Melden Sie sich bei getAbstract an, um die Zusammenfassung zu erhalten.

Weißes Rauschen

Melden Sie sich bei getAbstract an, um die Zusammenfassung zu erhalten.

Weißes Rauschen

Goldmann,

15 Minuten Lesezeit
12 Take-aways
Text verfügbar

Was ist drin?

Satire oder Tragödie? Don DeLillo geht der Konsumgesellschaft auf den Grund – und findet Todesangst. Eines der besten Bücher des amerikanischen Autors.


Literatur­klassiker

  • Roman
  • Postmoderne

Worum es geht

Der verdrängte Tod

Mit unverhohlenem Zynismus schildert Don DeLillo das Leben einer mittelständischen Pseudoelite, die sich einbildet, nichts könne ihren amerikanischen Traum erschüttern – außer vielleicht einer plötzlich gesperrten Kreditkarte. Jack Gladney hat sich eine anscheinend unanfechtbare Position als Abteilungsleiter für Hitlerstudien an einem geachteten College gesichert. Mit seiner Patchworkfamilie lebt er scheinbar sorglos in den Tag hinein. Da stört plötzlich ein „toxischer Vorfall“ am Rangierbahnhof die Provinzidylle und eröffnet Abgründe, denen keiner der gut situierten Bürger bisher ins Auge sehen wollte. Das „weiße Rauschen“ der Todesgewissheit, das selbst dann immer mitschwingt, wenn man es im Konsumtaumel zu vergessen sucht, wird plötzlich laut hörbar. DeLillo gelingt eine präzise Analyse amerikanischer Befindlichkeit in den konsumverrückten 80er Jahren. Er wirft aber auch die Frage auf, wie man ohne Verdrängungsversuche überhaupt mit der Erwartung des eigenen Todes umgehen kann. Sein pessimistisches Fazit: Unsere Strategien in der Beschäftigung mit der Sterblichkeit gehen nicht über das Niveau von Groschenblättern hinaus.

Take-aways

  • Mit Weißes Rauschen gelang Don DeLillo endgültig der Durchbruch als Schriftsteller.
  • Der postmoderne Roman ist in seiner Konsumkritik hochsarkastisch – und gleichzeitig bitterernst, wenn es um universelle menschliche Ängste geht.
  • Der Held des Romans ist Jack Gladney. Ohne Deutschkenntnisse ist es ihm gelungen, sich als wichtigster Hitlerforscher Nordamerikas zu etablieren.
  • Mit seiner Patchworkfamilie genießt er ein angenehmes Konsumentenleben – bis sich in der Nähe ein Chemieunfall ereignet.
  • Die Familie wird evakuiert. Jack erleidet eine tödliche Vergiftung, deren Wirkung allerdings frühestens in 15 Jahren einsetzen wird.
  • Er beschließt, die tödliche Bedrohung vor seiner Familie geheim zu halten.
  • Jack entdeckt, dass seine Frau Babette ein unbekanntes Medikament einnimmt, das selbst seine Kollegin, eine Neurobiologin, nicht identifizieren kann.
  • Zur Rede gestellt, gibt Babette zu, dass sie das medizinisch ungeprüfte Medikament einnimmt, um ihre Todesfurcht zu bekämpfen.
  • Um es zu bekommen, ist Babette mit dem zuständigen Projektleiter eine Affäre eingegangen.
  • Jack beschließt, den Rivalen zu erschießen und das Ganze als Selbstmord zu tarnen.
  • Nach dem Anschlag bringt er den nur Verwundeten aus Gewissensbissen zur nächsten Krankenstation, wo dieser sich zum Glück nicht mehr genau an die Tat erinnern kann.
  • Das „weiße Rauschen“ steht für die Vielfalt der sich überlagernden Stimmen und Signale, die auf den Menschen einströmen, und für die ständig mitschwingende Todesangst.

Zusammenfassung

Hitler und das gute Leben

Jack Gladney hat es geschafft. Er ist Abteilungsleiter für Hitlerstudien an einem kleinen, aber elitären College einer amerikanischen Provinzstadt. Seine gefestigte Position verdankt er nicht zuletzt dem weisen Rat seines Rektors, den er ansonsten nicht als allzu intelligent einstuft: Dieser hat ihm empfohlen, seiner neuen Stellung durch körperliche Gewichtszunahme Nachdruck zu verleihen. Jack hat den Rat befolgt und läuft seither außerdem auf dem College mit Sonnenbrille und dem für die Professoren üblichen Talar herum. Sein akademisches Ansehen ist respektabel.

Scheinbares Familienidyll

Jack lebt in einer gut funktionierenden Patchworkfamilie. Zusammen mit seiner fünften Frau Babette – eigentlich ist es erst die vierte, denn die erste Frau hat er einmal wiedergeheiratet – hat er vier Kinder aus verschiedenen Ehen im Haushalt, die das Paar gemeinsam großzieht. Eine weitere Tochter Jacks lebt bei deren Mutter, und noch eine andere ist bereits erwachsen und schickt gelegentlich eine Postkarte. Babettes füllige Gestalt passt zu Jack und ergänzt das Bild einer erfolgreichen Mittelstandsfamilie perfekt. Wie gut die Familie funktioniert, belegt allein die Tatsache, dass man regelmäßig einmal in der Woche beim Chinesen das Abendessen bestellt und gemeinsam fernsieht – was außerdem der Medienerziehung der Kinder dient. Ansonsten bestehen die meisten Mahlzeiten darin, dass sich jeder im Kühlschrank zusammensucht, was er gerade essen möchte. Oder man fährt gelegentlich zu einem Schnellrestaurant und verzehrt die am Autoschalter georderte Mahlzeit gemeinsam im Fahrzeug.

„Als prominenteste Persönlichkeit auf dem Gebiet der Hitlerforschung in Nordamerika hatte ich lange die Tatsache zu verheimlichen versucht, dass ich kein Deutsch konnte.“ (S. 42)

Nur auf eine Person ist Jack neidisch: auf Wilder, den dreijährigen Sohn Babettes. Dieser lebt, seiner eigenen Vergänglichkeit noch völlig unbewusst, einfach nur fröhlich in den Tag hinein, sozusagen von Genuss zu Genuss.

Kollegiale Freundschaft

Jack mag die meist verbitterten Lehrer nicht besonders, die seine Abteilung bevölkern. Eine Ausnahme ist der neue Gastdozent Murray Jay Siskind, der ihn eines Mittags in den Speisesaal einlädt. Murray, ein Ex-Sportjournalist mit hängenden Schultern und Ziegenbärtchen, unterrichtet willkürlich Themen aus der modernen Popkultur. So gibt er einen Kurs, in dem die Darstellung von Autounfällen im modernen Film analysiert wird, und findet damit großen Anklang bei den Studenten. Und er will Jacks Hitlererfolg wiederholen – mit Elvis.

„Hier sterben wir nicht, wir kaufen ein. Aber der Unterschied ist weniger ausgeprägt, als Sie glauben.“ (Murray zu Babette im Supermarkt, S. 51)

Murray, der in einer Pension wohnt, trifft Jack mit seiner Familie des Öfteren beim Einkaufen im örtlichen Supermarkt. Bald entwickeln die beiden Männer eine engere Freundschaft. Der Gastdozent meint es ernst mit seinen Elvisstudien, und Jack unterstützt ihn mit einem imposanten Auftritt in dessen Lehrveranstaltung. Als Murrays Hauptkonkurrent für den neuen Professorenposten, Dimitrios Cotsakis, nach einem Surfurlaub in Malibu als vermisst gilt, scheint dem Gastdozenten die lukrative akademische Position sicher. Cotsakis war bis dahin der aussichtsreichere Kandidat – immerhin arbeitete er früher einmal als „Rock-’n’-Roll-Leibwächter“ und flog nach Elvis’ Tod persönlich nach Memphis, um Freunde und Angehörige des Stars zu interviewen. Das Lokalfernsehen bezeichnete ihn damals sogar als Elvisexperten.

„Menschenmengen kamen, um einen Schutzschild um ihr eigenes Sterben zu bilden. Zu einer Menschenmenge zu werden bedeutet den Tod abzuwehren.“ (S. 95)

Jacks weltweite Berühmtheit als Hitlerexperte hat ihm eine Hitlertagung an seinem College eingebracht, die demnächst stattfinden soll. Das stellt ihn vor ein Problem: Er spricht kein Deutsch, kein einziges Wort. Und da für die Tagung selbst Kollegen aus Deutschland anreisen werden und in seiner Abteilung niemand studieren darf, der nicht mindestens ein Jahr lang Deutsch gelernt hat, beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Schnell nimmt er deshalb bei einem obskuren Mitbewohner in Murrays Pension ein wenig Unterricht in der Sprache, die er als verschroben und grausam empfindet.

Die Giftgaswolke über der Vorstadt

Seit Längerem plagt Jack das unbehagliche Gefühl, dass das sorgenfreie, aber auch planlose Leben seiner Familie eines Tages erschüttert werden könnte. Diese Ahnung bestätigt sich, als sein 14-jähriger Sohn Heinrich vom Dach des Familienhauses aus eine ungewöhnliche Aktivität am örtlichen Rangierbahnhof ausmacht.

„Die riesige dunkle Masse bewegte sich wie ein Totenschiff in einer altnordischen Sage über den Nachthimmel, begleitet von gepanzerten Geschöpfen mit schraubenförmigen Flügeln. (...) Unsere Angst war begleitet von einem Gefühl der Ehrfurcht, die ans Religiöse grenzte.“ (S. 163)

Schnell stellt sich heraus, dass dort ein Zug entgleist ist, dessen Waggons das hochgiftige Gas Nyoden-D enthielten. Dieses schwebt nun als schwarze Giftwolke über der Stadt und treibt bedrohlich auf Jacks Haus zu. Schließlich folgt dieser den Evakuierungsaufrufen der Behörden und reiht sich mit seiner Familie in eine lange Autoschlange von Mitbürgern ein, die auch vor der Wolke flüchten und sich durch den Schneefall kämpfen, der soeben eingesetzt hat. Unterwegs geht dem Familienauto das Benzin aus. Glücklicherweise ist eine verlassene Tankstelle in unmittelbarer Nähe. Obwohl die Giftwolke mittlerweile fast über ihnen schwebt, springt Jack aus dem Auto und füllt den Benzintank.

„Dieser kleine Hauch von Nyoden hat den Tod in meinen Körper gepflanzt. Das ist jetzt offiziell, laut Computer. Ich trage den Tod in mir. Jetzt geht es nur noch darum, ob ich ihn überleben kann oder nicht.“ (S. 194)

Später, im Evakuierungszentrum, teilt ihm ein Techniker mit, dass er sich beim kurzen Tankfüllen wahrscheinlich bereits zu lange dem Giftgas in der umgebenden Luft ausgesetzt hat. Dieses Gas, so der Experte, habe langfristige Folgen: Die tödliche Wirkung werde frühestens in 15 Jahren einsetzen. Sollte Jack es schaffen, 30 Jahre zu überleben, habe er Glück gehabt – denn so lange dauere es, bis die Substanz im menschlichen Körper abgebaut sei.

Die Ruhe vor dem Sturm

Die Evakuierung der Stadtbevölkerung endet nach einigen Tagen, alle können in ihre Häuser zurückkehren. Doch ein Warnzeichen bleibt: Weiterhin streifen Männer in Schutzanzügen durch die Umgebung der Kleinstadt und entnehmen überall Proben.

„Nacht für Nacht schob ich mich an ihre Brüste, kuschelte mich in diesen ausersehenen Ort wie ein angeschossenes U-Boot in sein Reparaturdock.“ (über Babette, S. 221)

Jack beschließt, die langfristige Vergiftung vor seinen Angehörigen geheim zu halten. Nur mit seinem Kollegen Murray, den die Familie immer noch ab und zu im Supermarkt antrifft, bespricht er die Situation. Er habe schon immer Angst vor dem Tod gehabt, gesteht er ihm. Das sei ganz normal, meint Murray. All die Auswüchse der Konsumkultur seien doch ein einziger Versuch, dieser Todesfurcht zu entkommen. Auch dass Jack Hitler zu seinem Thema gewählt hat, ist laut Murray kein Zufall: Von der Beschäftigung mit dem Genozid, glaubt er, hat sich Jack Schutz vor dem eigenen Tod erhofft. Jack kann das durchaus nachvollziehen. Auch die Massenveranstaltungen der Nazis mit ihren düsteren Ritualen dürften wohl vor allem dazu gedient haben, die Angst der Menschen vor dem Tod zu beschwichtigen.

„Was, wenn der Tod nichts anderes ist als ein Geräusch? – Ein elektrischer Ton. – Man hört ihn immerzu. Geräusch ringsumher. Wie schrecklich. – Gleichmäßig, weiß.“ (Babette und Jack, S. 254)

Jack hat immer geglaubt, dass er und Babette sich in einem einig seien: Jeder von ihnen wollte vor dem geliebten Menschen sterben, um so der nachfolgenden Trauer und Einsamkeit zu entgehen. Nun muss Jack zugeben, dass er doch lieber einsam als tot wäre.

Drama um Dylar

Schon vor dem toxischen Vorfall hat Denise, die elfjährige Tochter Babettes, Jack auf ein unbekanntes Medikament namens Dylar aufmerksam gemacht, das seine Frau einnimmt. Als Jack eine weitere versteckte Flasche davon findet, versucht er herauszubekommen, worum es sich dabei handelt. Zu seinem Erstaunen können ihm weder die Familienärzte noch die Apotheker noch eine Professorenkollegin, die auf Neurobiologie spezialisiert ist, weiterhelfen.

„Das ‚Nationenweite Krebs-Quiz‘ kam am Fernsehen.“ (S. 273)

Jack stellt Babette wegen Dylar zur Rede. Sie gesteht ihm, dass sie schon lange Zeit an einer tiefen Todesfurcht leide. Auf eine Anzeige in einem Groschenblatt hin ist sie mit einem Projektleiter in Kontakt getreten, der ein Medikament im Versuchsstadium anzubieten hatte, just mit dem Ziel, die allgemeine Todesfurcht der Menschen zu bekämpfen. Babette war so verzweifelt, dass sie einwilligte, sich mit dem Mann wöchentlich in einer Absteige zu treffen, um mit ihm einen Tauschhandel einzugehen: Sex gegen das Medikament. Das Dumme ist nur: Dylar funktioniert bis heute nicht, das Medikament hat Babettes Todesfurcht nicht eingedämmt. Jack will wissen, wer der Projektleiter ist, doch sie weigert sich, seinen Namen zu nennen. Schließlich erzählt ihr Jack von seiner todbringenden Vergiftung. Babette ist völlig aufgelöst vor Schmerz.

Jacks Rache

Zunächst verläuft Jacks Leben und das seiner Familie wieder in den üblichen Bahnen. Dann taucht eines Tages unverhofft Babettes Vater Vernon bei der Familie auf. Er hat sich einfach gelangweilt und ist daraufhin 14 Stunden ohne Stopp durchgefahren, um seine Tochter und ihre Familie zu besuchen. Am Ende seines Kurzbesuchs drückt er Jack eine 6,35-mm-Zumwalt-Automatik in die Hand, „deutsche Wertarbeit“, wie er sagt. Die Pistole ist als Geschenk für alle Fälle gedacht. Weil Babette Waffen ablehnt, versteckt Jack die Pistole zwischen seiner Unterwäsche.

„Manche Menschen sind überlebensgroß. Hitler ist übertodesgroß. Sie haben gedacht, er würde Sie schützen. Ich verstehe das vollkommen.“ (Murray zu Jack, S. 365)

Kurze Zeit später berichtet ihm seine Professorenkollegin aus der Neurobiologie, dass sie von einem Fall gelesen habe, bei dem der Leiter eines pharmazeutischen Projekts entlassen worden sei. Es bestehe offenbar ein Zusammenhang mit dem Medikament Dylar. Der Mann namens Willie Mink hätte sich im alten, früher deutschen Teil der Kleinstadt mit einer Frau in einer Skimaske getroffen und ihr gegen Sex das Medikament angeboten.

„Der Töter versucht, theoretisch, seinen eigenen Tod zu bekämpfen, indem er andere tötet. Er kauft Zeit, er kauft Leben.“ (Murray, S. 370)

Jack versucht, seine Eifersucht – die Babette für einen primitiven Instinkt des Mannes hält – zu bekämpfen. Doch es gelingt ihm nicht, seine Gefühle zu unterdrücken. Mithilfe der Hinweise seiner Kollegin macht er das billige Motel ausfindig, in dem der ehemalige Projektleiter Willie Mink seine Frau empfangen hat. Mink wohnt unterdessen sogar dauerhaft in der Absteige. Jack nimmt die Pistole seines Schwiegervaters und fährt hin.

„Deshalb sind wir hier. Eine winzige Minderheit. Um Altes, alte Glaubensüberzeugungen zu verkörpern. Den Teufel, die Engel, den Himmel, die Hölle. Wenn wir nicht vorgeben würden, daran zu glauben, würde die Welt zusammenbrechen.“ (eine Nonne zu Jack, S. 405)

Ohne zu klopfen, betritt er Minks Zimmer. Er trifft auf einen verwahrlosten und geistig verwirrten Menschen in Bermudashorts, der mit abgedrehtem Ton fernsieht und laufend Tabletten einwirft. Sie sprechen eine Weile miteinander, erst über Dylar, dann über Babette, die sich offenbar tatsächlich eine Skimaske überzog, um Minks nicht küssen zu müssen. Jack gibt sich zu erkennen. Er spürt ein erhebendes Gefühl in sich aufsteigen und schießt Mink zweimal in den Bauch. Danach drückt er ihm die Pistole in die Hand, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Doch Mink ist nicht tot: Halb ohnmächtig feuert er die Pistole ab und trifft Jack ins Handgelenk. Dieser wird plötzlich von Gewissensbissen geplagt, schleppt sein Opfer zum Wagen und bringt den grässlich blutenden Mann in die nächstgelegene Krankenstation.

„Die Regale im Supermarkt sind umgestellt worden. Es geschah eines Tages, ohne Vorwarnung. Aufregung und Panik herrscht in den Gängen, Bestürzung zeichnet sich auf den Gesichtern der älteren Käufer ab.“ (S. 413 f.)

Wie sich herausstellt, wird das Krankenhaus von deutschsprachigen Nonnen und Ärzten betrieben. Es gelingt ihnen, Mink das Leben zu retten. Er faselt wirres Zeug und kann sich nicht mehr erinnern, wer auf ihn geschossen hat. Jack muss sich also keine Sorgen wegen rechtlicher Folgen machen. Im Spital beginnt er ein Gespräch mit den Nonnen. Er stellt erstaunt fest, dass sie gar keine wirklichen religiösen Überzeugungen haben. Vielmehr täuschen sie diese vor, weil sie sie fürs Überleben der Menschheit als absolut notwendig erachten.

Wilder und der Supermarkt

Eines Tages entschließt sich der kleine Wilder in einem unachtsamen Moment seiner Eltern, mit dem Dreirad einen viel befahrenen Highway zu überqueren. Wie durch ein Wunder rasen die ausweichenden Wagen an ihm vorbei, er kommt am anderen Ende der Straße an, purzelt die Böschung hinunter und landet in einer kleinen Wasserfurche. Ein Kraftfahrer, der angehalten hat, holt in da heraus.

Was ist sonst noch passiert? Die Regale im Supermarkt sind umgestellt worden. Das hat vor allem bei den älteren Stammkunden Aufregung und Panik hervorgerufen. Sie verirren sich in einer neuen Ordnung, in der sie keinen Sinn erkennen. Schließlich gelangen aber doch alle zur Kasse. Wer hier in der Schlange steht, kann einen Blick auf die aufgereihten Groschenblätter werfen. Übernatürliches, Außerirdisches, Wunderheilmittel: Man findet darin alles, was man außer Essen und Liebe braucht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Don DeLillo hat seinen Roman in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil mit dem Titel „Wellen und Strahlen“ beschreibt er das Alltagsleben einer typischen amerikanischen Mittelstandsfamilie, das auf allen Ebenen – vom Supermarktbesuch über das Fastfood bis zum gemeinsamen Fernsehen – von Konsum und scheinbarer Sorglosigkeit geprägt ist. Im zweiten Teil mit dem Titel „Der luftübertragene toxische Vorfall“ führt der Autor vor, wie schnell diese Mittelstandsidylle durch unvorhersehbare Ereignisse erschüttert werden kann. Im dritten Teil „Dylarama“, der die Hälfte des Buches ausmacht, wird dann anhand der Ereignisse um ein Anti-Todesfurcht-Medikament geschildert, wie sehr Verdrängungsstrategien unser Leben prägen.

Jack Gladney, der Ich-Erzähler, legt die leichten und schweren Katastrophen seines Lebens mit großer Offenheit dar. Zwischen den farbig geschilderten Details eröffnen sich Abgründe, die der Leser oft selbst erschließen muss. DeLillos Sprache ist geprägt von sarkastischer Bissigkeit, sie zitiert hohle Werbesprüche und Off-Töne aus TV und Radio, zeichnet banale Alltagsdialoge nach, scheut aber auch vor philosophischen Abschweifungen nicht zurück.

Interpretationsansätze

  • Don DeLillos Roman Weißes Rauschen ist in erster Linie eine köstliche Satire auf den American Way of Life der 80er Jahre mit all seiner naiven Konsumorientierung und Sorglosigkeit. Das Schwarzmarktmedikament Dylar steht symbolisch für die Konsum- und Medienwelt: Deren zunehmender Lärm dient nur dazu, von der Todesfurcht abzulenken.
  • DeLillo entlarvt zudem die Absurdität des akademischen Elitedenkens: Gut situierte Eltern glauben, hohe Studiengebühren würden ihren Kindern eine solide Ausbildung garantieren – obwohl der Hitlerexperte des Colleges kein Deutsch kann und sich die Avantgardistischen unter den Professoren dadurch auszeichnen, dass sie „nichts anderes lesen als die Texte auf den Cornflakespackungen“.
  • Die Bedrohungen der Moderne machen alle Menschen gleich. Jack Gladney, der zuerst glaubt, die Giftwolke könne ihm nichts anhaben, weil so etwas nur den armen Leuten draußen auf dem Land widerfahre, wird schmerzhaft eines Besseren belehrt. Den Tod im Körper, kann er seinem gesellschaftlichen Status keine Genugtuung mehr abgewinnen.
  • Mit seinen Ausführungen zum Phänomen Hitler liefert DeLillo eine überzeugende, fast schon tiefenpsychologische Analyse der „Kultur des Todes“: Sie ist ein Resultat von Ohnmachtsgefühlen gegenüber der eigenen Sterblichkeit.
  • Weißes Rauschen nennt man in der Technik jenes Geräusch, das man beim gleichzeitigen Hören sämtlicher Radiofrequenzen wahrnehmen würde. Im Roman steht es für die vielfältigen, einander überlagernden Signale, die auf den Menschen einströmen, sowie für die stets mitschwingende Angst vor dem Tod und vor der Sinnlosigkeit des Lebens inmitten der Kakofonie des Konsums. Das Geräusch ist fein und leise, aber nicht dauerhaft zu unterdrücken.

Historischer Hintergrund

Die Goldenen Achtziger und ihre ungeahnten Folgen

Die Anfänge der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren vor allem in den USA von einem fast ungetrübten wirtschaftlichen Fortschrittsglauben geprägt. Der amerikanischen Mittelklasse ging es blendend. Die Löhne waren im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten hoch, die Benzinpreise lächerlich niedrig. Fast jeder aus dem Mittelstand hatte eine umfassende Krankenversicherung für sich und seine Familie. Unternehmen wie Microsoft begannen ihren Siegeszug um die ganze Welt anzutreten. Der Einzelhandel blühte, und wer Kredite aufnehmen musste, um sein Konsumstreben zu befriedigen, konnte diese leicht und schier unbegrenzt erhalten.

In der Medienwelt eröffneten sich mit dem aufkommenden Kabelfernsehen ganz neue Zerstreuungsmöglichkeiten. Mittelstandsfamilien konnten sich höhere Studiengebühren leisten und ihren Nachwuchs auf so genannte Eliteschulen schicken – mit garantierter anschließender Karriere. Die Welt war politisch in zwei Lager aufgeteilt, und der Kapitalismus schien gegenüber dem Kommunismus immer deutlicher im Vorteil.

Erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts – und damit nach DeLillos Roman – sollten sich erste Risse in diesem harmonischen Gefüge auftun. 1986 kam völlig überraschend die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Der „kleine“ Börsencrash 1989 war eine erste Warnung, dass die westliche Wohlstandsmaschine ins Stocken geriet.

Entstehung

Die weltweite Angst vor atomaren Waffen war längst allgegenwärtig, als im März 1979 der spektakuläre Zwischenfall im Kernkraftwerk Three Mile Island auch die Gefahren der friedlichen Nutzung der Atomkraft offenbarte. Der Umweltschutz wurde in den 80er Jahren das Thema der Stunde. Technischer Fortschritt hatte sich wieder einmal als zweischneidiges Schwert entpuppt. Nach Don DeLillos eigener Aussage war es vor allem diese Erkenntnis, die ihn zu Weißes Rauschen anregte. „Es dreht sich um Angst, Tod und Technologie“, sagte DeLillo 1984 über sein damals neues Buch und fügte hinzu: „Eine Komödie also.“

Kritiker haben angemerkt, dass Weißes Rauschen gewisse Parallelen zu Die Versteigerung von No. 49 aufweist, einem medienkritischen Roman von Thomas Pynchon, der sich wiederum bei Marshall McLuhan bedient hat, dem großen Kommunikationstheoretiker und Erfinder des „globalen Dorfs“. DeLillo selbst hat Pynchon als Maßstab für einen idealen Schriftsteller seiner Zeit bezeichnet. Der einzige direkte Einfluss, den er aber bezüglich Weißes Rauschen gelten lässt, ist Ernest Beckers Dynamik des Todes. Dieses wissenschaftliche Werk, das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, geht davon aus, dass fast jegliche menschliche Aktivität darauf ausgerichtet ist, die eigene Sterblichkeit zu verneinen.

Der ursprüngliche Titel des Buches sollte „Panasonic“ sein. Für DeLillo war diese Kombination aus dem griechischen „pan“ (mit seiner Bedeutung des Allumfassenden) und „sonic“ (akustisch, den Schall betreffend) die beste Typisierung seines Werks und dessen Fokussierung auf das alles durchdringende Rauschen. Der japanische Matsushita-Konzern, Inhaber der Marke Panasonic, verweigerte jedoch die Zustimmung. Daneben war auch der deutschsprachige Titel „Mein Kampf“ im Gespräch – wohl weil Jack Gladney ebenso wie Hitler auf seine Weise die Todesfurcht zu überwinden sucht. Ein weiterer Arbeitstitel des Buches war „Das amerikanische Buch der Toten“, eine Anspielung auf das berühmte Werk der ägyptischen Antike.

Wirkungsgeschichte

Mit Weißes Rauschen gelang DeLillo endgültig der Durchbruch als Schriftsteller. Das Buch war ein kommerzieller Erfolg und ebnete ihm den Weg zu seinen späteren Bestsellern. Mit der in diesem Roman angerissenen Thematik etablierte sich DeLillo als einer der wichtigsten Autoren der literarischen Postmoderne. Typisch für deren Romane ist das Fehlen eines festen, allgemein gültigen Weltbildes; an dessen Stelle tritt eine radikal subjektive, mitunter orientierungslose Sichtweise der Protagonisten.

1985 erhielt DeLillo für Weißes Rauschen den National Book Award. Der amerikanische Regisseur Barry Sonnenfeld plante eine Verfilmung des Romans für 2006, die Dreharbeiten wurden aber abgebrochen, der Film blieb unvollendet und unveröffentlicht. Namhafte Autoren wie Martin Amis oder Brett Easton Ellis, die selbst der Postmoderne zuzuordnen sind, nennen DeLillo als wichtigen Einfluss auf ihr Schaffen.

Über den Autor

Don DeLillo wird am 20. November 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in New York geboren und wächst in der Bronx auf. 1958 macht er seinen Abschluss an der Fordham University. Zunächst ist er mehrere Jahre als Werbetexter bei der bekannten Agentur Ogilvy & Mather tätig. 1971 erscheint sein erster Roman Americana. 1975 heiratet DeLillo Barbara Bennet, danach lebt er einige Jahre in Griechenland, wo er den 1982 erschienenen Roman The Names (Die Namen) verfasst. Für den Nachfolger White Noise (Weißes Rauschen, 1984) erhält er den angesehenen amerikanischen National Book Award. Das Buch begeistert die Kritiker, und DeLillo erreicht zum ersten Mal ein größeres Lesepublikum. 1988 erscheint sein Roman Libra (Sieben Sekunden), in dem er das Kennedy-Attentat behandelt und sich an einer fairen Darstellung des Präsidentenmörders Lee Harvey Oswald versucht. Zu fair für manche: DeLillo wird als „schlechter Bürger“ bezeichnet, was er selbst wiederum als Kompliment auffasst. 1991 liefert er in Mao II ein verstecktes Porträt des von ihm verehrten (und ihn verehrenden) Schriftstellerkollegen Thomas Pynchon ab. Im Roman Underworld (Unterwelt, 1997), der als sein Hauptwerk gilt, kritisiert er die Denkhaltung Amerikas während des Kalten Krieges. 1999 wird DeLillo mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Im Jahr 2004 erwirbt das Harry Ransom Humanities Research Center der Universität von Texas die gesammelten Notizen zu seinen Werken. 2003 erscheint sein Werk Cosmopolis, 2007 Falling Man, in dem er sich auf die Spuren eines Überlebenden der Terroranschläge vom 11. September 2001 begibt. Neben Romanen hat DeLillo auch mehrere Theaterstücke und ein Filmdrehbuch verfasst. Sein Œuvre umfasst mittlerweile über 20 Titel. DeLillo lebt mit seiner Frau, einer Landschaftsarchitektin, in New York.

Hat Ihnen die Zusammenfassung gefallen?

Buch oder Hörbuch kaufen

Diese Zusammenfassung eines Literaturklassikers wurde von getAbstract mit Ihnen geteilt.

Wir finden, bewerten und fassen relevantes Wissen zusammen und helfen Menschen so, beruflich und privat bessere Entscheidungen zu treffen.

Für Sie

Entdecken Sie Ihr nächstes Lieblingsbuch mit getAbstract.

Zu den Preisen

Für Ihr Unternehmen

Bleiben Sie auf dem Laufenden über aktuelle Trends.

Erfahren Sie mehr

Studenten

Wir möchten #nextgenleaders unterstützen.

Preise ansehen

Sind Sie bereits Kunde? Melden Sie sich hier an.

Kommentar abgeben

Mehr zum Thema

Vom gleichen Autor