, aber nicht eben geistreichen Börsenmakler. Sie erfährt von ihm, dass Morris nach einer Weltreise in die Stadt zurückgekehrt ist und eine Anstellung sucht. Nachdem der Besuch fort ist, gibt die Tante Catherine zu verstehen, dass der junge Mann ihr den Hof machen will. Wenige Tage später spricht Morris allein vor und kümmert sich dieses Mal nur um Catherine. Er fühlt sich sichtlich wohl und rekelt sich behaglich in seinem Lehnstuhl.
Verliebt, ...
Der Vater misstraut dem Verehrer seiner Tochter. Von Mrs. Almond erfährt er, dass Morris das schwarze Schaf der Familie ist und eine Erbschaft durchgebracht hat. Anders als Dr. Sloper unterstellt Mrs. Almond ihm aber nicht, es nur auf Catherines Geld abgesehen zu haben. Sie ist der Ansicht, dass Dr. Sloper seiner Tochter Unrecht tut, und ermahnt ihn, auch Catherines Vorzüge zu sehen. Doch bei einem gemeinsamen Abendessen verfestigt sich Dr. Slopers Abneigung gegen Catherines Verehrer. Er hält ihn für äußerst fähig und intelligent, aber viel zu selbstgewiss. Morris spürt das und sagt Catherine, dass ihr Vater ihn nicht möge. Er fragt sie, ob sie ihn notfalls verteidigen würde. Auf keinen Fall, entgegnet Catherine, ihrem Vater widerspreche sie nie.
„Ihr Ehrenwort, dass Sie Catherine immer lieben werden? Sie müssen ein ganz besonderer Ehrenmann sein, wenn Sie sich dessen so sicher sind.“ (Dr. Sloper zu Morris Townsend, S. 87)
Daraufhin besucht er die Damen nur noch in Abwesenheit des Hausherrn. Dr. Sloper spürt, dass hinter seinem Rücken etwas vorgeht, und stellt Mrs. Penniman zur Rede. Diese gibt sich geheimniskrämerisch. Als der Bruder ihr zu verstehen gibt, dass er Morris für einen gerissenen Schmarotzer hält, verlässt sie entrüstet das Zimmer. Auf einer Abendgesellschaft bei den Almonds unternimmt Morris einen neuen Anlauf und erzählt Dr. Sloper, dass er seine Schwester Mrs. Montgomery unterstütze, indem er ihre fünf Kinder unterrichte. Der Arzt glaubt ihm nicht, sondern verdächtigt ihn vielmehr, der armen Witwe auf der Tasche zu liegen. Er nimmt sich vor, sie auszufragen.
... verlobt, ...
Am nächsten Tag küsst Morris Catherine und gesteht ihr seine Liebe. Sie betet ihn an – doch was wird der Vater dazu sagen? Ihr Geliebter bereitet sie darauf vor, dass Dr. Sloper ihn als berechnend und geldgierig bezeichnen werde. Er nimmt ihr das Versprechen ab, auch gegen den väterlichen Widerstand zu ihm zu halten. Noch am gleichen Abend unterrichtet Catherine Dr. Sloper über ihre Verlobung mit Morris Townsend. Damit hat Dr. Sloper nicht gerechnet. Er beschuldigt Catherine, sein Vertrauen und seine Geduld ausgenutzt zu haben. Mit kalter Stimme stempelt er ihren Verlobten als Nichtsnutz und Mitgiftjäger ab. Catherine widerspricht kraftlos. Widerwillig muss sie sich eingestehen, dass sie ihren Vater für die eisige Ruhe, mit der er seine Grausamkeiten ausspricht, sogar bewundert. Tags darauf kommt es zwischen den beiden Männern zum verbalen Schlagabtausch. Dr. Sloper gibt sich unnachgiebig, doch Morris bleibt hartnäckig . Die Stimmung kippt ins Feindselige. Am Ende droht der Arzt, er werde alles tun, um seine Tochter zur Vernunft zu bringen – worauf Morris entgegnet, Catherine sei bereits zu weit gegangen, um noch einen Rückzieher machen zu können.
...unverheiratet
Dr. Sloper besucht Morris’ Schwester in ihrem bescheidenen Backsteinhäuschen, das aussieht wie ein überdimensioniertes Puppenhaus. Der Witwe ist nicht wohl bei der Sache. Sie weiß, was von ihrer Aussage abhängt. Dr. Sloper führt ihr vor Augen, dass seiner Tochter vonseiten ihrer Mutter ein Erbe mit einem jährlichen Einkommen von 10 000 Dollar zusteht – dass sie aber keinen Penny von seinem eigenen Vermögen bekommt, wenn sie gegen seinen Willen heiratet. Er bekräftigt seine Entschlossenheit, indem er Mrs. Montgomery versichert, er werde sich auch von Catherines Kummer nicht erweichen lassen. Leider fällt der Witwe nichts wirklich Positives über ihren Bruder ein. Schließlich bricht sie in Tränen aus und fleht Dr. Sloper an, er solle nicht zulassen, dass Morris Catherine heiratet. Der Satz klingt wie Musik in Dr. Slopers Ohren.
Mrs. Pennimans kühner Plan
Catherine verhält sich nach der Meinung ihres Vaters unnatürlich passiv. In Wahrheit rumort es aber heftig in ihrer Seele, denn noch immer hofft sie, ihn umstimmen zu können, wenn sie sich nur brav und geduldig zeigt. Die unerschütterlich romantische Mrs. Penniman hat jedoch andere Pläne. Sie trifft sich mit Morris Townsend im dunklen Hinterzimmer eines Restaurants . Während er vor ihren Augen Austern schlürft, drängt sie ihn, einfach mit Catherine durchzubrennen und sich anschließend mit deren Vater zu versöhnen. Doch Morris zweifelt an der Urteilskraft der Dame. Die Aussicht auf eine enterbte Braut behagt ihm nicht.
„Ich bin froh, dass sie nicht auf meiner Seite steht; sie ist in der Lage, eine vortreffliche Sache zu ruinieren. Sobald Lavinia mit dir in dasselbe Boot steigt, kentert es.“ (Dr. Sloper, S. 94)
Catherine nimmt all ihren Mut zusammen und versucht ein letztes Mal, den Vater auf ihre Seite zu ziehen. Doch wieder folgt ein Tiefschlag auf den anderen: Dr. Sloper unterstellt dem Paar, sich seinen Tod herbeizuwünschen, damit er ihrem Glück nicht mehr im Wege stehe. Dann schimpft er seine Tochter ein undankbares, herzloses Geschöpf. Schluchzend, mit einer flehentlichen Geste stürzt sie auf ihn zu – doch Dr. Sloper fasst Catherine steif am Arm und geleitet sie wortlos aus dem Zimmer. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass seine Tochter an dem Blender hängen bleiben könnte.
10 000 oder 30 000 – die Entscheidung
Catherine verbringt eine furchtbare Nacht. Am nächsten Morgen stellt Morris sie vor die Wahl: er oder der Vater. Als Catherine ihn auf die drohende Enterbung hinweist und erwähnt, dass ihr die 10 000 Dollar jährlich von der Mutter in jedem Fall zustehen, rudert er zurück und bedrängt sie, etwas geschickter vorzugehen. Aber Catherine hört gar nicht hin. Sie will nun den Bruch mit dem Vater riskieren, koste es, was es wolle. Später teilt sie dem überraschten Vater mit, dass sie die Absicht habe, auszuziehen. Das erscheint ihr nur folgerichtig: Wenn sie ihm nicht gehorcht, hat sie auch keinen Anspruch mehr auf seinen Schutz. Dr. Sloper kocht vor Wut. Zum ersten Mal beschleicht ihn das Gefühl, seine Tochter unterschätzt zu haben.
„Ich glaube nicht, dass du mich verstehst oder dass du mich kennst.“ (Catherine zu Mrs. Penniman, S. 126)
Mrs. Penniman bekommt es nun mit der Angst zu tun: Ihr Bruder hat ihr unter Androhung des Rauswurfs verboten, sich als Kupplerin zu betätigen. Deshalb rät sie Morris nun, nichts zu überstürzen. Dieser spielt nach außen den Empörten, doch insgeheim denkt er genauso: Die Aussicht, für nur 10 000 Dollar im Jahr ein reizloses Mädchen zu heiraten, scheint ihm wenig verlockend. Deshalb ermuntert er Catherine, das Angebot des Vaters anzunehmen, für eine Weile mit ihm nach Europa zu reisen.
In Europa nichts Neues
Catherine ist eine tapfere Reisebegleiterin, aber ihre Teilnahmslosigkeit treibt den Vater zur Weißglut. Nach sechs Monaten fragt er sie in einem einsamen Alpental unvermittelt, ob sie sich Morris aus dem Kopf geschlagen habe. Catherine verneint. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Sie fragt sich, ob er sie absichtlich an diesen bedrohlichen, verlassenen Ort geführt hat. Dr. Sloper fragt sie mit schneidender Stimme, ob sie gerne in einem kalten Tal wie diesem zurückgelassen werden würde – denn genau so werde es ihr mit Morris gehen. Doch Catherine lässt nichts auf den Geliebten kommen. Im folgenden halben Jahr sprechen Vater und Tochter kaum noch miteinander. Erst am Ende der Reise fragt Dr. Sloper erneut nach Catherines Plänen und fordert sie auf, ihn im Fall einer Heirat vorzuwarnen, damit er wisse, wann er sie verliere. Dann merkt er an, die Bildungsreise habe Catherines Marktwert deutlich erhöht; immerhin könne seine Tochter nun eine halbwegs intelligente Unterhaltung führen. Bei ihrer Rückkehr stellt Catherine fest, dass Morris es sich auf Einladung der Tante im Haus des Arztes bequem gemacht hat. Sie freut sich über die Nachricht, dass Morris offenbar eine Beschäftigung als Partner eines Kommissionärs gefunden hat.
Geplatzte Träume
Catherine weiß nun, dass ihr Vater sie nicht liebt, ja sie sogar verachtet. Sie hat sich innerlich von ihm losgesagt – in dem Glauben, durch dieses Opfer eine andere Liebe gewonnen zu haben. Vertrauensvoll legt sie ihr Schicksal in Morris’ Hände. Dieser aber denkt nicht daran, Catherine ohne das Geld zu heiraten. Er bittet Mrs. Penniman, ihrer Nichte diesen Umstand schonend beizubringen und sie dazu zu bewegen, ihn freizugeben. Die vorgeschobene Begründung lautet, dass er keinen Keil zwischen Vater und Tochter treiben möchte. Doch die Tante weicht der unangenehmen Aufgabe aus. Catherine fällt aus allen Wolken, als Morris irgendwann krampfhaft nach einem Vorwand für einen Streit sucht. Er spricht von einer geplanten Geschäftsreise nach New Orleans, tut so, als gebe er den Plan ihr zuliebe wieder auf, und wirft ihr schließlich sogar vor, ihn zu gängeln . Am Ende bricht die schreckliche Erkenntnis über sie herein: Morris will sie verlassen.
„,Möchtest du gern all die Sehenswürdigkeiten dort drüben sehen?‘ ,Aber nein, Morris!‘, sagte Catherine abwehrend. ,Gütiger Himmel, was für ein blödes Weib‘, rief Morris sich im Stillen zu.“ (S. 163)
Catherine ist zutiefst verzweifelt. Doch während es sie im Innern zerreißt, gibt sie sich nach außen gefasst. Sie gönnt dem Vater den Triumph angesichts ihrer Niederlage nicht und gibt vor, ihrerseits Morris verlassen zu haben. Dr. Sloper, voller Ärger über das entgangene Siegesgefühl, tadelt ihre Grausamkeit, Morris den Laufpass zu geben, nachdem sie so lange mit dem armen Mann gespielt habe. Danach sprechen sie nicht mehr über die Geschichte. Der Arzt ist überzeugt, dass Catherine mit knapper Not davongekommen ist. Ihr Gleichmut weckt allerdings in ihm den Verdacht, die beiden könnten bluffen und auf seinen baldigen Tod spekulieren, um dann doch noch heiraten zu können.
Handarbeit fürs Leben
Mit den Jahren scheint sich Catherine mit der Aussicht auf ein Leben als alte Jungfer zu arrangieren. Zwei vielversprechende Herren, die um sie werben, weist sie ab, um sich stattdessen der Wohltätigkeit und ihren Handarbeiten zu widmen. Als ihr Vater 68 ist, versucht er ihr das Versprechen abzunehmen, Morris auch nach seinem Tod nicht zu heiraten. Doch Catherine spielt da nicht mit. Nicht, weil sie eine solche Heirat noch ernsthaft in Betracht ziehen würde, sondern weil sie ihre Würde bewahren möchte. Ein Jahr später stirbt Dr. Sloper an den Folgen einer schweren Erkältung. Der Tochter vermacht er nur ein Fünftel seines Vermögens, der Rest geht an die medizinische Forschung.
„Ich glaube nicht an reizende Ehemänner‘, sagte Mrs. Almond, ,ich glaube nur an gute.‘“ (S. 167)
An einem lauen Sommerabend spricht Mrs. Penniman zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wieder über Morris Townsend. Sie hat ihn kürzlich getroffen. Nach ihren Informationen ist es ihm nicht gut ergangen: Seine Geschäfte sind gescheitert, seine europäische Frau ist nach kurzer Ehe gestorben. Catherine sei die Liebe seines Lebens gewesen, richtet die Tante ihrer Nichte von ihm aus. Obwohl Catherine Morris auf keinen Fall wiedersehen möchte, steht der ungebetene Gast wenige Tage später vor der Tür – offenbar auf Einladung von Mrs. Penniman. Er ist stattlich geworden, sein Haar hat sich gelichtet und er trägt einen Bart. Seine Bitte, ob sie nicht noch einmal von vorne beginnen könnten, macht Catherine fassungslos. Sie hat ihm zwar vergeben, aber ihren Schmerz nicht vergessen. Warum sie denn niemals geheiratet habe, möchte Morris wissen – weil sie reich war und nichts zu gewinnen hatte? Genau, antwortet Catherine. Sie fordert ihn auf, sich nie wieder blicken zu lassen. Dann nimmt sie ihre Handarbeit wieder auf.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die erzählte Zeit im Roman Washington Square erstreckt sich über 20 Jahre, von den 1840er-Jahren bis in die 1860er-Jahre, wobei sich das Gros der Handlung auf die Ereignisse zu Beginn dieses Zeitraums konzentriert. Auf den ersten Blick folgt die Erzählung der Struktur des realistischen Romans: Der namenlose Erzähler macht uns mit den Hintergrundgeschichten der armen reichen Erbin, des schneidigen Mitgiftjägers, des tyrannischen Vaters und der intriganten Tante vertraut. Doch dann bricht er den symmetrischen Rahmen dieser Konstellation auf, zoomt sich wie mit einem Kameraauge dicht an die Darsteller heran, wechselt wiederholt die Perspektive – und kehrt dann, sobald der Leser glaubt, den innersten Gedanken der Romanfiguren auf die Spur gekommen zu sein, in die Vogelperspektive zurück. Ist Morris Townsend tatsächlich ein Schwindler, oder projiziert der boshafte Arzt das nur in ihn hinein? Henry James lässt den Leser lange im Dunkeln. Er spielt mit dessen Erwartungen, bringt ihn mitunter mit seiner Ironie zum Frösteln und treibt die Handlung durch lineares Erzählen und szenischen Aufbau voran – um sie schließlich auf einer resignativen Note zu beenden.
Interpretationsansätze
- Henry James setzt das Ideal der romantischen Liebe in Kontrast zum Statusstreben der feinen Gesellschaft des viktorianischen New York. Nur Männer mit Einkommen gelten hier etwas, während Frauen um ihrer Erbschaften willen wie Waren gehandelt werden. //
- //In der Entwicklung der Heldin klingen feministische Motive an: Catherine wird zu einer starken Frau, indem sie sich von den schachernden Männern emanzipiert, die Rolle als Ehefrau und Mutter verweigert und der Liebe entsagt, um ein selbstbestimmtes Leben als alte Jungfer zu führen.
- Der titelgebende Washington Square ist nicht nur der Name eines Platzes in New York. „Square“ steht auch für die geometrische Form des Quadrats und lässt darüber hinaus an einen Squaredance denken, in dem die Figuren einander umkreisen, ohne sich jemals näherzukommen.
- Die Figuren tragen bedeutungsschwangere Namen: Mrs. „Penny“-man hält sich sklavisch an die Gesetze einer Gesellschaft, in der sich alles um Geld und Status dreht, und in der Außenseiter wie Mr. „Towns end“ keine Chance haben. Der Lebensweg von Dr. Sloper (slope: das Gefälle) geht steil bergab: Obwohl er mit der Illusion lebt, geradlinig seine Prinzipien zu verfolgen und immer Recht zu behalten, muss er doch eine Niederlage nach der anderen einstecken.
- Henry James variiert die Standardtypen des klassischen Melodramas: Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, Tugendbolden und Bösewichten verfließen, die Beteiligten handeln seltsam unbestimmt, und die Frage, ob Catherine und Morris unter anderen Umständen nicht doch hätten glücklich werden können, bleibt offen.
- Der Roman ist durchwirkt mit Symbolik und Metaphorik. So stirbt der ironische, gefühlskalte Dr. Sloper an einer Unterkühlung, und Catherine widmet sich am Ende ihrer „Handarbeit“ – im Original „fancywork“, ein Begriff, den James oft für seine eigene Lebensaufgabe, das Schreiben, verwendete. Auch die Gebäude sind symbolisch aufgeladen: Morris Townsends Objekt der Begierde, das imposante Gebäude mit seinen Marmorstufen, erweist sich als Haus der verschlossenen Türen und geplatzten Träume.
Historischer Hintergrund
Das viktorianische New York
Die New Yorker hätten nichts anderes im Sinn als das Geschäft, bemerkte 1810 der frisch eingetroffene französische Konsul und nannte die Stadt einen permanenten Jahrmarkt, auf dem Menschen aus aller Herren Länder mit fiktivem Kapital jonglieren. Der „Big Apple“ wuchs wie keine andere Metropole der Welt: Zwischen 1800 und 1900 explodierte die Einwohnerzahl von gut 60 000 auf knapp 3,5 Millionen. Doch der viel beschworene Schmelztiegel blieb ein Ort der Gegensätze und Klassenunterschiede. Während in den südlichen Hafenvierteln Zehntausende auf engstem Raum in stinkenden, von Gangs kontrollierten Slums zusammengepfercht lebten, entstand im Norden der Stadt, unter anderem am Washington Square Park, eine Enklave der Oberklasse.
Die Angehörigen dieser Klasse kleideten sich europäisch, speisten französisch und tranken erlesene Weine aus der Alten Welt. Junge Mädchen wurden auf Debütantinnenbällen in die Gesellschaft eingeführt. Wie im viktorianischen England hatten Frauen keinerlei Rechte. Sie durften weder arbeiten noch etwas besitzen. Vielmehr befanden sie sich selbst im Besitz ihrer Väter und Ehemänner und wurden auf dem Heiratsmarkt wie Vieh gehandelt. Verglichen mit Europa waren die USA einerseits das Land der Aufsteiger und hemdsärmeligen Macher, andererseits führten die wachsenden Vermögen in der zweiten Jahrhunderthälfte auch hier zur Rückkehr der gut betuchten Rentiers, die vom angehäuften Reichtum ihrer Vorfahren lebten.
Entstehung
Henry James stammte selbst aus einer vornehmen Familie des alten New Yorker Geldadels und wuchs am Washington Square auf. Er lebte bereits in England, als ihm die britische Schauspielerin Fanny Kemble auf einer Dinnerparty im Februar 1879 die Geschichte von ihrem gut aussehenden Bruder erzählte, der einer ebenso reizlosen wie reichen Erbin den Hof gemacht hatte, jedoch vom Vater des jungen Mädchens der Mitgiftjägerei verdächtigt worden war. Die Heirat kam nicht zustande, der Bruder blieb mittellos, die Geliebte traurigen Herzens zurück. Für den Salonlöwen James war der Stoff ein gefundenes Fressen. Er wohnte zu jener Zeit zur Miete und verdiente sich mit dem Schreiben von Fortsetzungsromanen für das weibliche Publikum seinen Lebensunterhalt. Die Klatschgeschichten der gehobenen Gesellschaft faszinierten ihn, doch sein wahres Interesse galt der menschlichen Psyche. Von keinem anderen Schriftsteller habe er so viel gelernt wie von dem 1850 verstorbenen Honoré de Balzac, schrieb er, denn: „Wo ein anderer Schriftsteller eine Anspielung macht, liefert Balzac ein holländisches Gemälde.“
Der kleine Henry hatte selbst Maler werden wollen, und sein Mentor hatte ihm bestätigt, er habe das „Auge eines Malers“. Diese Gabe verlieh ihm später tiefe Einblicke in die moralischen Abgründe der gehobenen Gesellschaft, in der er verkehrte. Als er Washington Square im Spätsommer 1879 während eines Aufenthalts in Paris schrieb, orientierte er sich an Balzacs Melodrama über die tragische Erbin Eugénie Grandet. Doch er verlegte den Schauplatz aus der französischen Provinz in das New York seiner Kindheit, mit der Absicht, „eine wahrhaft amerikanische Erzählung“ zu schreiben. Und er wich in entscheidenden Punkten von der klassischen Pinselführung des großen Meisters Balzac ab: James’ Figuren wirken moralisch ambivalenter, vielschichtiger und psychologisch komplexer.
Wirkungsgeschichte
Washington Square erschien Ende 1880 als Fortsetzungsroman im amerikanischen Harper’s Magazine und im britischen Cornhill Magazine. 1881 folgte die Buchfassung. Die Reaktionen waren anfangs verhalten. Ein anonymer Leser kritisierte in der britischen Wochenzeitung Spectator die Trostlosigkeit des Werks, und auch James selbst wurde mit seiner Schöpfung nie so recht warm. Er nannte sie „armselig“ und ein „unglückliches Missgeschick“. „Das einzig Gute in der Geschichte ist das Mädchen“, schrieb er an seinen Bruder William James . Er verzichtete sogar darauf, den Roman in die offizielle New York Edition seiner Werke aufzunehmen.
Heute sehen das viele seiner Anhänger anders. Sie heben die analytische Schärfe hervor, mit der James in Washington Square die menschliche Seele seziert, sowie den geschickten Aufbau und geschmeidigen Stil. Seine Prosa gilt als wichtiges Bindeglied zwischen dem blanken Realismus eines Balzac oder eines Charles Dickens und modernen Autoren wie Virginia Woolf und James Joyce. In der Zeit wurde Henry James als einer der „brillantesten Kenner unserer lebenshungrigen Seelen“ gewürdigt, der schon nach der ersten Zeile süchtig mache. Regisseur William Wyler bewies 1949 mit seiner vierfach oscarprämierten Filmadaption Die Erbin , dass Hollywood aus großer Literatur großes Kino machen kann, ohne dabei den Geist der Vorlage zu verraten.
Über den Autor
Henry James gilt in der angelsächsischen Welt als großer Klassiker der Literatur um 1900, als Meister des subtilen psychologischen Romans und Wegbereiter der literarischen Moderne. Am 15. April 1843 in eine großbürgerliche, wohlhabende und intellektuelle New Yorker Familie hineingeboren, erhält er eine umfassende Bildung und lernt schon früh die Klassiker der Weltliteratur kennen. Sein Vater ist einer der angesehensten amerikanischen Intellektuellen, befreundet mit Denkern wie Thoreau, Emerson und Hawthorne. Henry James’ Bruder William wird Psychologieprofessor in Harvard und Begründer des Pragmatismus in der Philosophie. Henry James selbst studiert, nachdem er in seiner Jugend Europa bereist hat, für kurze Zeit Jura in Harvard und betätigt sich bald als Journalist, zunächst als Kritiker, dann auch als Zeitungskorrespondent in Paris. 1869 siedelt er nach England über, wo er sich 1876 endgültig niederlässt. Viele seiner berühmten Romane und Erzählungen wie Daisy Miller (1878), Die Europäer (The Europeans, 1878) oder Die Gesandten (The Ambassadors, 1903) spielen vor dem Hintergrund der Begegnungen vornehmer Amerikaner mit Europäern. Der Gegensatz zwischen Alter und Neuer Welt, zwischen europäischer Kultur und amerikanischer Naivität spielt in seinem Werk eine wichtige Rolle. Da James vermögend und somit finanziell unabhängig ist, kann er sich ganz dem Schreiben und seinen intellektuellen Interessen widmen. Auch in England steht er in engem Kontakt zu den führenden Geistern seiner Epoche. 1904/05 reist James nach 25 Jahren erstmals wieder in die Vereinigten Staaten, unter anderem um die Ausgabe seiner gesammelten Werke vorzubereiten und zu begleiten, darunter sein meistgelesenes Buch, die Gespenstergeschichte Das Durchdrehen der Schraube (The Turn of the Screw, 1898). 1915 erwirbt James die englische Staatsbürgerschaft. Er stirbt am 28. Februar 1916 im Londoner Stadtteil Chelsea.
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