Italo Calvino
Wenn ein Reisender in einer Winternacht
dtv, 2009
Was ist drin?
Eine fantastische Reise ins Labyrinth des Lesens.
- Metafiktion
- Postmoderne
Worum es geht
Ein hintersinniges Spiel mit dem Leser
Täglich wächst der Bücherberg, die Verlage überfluten den Markt mit Neuerscheinungen, Bestsellerautoren produzieren wohlkalkulierte Werke am laufenden Band. Was davon soll man lesen? Warum soll man überhaupt etwas lesen? Der Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht erzählt von seiner eigenen Entstehung und vom Bedürfnis des Publikums nach Unterhaltung. Der Leser wird in die Geschichte hineingezogen, er wird vom Konsumenten zum Protagonisten – natürlich nur scheinbar, denn die Zerstörung der Illusion ist Teil des Spiels, das der Autor mit uns treibt. Italo Calvino, der bezüglich Sprachtheorie mit allen Wassern gewaschen war und sich in den 70er Jahren intensiv mit Strukturalismus und Semiotik beschäftigte, sah in der Literatur die Möglichkeit, traditionelle Erzählmuster zu durchbrechen und ironisch mit den Erwartungen des Lesers zu spielen. Diesen macht er zur literarischen Figur und lässt ihn allerlei Abenteuer, amouröse Affären und wilde Verfolgungsjagden erleben. Trotzdem bietet dieser kunstvoll konstruierte Roman, in dem verschiedene literarische Stile parodiert werden, vor allem ein intellektuelles Vergnügen.
Take-aways
- Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht ist Metafiktion: Literatur, die von Literatur handelt.
- Inhalt: Der Leser beginnt einen Roman zu lesen, der mittendrin abbricht. Gemeinsam mit der Leserin, in die er sich verliebt, sucht er nach der Fortsetzung der Geschichte. Doch die Romane, die sie zu lesen beginnen, bleiben stets nur Fragment. Allmählich kommt der Leser einer dunklen Verschwörung auf die Spur – und erobert dabei das Herz der Leserin.
- Der Leser wird mit Du angeredet und in eine abenteuerliche Handlung verstrickt.
- Der Roman besteht aus einer Rahmenhandlung und zehn Romananfängen, die jeweils einen literarischen Stil imitieren.
- Thematisiert werden die Entstehung eines Romans, die Schreibhemmungen des Autors und die Erwartungen des Lesers.
- Calvino verarbeitet in dem Roman strukturalistische und semiotische Literaturtheorien.
- Lesen bedeutet bei ihm nicht nur die Lektüre eines Buches, sondern das Entziffern der Welt.
- Der Autor führt verschiedene Typen von Lesern vor. Er bevorzugt den naiven, unvoreingenommen Leser.
- In Italien zählt der Roman zu den modernen Klassikern und ist Schullektüre.
- Zitat: „Wie gut ich schreiben würde, wenn ich nicht wäre!“
Zusammenfassung
Der neue Roman von Italo Calvino
Der neue Roman von Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, den der Leser sich gekauft hat, beginnt sehr vielversprechend: An einem regnerischen Abend steigt ein Mann an einem Provinzbahnhof aus dem Zug. Sein Auftrag, einen Unbekannten zu treffen und unauffällig zwei identisch aussehende Koffer zu tauschen, ist gescheitert: Der Zug hatte Verspätung. In dem kleinen Bahnhofscafé, wo jeder jeden kennt, kommt der Mann mit einer attraktiven Frau ins Gespräch. Man verabredet sich für den späteren Abend, doch da betritt der Kommissar das Lokal und gibt sich ihm durch ein Kennwort als Mitwisser zu erkennen. Er erklärt dem Mann, dass der Fremde, den er hier treffen sollte, getötet worden sei. Er selbst solle den nächsten Zug nehmen und schnell von hier verschwinden, sonst müsse der Kommissar ihn verhaften.
Lesen verbindet – und verwirrt
Der Roman gewinnt gerade an Fahrt, und der Leser blättert gespannt weiter, als er bemerkt, dass manche Seiten sich wiederholen. Ärgerlich hadert er mit den Zufällen und Unwägbarkeiten des Lebens. Tags darauf erklärt der Buchhändler, bei der Herstellung des neuen Calvino-Buches sei ein Fehler passiert. Die Druckbogen von Wenn ein Reisender in einer Winternacht seien mit denen von einem polnischen Roman, Tazio Bazakbals Vor dem Weichbild von Malbork, durcheinandergeraten. Als der Leser erklärt, er wolle das Buch weiterlesen, mit dem er begonnen habe, rät der Buchhändler ihm zum Kauf des polnischen Werks. Er fügt hinzu, der jungen Dame dort hinten bei den Bücherstapeln sei es ebenso ergangen – für den Leser ein guter Anlass, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie heißt Ludmilla. Die beiden tauschen sogar ihre Telefonnummern aus, und so glücklich wie lange nicht mehr verlässt der Leser das Geschäft.
„Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen.“ (S. 7)
Der Roman, den er nun zu lesen beginnt, spielt auf dem Land. Ein Mann nimmt Abschied vom Haus seiner Kindheit. Der Roman – spannend und prall gefüllt mit sinnlichen Eindrücken – fesselt den Leser. Aber seine Enttäuschung ist groß, als er immer wieder auf leere Seiten stößt. Er kann der Handlung nicht mehr folgen, das Milieu ist plötzlich ein anderes, neue Personen tauchen auf. Hat er womöglich erst jetzt damit begonnen, den eigentlichen Roman Vor dem Weichbild von Malbork zu lesen? Nachforschungen über die Namen und Orte ergeben, dass der Anfang des Buches in Kimmerien spielt, einem Land, das inzwischen von der Karte verschwunden ist.
„Pass auf, das ist bestimmt ein Trick, um dich langsam einzufangen, dich in die Handlung hineinzuziehen, ohne dass du es merkst: eine Falle.“ (S. 17)
Der Leser nimmt die Verwirrung zum Vorwand, Ludmilla anzurufen. Er möchte sich mit ihr verabreden. Sie besteht darauf, sich in der Universität zu treffen, wo sie etwas über kimmerische Literatur herausfinden möchte. Als sie nicht am Treffpunkt erscheint, führt Irnerio, ein Bekannter Ludmillas und bekennender Nichtleser, den Leser zu Professor Uzzi-Tuzii, einem Spezialisten für Kimmerisch. Während dieser beklagt, dass sich niemand für die tote Sprache interessiere, und dem Leser den fraglichen Roman in eigener Übersetzung vorträgt, wird diesem klar: Obwohl Namen und Orte gleich sind, handelt es sich wieder um eine ganz andere Geschichte. Der Leser und die inzwischen hinzugekommene Ludmilla lauschen mit zunehmendem Interesse, als der Professor plötzlich abbricht. Der Roman Über den Steilhang gebeugt von Ukko Ahti sei leider unvollendet. Da betreten Professor Galligani, Ordinarius für Kimbrisch, und seine aufgebrachten Studentinnen – darunter Ludmillas Schwester Lotaria, eine theoriebeflissene Literaturwissenschaftlerin – den Raum. Sie behaupten, der wahre Verfasser des Buches sei Vorts Viljandi, ein von Kimmerern unterdrückter Kimberer, und der Roman heiße in Wirklichkeit Ohne Furcht vor Schwindel und Wind.
Das obskure Geschäft mit dem Lesen
Während die Studenten nach dem Vorlesen des Romans über Literatur als Reflex auf Produktionsweisen, Verdinglichungsprozesse und semantische Codes des Sexuellen diskutieren, wollen der Leser und Ludmilla einfach nur wissen, wie die Geschichte weitergeht. Der Leser sucht das Verlagshaus auf, in der Hoffnung, vollständige Exemplare der angefangenen Bücher zu erhalten. Doktor Cavedagna, der Verlagslektor, wird von Autoren mit Manuskripten nur so bombardiert. Man überschüttet ihn mit Publikationsgesuchen, die er mechanisch abwehrt. Als der Leser sich ihm als Leser – nicht als Autor – vorstellt, zeigt sich Cavedagna erfreut. Als Kind hätten ihn die wenigen Bücher, die er besessen habe, auch noch gefesselt, aber inzwischen sei es nicht mehr dasselbe. Er erklärt, die Fehler bei der Produktion gingen auf einen Übersetzer namens Ermes Marana zurück, der gefälschte Übersetzungen geliefert habe. Das Original, das allem zugrunde liege, sei der Roman Schaut in die Tiefe, wo das Dunkel sich verdichtet von Bertrand Vandervelde. Gemäß Cavedagna habe Marana argumentiert, der wirkliche Name des Autors spiele ohnehin keine Rolle, und aus der Masse der Bücher, die täglich wachse, würden nur wenige die Jahrtausende überdauern.
„Was ist natürlicher, als dass zwischen Leser und Leserin durch das Buch ein Bündnis entsteht, eine Komplizenschaft, eine Beziehung?“ (S. 38)
Vanderveldes Roman erweist sich als sehr spannend, doch er bricht leider mittendrin ab – die Fotokopien seien verschwunden, bedauert Cavedagna. Stattdessen gibt er dem Leser die Briefe Maranas zu lesen, in denen dieser über seine weitverzweigten dubiosen Geschäfte mit der Ware Literatur berichtet. Offenbar vermarktet eine mächtige Firma gewinnbringend die Sex-and-Crime-Texte eines irischen Produzenten von Serienromanen namens Silas Flannery, der angeblich in seinem Schweizer Domizil sitzt und in einer Schreibkrise steckt – und zudem Vandervelde plagiiert haben soll. Man munkelt sogar, der unerreichbare Romancier schreibe an einem Tagebuch, in dem er sich mit der Schilderung seiner Seelenzustände und der Beschreibung der Landschaft begnüge, die er stundenlang durch ein Fernrohr betrachte. Maranas Briefe beschwören das Bild verschiedener lesender Frauen herauf, in denen der Leser – verliebt wie er ist – Ludmilla zu erkennen meint. Er vertieft sich in das Manuskript von Flannerys In einem Netz von Linien, die sich verknoten. Ist dieser Roman womöglich mit Vanderveldes Buch identisch, nach dessen Fortsetzung er fiebert?
Eifersucht auf Bücher
Während der Leser in Ludmillas Wohnung auf sie wartet – wo der Schlüssel ist, hat sie ihm telefonisch mitgeteilt –, inspiziert er die Räume, die einiges über Vorlieben und Charakter der rätselhaften Frau aussagen. Die vielen Bücher, die sie parallel zu lesen scheint, deuten darauf hin, dass sie allein ist. Denn Lesen ist eine einsame Beschäftigung und schottet von der Außenwelt ab. Doch da betritt Irnerio die Wohnung; auch er weiß, wo der Schlüssel zu finden ist. Irnerio ist Bildhauer und benutzt Ludmillas Bücher als Material für seine Kunstwerke. Er zeigt dem Leser eine Kammer voll äußerlich gleichartiger Bücher – alles Fälschungen Maranas, wie sich herausstellt –, die Irnerio für seine Werke nicht gebrauchen kann. Die Ahnung des eifersüchtigen Lesers über eine Verbindung zwischen Ludmilla und Marana bestätigt sich. Wie Irnerio weiß, wohnte Marana einst in der Wohnung und er taucht immer wieder auf, um richtige gegen falsche Bücher auszutauschen.
„Im zarten Kindesalter bringen sie einem das Lesen bei, und dann bleibt man das ganze Leben lang Sklave all des geschriebenen Zeugs, das sie einem ständig vor die Augen buttern.“ (Irnerio, S. 59)
Nachdem Ludmilla und der Leser sich leidenschaftlich geliebt haben, erzählt er ihr von Flannerys Buch, das sie nun auch unbedingt lesen möchte. Leider ist es verschwunden: Irnerio hat es mitgenommen, um es zu einer Skulptur zu verarbeiten. Doch in der Kammer liegt, wie der Leser gesehen hat, noch ein Exemplar des gleichen Buches. Ludmilla ist wütend, als sie erfährt, dass der Leser von der geheimen Kammer weiß. Dieser beginnt allmählich das Motiv für Maranas geheime Machenschaften zu verstehen: Eifersucht auf die Bücher, die zwischen ihm und Ludmilla stehen, Neid auf die Autoren, die aus Büchern zu ihr sprechen, die seine Geliebte mit ihren Geschichten bewegen und verführen. Wenn er die Identität des Autors grundsätzlich in Zweifel zöge, so Maranas Idee, würde Ludmillas Vertrauen in das gedruckte Wort erschüttert – und sie könnte sich ihm wieder ganz zuwenden. Der Umschlag des Buches, das der Leser nun aus der Kammer holt, gleicht zwar dem des verschwundenen. Doch es handelt sich um einen anderen Roman Flannerys mit einem ähnlichen Titel: In einem Netz von Linien, die sich überschneiden. Es hilft alles nichts: Der Leser muss den Autor aufsuchen, um das Geheimnis zu lüften.
Aus Flannerys Tagebuch
Die Gerüchte stimmen: Silas Flannery schreibt an einem Tagebuch. Durch ein Fernrohr beobachtet er eine Frau, die auf der Terrasse ihres Chalets in einem Liegestuhl liegt und in ein Buch vertieft ist. Der Bestsellerautor beneidet sie um dieses unbefangene Lesen, das ihm selbst versagt ist, seit er zum Schreiben von Geschichten gezwungen ist. Alles, was er schreibt, erscheint ihm künstlich. Er bildet sich ein, die Frau dort unten im Tal lese als einziger Mensch sein wahres Buch – das Buch, das er verfassen müsste, aber niemals verfassen wird. Wenn er vor seiner Schreibmaschine sitzt, fühlt er sich von den Erwartungen seiner potenziellen Leser unter Druck gesetzt und durch die eigene Denk- und Schreibweise eingeengt. Er spürt, dass ihm das, was er schreibt, schon gar nicht mehr gehört.
„Auch du hast genug von diesen intellektzerfressenen, analysezerfledderten Seiten, du träumst von der Rückkehr zu einem natürlichen, unschuldigen, ursprünglichen Lesen ...“ (S. 111)
Flannery ist erschüttert: Sein Übersetzer, ein gewisser Ermes Marana, hat ihn gewarnt, in Japan würden perfekte Imitate seiner Romane hergestellt und als Übersetzung seiner Bücher ausgegeben. Einer Firma sei es gelungen, die Formel von Flannery-Romanen zu knacken und billige Fälschungen zu produzieren. Flannery ärgert sich über den wirtschaftlichen Schaden, fühlt sich zu den Kopien aber auch hingezogen. Er fragt sich, ob dieser Übersetzer, dessen Namen er noch nie gehört hat, selbst etwas mit der Geschichte zu tun hat. Seine Theorie, wonach der Buchautor ohnehin eine fingierte Person ist, die der wirkliche Autor erfindet, macht ihn irgendwie verdächtig. Offenbar sieht der junge Mann in Flannery den idealen Autor des Apokryphen, jemanden, der sich selbst fälschen könne, um in der Welt seiner Erfindungen und Fälschungen ganz aufzugehen. Das entspricht Flannerys Wunsch: Er möchte sein Ich aufgeben und eine Art Ghostwriter sein, der die Welt in ihrer Totalität einfängt und zur Sprache bringt.
„Lesen heißt Alleinsein. Die Leserin erscheint dir beschützt von den Schalen des aufgeschlagenen Buches wie eine Auster in ihrem Gehäuse.“ (S. 175)
Seltsame Dinge geschehen. Junge Leute streifen durch das Gelände, um Außerirdischen Zeichen zu geben, dass hier ein Schriftsteller wohne, den sie als Medium für ihre kosmischen Botschaften benutzen können. Eine Studentin der Literaturwissenschaft namens Lotaria taucht auf. Sie schreibt ihre Dissertation über Flannery. Manuskriptseiten des Autors verschwinden und tauchen verändert wieder auf, sodass er sie nicht als seine wiedererkennt. Und dann steht auf einmal Ludmilla, die Freundin jenes Übersetzers, der plötzlich abgereist ist, vor seiner Tür. Sie erklärt ihm, er verkörpere für sie das Ideal eines naturwüchsigen Autors, der Bücher gleichsam als Naturprozess schaffe, so wie Kürbissträuche Kürbisse machten oder Ameisen Hügel anlegten. Plötzlich ist Flannery eifersüchtig auf sich selbst, d. h. auf jenen Autor, der mit seinen Romanen diese junge, attraktive Frau berührt hat – was ihm als reale Person leider nicht gelingt. Ludmilla weist seine Annäherungsversuche zurück: Mit dem Autor Silas Flannery, dessen Romane sie verschlingt, hat dieser Mann nichts zu tun.
„Leserin, nun wirst du gelesen. Dein Körper wird einer systematischen Lektüre unterzogen (...)“ (S. 184)
Ein Leser ist bei Flannery aufgekreuzt und hat ihm erzählt, dass er in letzter Zeit die Lektüre seiner Romane immer wieder abbrechen musste. Das bringt den Schriftsteller auf eine Idee: Er könnte einen Roman schreiben, der nur aus Romananfängen besteht. Als Held könnte der Leser auftreten, der immer wieder in seiner Lektüre unterbrochen wird, begleitet von einer Leserin, die er in einer Buchhandlung kennen lernt. Der Leser könnte sich auf die Spur des Autors machen und einem Übersetzer hinterherreisen, der sich in einem fernen Land versteckt. Am Ende bliebe der Schriftsteller mit der Leserin allein und hätte sie für sich.
Das Buch endet, und das Leben geht weiter
Das gefälschte japanische Buch Auf dem mondbeschienenen Blätterteppich, das Flannery dem Leser gegeben hat, wird bei dessen Einreise in die südamerikanische Diktatur Ataguitanien, wo er Marana vermutet, beschlagnahmt. Um den Fortgang der Geschichte zu erfahren, reist er weiter in die nordöstliche Volksrepublik Irkanien. Dort sind alle Bücher der Welt zu finden – allerdings zensiert und für die Bevölkerung unzugänglich. Zu seiner Überraschung entpuppt sich der Herrscher des totalitären Staates, Arkadian Porphyritsch, als feinsinniger Intellektueller und leidenschaftlicher Leser.
„Wie gut ich schreiben würde, wenn ich nicht wäre!“ (Flannery, S. 205)
Wieder zu Hause, beschließt der Leser, Ludmilla zu heiraten – immerhin wird in Romanen am Ende doch immer gestorben oder geheiratet. Die Geschichte ist aus, der Leser und die Leserin, die zusammen im Ehebett liegen, klappen die Bücher zu und löschen das Licht. Der Titel des Buches, das der Leser gerade beendet hat, lautet Wenn ein Reisender in einer Winternacht.
Zum Text
Aufbau und Stil
Wenn ein Reisender in einer Winternacht besteht aus einer Rahmenhandlung, die sich über zwölf Kapitel erstreckt, sowie zehn eingeschobenen Romananfängen. Die Konstruktion erinnert etwas an klassische Vorbilder wie Giovanni Boccaccios Dekameron oder die Märchen aus Tausendundeiner Nacht – mit dem bedeutenden Unterschied, dass die einzelnen Handlungsstränge sich nicht zu einem Ganzen fügen, sondern im Gegenteil ihre Verschiedenartigkeit betonen. In postmoderner Manier treibt Calvino ein hintergründiges Spiel mit literarischen Versatzstücken. Die zehn Romananfänge, deren Titel zusammengefügt einen vollständigen Satz ergeben, imitieren und parodieren jeweils einen stilistischen Trend oder ein literarisches Genre des 20. Jahrhunderts – vom Nouveau Roman Alain Robbe-Grillets über den amerikanischen Campusroman bis zum magischen Realismus. So verschieden die Romanfragmente auch erscheinen, sind sie doch alle aus der Perspektive eines männlichen Ich-Erzählers geschrieben, der sich von einer weiblichen Person angezogen und von dunklen Machenschaften bedroht fühlt. Die Tricks und Fallstricke, die Calvino legt, sind originell und zumindest am Anfang noch höchst amüsant. Der ständige Wechsel der Ebenen wie auch die eingeschobenen theoretischen Reflexionen strapazieren jedoch bisweilen die Geduld des Lesers.
Interpretationsansätze
- Calvinos Roman zählt zum Typus der metafiktionalen Literatur in der Tradition von Jorge Luis Borges, Flann O’Brian oder dem späten Vladimir Nabokov, die das eigene Verhältnis zum Erzählen und zum Leser reflektiert, diesen aus seiner behaglichen Lektüre reißt und sich einer geradlinigen Erzählweise verweigert. Ein Ziel des Romans ist es, den traditionellen Erzähler, der für die Wahrheit und Wahrhaftigkeit des Erzählten zu stehen scheint, als bloßes Konstrukt zu entlarven.
- Bei aller intellektuellen Artistik befriedigt der Roman doch auch das Unterhaltungsbedürfnis des Lesers. Calvino hebt die traditionelle Erzählweise aus den Angeln, bedient sich ihrer aber zugleich in ironischer Weise, indem er auf Elemente des klassischen Abenteuer-, Spionage- und Liebesromans zurückgreift.
- Der Leser wandelt sich vom bloßen Konsumenten zum Akteur, der dem Roman erst seine Gestalt gibt. Aus dem anfangs mit Du angesprochenen Unbekannten wird ein Held, der einmal um die Welt reist und in spannende Abenteuer sowie eine Liebesgeschichte verstrickt wird.
- Lesen bedeutet bei Calvino nicht nur die Lektüre eines Buches, sondern nach semiotischer Theorie auch die Wahrnehmung der Welt: So erscheint etwa der Liebesakt als gegenseitiges Lesen von Körpern. Auch die Welt außerhalb der Bücher ist voll von Zeichen und Botschaften, die es zu entziffern gilt.
- Im Lauf des Romans werden unterschiedliche Typen von Lesern vorgestellt. Ludmilla repräsentiert den Idealleser, der sich unvoreingenommen in ein Buch vertieft und in eine andere Welt eintaucht. Dagegen ist Lotaria eine intellektuelle, durch allerlei wissenschaftliche Theorien vorgebildete und damit verbildete Leserin, die in Büchern nur findet, was sie zu finden erwartet.
- Das Tagebuch von Silas Flannery, der sich als Alter Ego Calvinos deuten lässt, nimmt im Roman eine Sonderstellung ein. Ein von Schreibhemmungen geplagter Schriftsteller macht sich darin Gedanken über die Bedingungen des Schreibens und will sich selbst abschaffen – er will also genau das, was der Autor Calvino in seinem Roman letztlich tut.
Historischer Hintergrund
Zwischen Neorealismus und künstlerischer Freiheit
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Italien eine breite öffentliche Diskussion über neue kulturpolitische, ethische und ästhetische Konzepte ein. Die moskautreue Kommunistische Partei Italiens (PCI) unter Palmiro Togliatti forderte eine moderne, engagierte und realistische Literatur, die Objektivität und Wahrheit vermitteln sowie zur Schaffung des neuen Menschen beitragen sollte. Viele Intellektuelle folgten Antonio Gramscis Konzept der „kulturellen Hegemonie“, wonach zunächst die Arbeiterschaft und anschließend die ganze Gesellschaft auf eine geistige Linie zu bringen sei. Zu diesem Zweck bemächtigten sie sich literarischer wie philosophischer Klassiker, interpretierten sie neu und schufen so eine linke Nationalkultur, die für die nächsten zwei Jahrzehnte großen Einfluss haben sollte. Bis in die 50er Jahre war der Neorealismus, den einige Künstler in den letzten Jahren der faschistischen Diktatur begründet hatten, die beherrschende Richtung in Film und Literatur. Autoren wie Cesare Pavese und Elio Vittorini, die sich um das linksliberale Turiner Verlagshaus Einaudi sammelten und sich in der PCI engagierten, betonten jedoch stets die Autonomie des Schriftstellers, die die Grundlage seiner künstlerischen Kreativität bilde.
Entstehung
Als Schriftsteller und aktives Mitglied der Kommunistischen Partei befand sich Italo Calvino in einem Zwiespalt. Einerseits unterschied er – ganz im Sinne der Partei – zwischen einer nützlichen kommunistischen Literatur, die gesellschaftliche und ethische Themen auf klare, allgemein verständliche Weise aufgriff, und einer gefährlichen bürgerlich-kapitalistischen Literatur, die unbewusste, unreflektierte Gefühle spiegelte. Andererseits wehrte er sich gegen starre theoretische und technische Vorgaben wie auch gegen eine rein chronistische, neorealistische Literatur und betonte die Rolle der erzählerischen Fantasie. Wie sein Freund, der Filmregisseur Michelangelo Antonioni, erkannte Calvino die historische Berechtigung des Neorealismus an, sah aber, dass dieser als ästhetisches Modell für die sich wandelnde Gesellschaft der Zukunft nicht mehr taugte. Er selbst, so schrieb er einmal, wollte die wirklich wichtigen Autoren – es seien insgesamt nicht mehr als 20 oder 30 – lesen und etwas schaffen, was die Zeit überdauerte. Calvino bevorzugte große Erzähler wie Joseph Conrad, über dessen Werk er promoviert hatte, Anton Tschechow, William Faulkner und Ernest Hemingway.
Nach dem Ungarnaufstand im Jahr 1956 und Togliattis uneingeschränkter Zustimmung zum sowjetischen Einmarsch kam es zum endgültigen Bruch Calvinos mit der Kommunistischen Partei. Wie Tausende andere Genossen trat er aus der PCI aus und widmete sich fortan ganz seiner Arbeit bei Einaudi. Als Verlagslektor, der viele Manuskripte las und sich als „Literaturscout“ zeitweise auch in den USA aufhielt, gelangte er zu der Überzeugung, dass in der neuen Zeit alle Stile möglich seien und nebeneinander existieren konnten. Dies führte in seinen Augen allerdings nicht zu postmoderner Beliebigkeit, sondern half den Schriftstellern, ihren eigenen Stil zu finden.
Nach längeren Aufenthalten in Frankreich ließ sich Calvino 1967 dauerhaft in Paris nieder. Dort lernte er verschiedene avantgardistische Strömungen der Literatur kennen und beschäftigte sich mit der damals in Mode gekommenen Semiotik, der Lehre der – sprachlichen wie nichtsprachlichen – Zeichen. Er las die Werke des Strukturalismus, machte Bekanntschaft mit Claude Lévi-Strauss und besuchte die Vorlesungen des berühmten Semiotikers und Linguisten Roland Barthes, der ihn mit seiner Theorie vom Tod des Autors beeindruckte. Großen Einfluss auf ihn übten auch der Dichter Raymond Queneau und dessen Autorenkreis Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle) aus. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien wirkte inspirierend: Nach dem Erscheinen von Die unsichtbaren Städte (1972) beendete Calvino seine mehrjährige Schreibpause und veröffentlichte erneut einen Roman: Wenn ein Reisender in einer Winternacht.
Wirkungsgeschichte
Der Roman stieg in Italien schon bald nach seinem Erscheinen in den Rang eines modernen Klassikers auf und zählt heute, wie auch andere Bücher Calvinos, zur Schullektüre. In Deutschland, wo das Werk 1983 erschien, erzielte es eine Auflage von knapp 40 000 Exemplaren – für ein derart komplexes Werk ein beachtlicher Erfolg. Anders als in Italien, wo der Roman auf einhellige Begeisterung stieß und, etwa von Calvinos Freund Umberto Eco, in den höchsten Tönen gelobt wurde, war die Kritik in Deutschland zwiegespalten. Während einige Kritiker dem vergnüglichen Verwirrspiel mit dem Leser bereitwillig folgten, hoben andere die Belanglosigkeit des Inhalts und die allzu durchsichtige Konstruktion hervor.
Über den Autor
Italo Calvino wird am 15. Oktober 1923 in Santiago de Las Vegas auf Kuba als Sohn eines Agrarwissenschaftlers und einer Botanikerin geboren. Nachdem der Vater 1925 zum Direktor eines Forschungsinstituts für Blumenzucht berufen wird, kehrt die Familie nach San Remo in Italien zurück. Dort verbringt Calvino seine Kindheit und Jugend. Schon früh interessiert er sich für Kino und Literatur. Dem Vorbild seiner naturwissenschaftlich orientierten, aufklärerisch eingestellten Eltern folgend nimmt er ein Studium der Agrarwissenschaften an der Universität Turin auf. 1943 kämpft der überzeugte Antifaschist im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Partisanen gegen die Deutschen, eine Erfahrung, die er in seinem ersten Roman Il sentiero dei nidi di ragno (Wo Spinnen ihre Nester bauen, 1947) verarbeitet. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft, das er 1947 abschließt, arbeitet er für das Verlagshaus Einaudi, dem er für die nächsten drei Jahrzehnte als Lektor und zuletzt als Berater verbunden bleibt. Als aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) mischt er sich in politische Diskussionen ein und schreibt regelmäßig für die parteinahe Zeitung L’Unitá. Aus Enttäuschung über die sowjettreue Linie der italienischen Kommunisten verlässt er 1957 die Partei. Im gleichen Jahr erscheint sein Roman Il barone rampante (Der Baron auf den Bäumen, 1957), der international großen Erfolg hat. In Paris lernt der Globetrotter, der u. a. Mexiko, den Iran und Japan bereist, die argentinische Dolmetscherin Esther Judith Singer kennen, die er 1964 in seinem kubanischen Geburtsort heiratet und mit der er eine Tochter hat. Die zunehmende Entfremdung von politischen Utopien und ehemaligen Kampfgenossen treibt ihn zeitweise in die Depression. 1979 erscheint Se una notte d’inverno un viaggiatore (Wenn ein Reisender in einer Winternacht), Calvinos größter Erfolg. Wieder in Rom widmet er sich ab 1980 vor allem literaturtheoretischen Überlegungen. Auf Einladung der Harvard-Universität bereitet er eine Vorlesung vor, die er allerdings nicht mehr halten wird: Nach einem Gehirnschlag am 6. September 1985 fällt Calvino in ein Koma. Unter großer öffentlicher Anteilnahme stirbt er am 19. September 1985 in Siena.
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