Georg Büchner
Woyzeck
Insel Verlag, 1985
Was ist drin?
Büchners Porträt eines von der Gesellschaft entstellten Menschen, der zum Äußersten getrieben wird – ein Meilenstein der deutschen Literatur.
- Drama
- Vormärz
Worum es geht
Der unterdrückte Mensch
Mit Woyzeck hat Georg Büchner einen neuartigen dramatischen Helden geschaffen, der nichts mehr mit dem Heros der klassischen Werke gemeinsam hat. Von Armut geplagt und von seinen Mitmenschen diskriminiert, ist Woyzeck ein totaler Antiheld. Das Drama, das wegen Büchners frühem Tod ein Fragment geblieben ist, erzählt die tragische Geschichte des mittellosen Soldaten Woyzeck, der, um seine Geliebte Marie und das gemeinsame Kind ernähren zu können, alles Menschenmögliche auf sich nimmt. Neben seiner Schufterei muss Woyzeck die Gewaltausbrüche und Moralpredigten seiner Vorgesetzten über sich ergehen lassen. Schlussendlich auch noch von seiner Geliebten betrogen, verliert er seine letzte Lebenshoffnung. Er versinkt endgültig im menschlichen Elend und sieht nur noch einen Ausweg: die Ermordung Maries. Büchners Stück, das scharfe Kritik an der Gesellschaftsordnung der Restaurationszeit um 1830 übt, führt meisterhaft die ausweglose Situation der Armen in einer von den Reichen beherrschten Welt vor Augen. Mit dieser erstmals so unverhüllt gezeigten Darstellung der gesellschaftlichen Realität revolutionierte Woyzeck das deutsche Drama und beeinflusste stark die Literatur des 20. Jahrhunderts.
Take-aways
- Büchners Woyzeck markiert den Beginn des sozialen Dramas in der deutschen Literatur.
- Woyzeck, der Antiheld des Stücks, kommt aus der untersten Gesellschaftsschicht.
- Um seine Geliebte Marie und das gemeinsame Kind ernähren zu können, muss der mittellose Soldat seinen Sold mit diversen Nebenbeschäftigungen aufbessern.
- Unter anderem fungiert er als Versuchskaninchen eines Doktors, auf dessen Anweisung er nur noch Erbsen essen darf, und als Barbier seines Hauptmanns.
- Sowohl der Hauptmann als auch der Doktor, die sich Woyzeck moralisch und intellektuell überlegen fühlen, diskriminieren und verspotten ihn öffentlich.
- Zudem betrügt Marie ihn heimlich mit einem stattlichen Tambourmajor.
- Woyzeck, vom Hauptmann über diese Affäre in Kenntnis gesetzt, ertappt Marie beim Tanz mit seinem Rivalen.
- Von wiederkehrenden Wahnvorstellungen geplagt, hört Woyzeck Stimmen, die ihm befehlen, Marie zu ermorden.
- Wenig später folgt Marie Woyzeck vor die Stadt, wo er sie mit einem Messer tötet.
- Nachdem er alle Spuren der Tat beseitigt hat, bleibt Woyzeck allein zurück.
- Büchners Woyzeck revolutionierte mit seiner realistischen Darstellung des erbärmlichen menschlichen Daseins das deutsche Drama.
- Das Werk übte großen Einfluss auf die Literatur des 20. Jahrhunderts aus, insbesondere auf Naturalisten und Expressionisten.
Zusammenfassung
Der Soldat Woyzeck
Der 30-jährige Füsilier Friedrich Johann Franz Woyzeck und sein Kamerad Andres schneiden Stöcke in den Gebüschen vor der Stadt. Mit diesem Nebenverdienst versuchen die beiden ihren niedrigen Sold aufzubessern. Während Woyzeck von Wahnvorstellungen geplagt wird, trällert Andres munter ein Lied und nimmt von den irrationalen Fantasien seines Kameraden keine Notiz. Ein Pochen lässt Woyzeck aufstampfen: Er glaubt, dass die Freimaurer den Boden unter seinen Füßen ausgehöhlt haben. Andres, den nun die Angst packt, wendet sich Woyzeck zu, woraufhin ihn dieser ins Gebüsch reißt. Plötzlich herrscht Totenstille. Da hört Andres in der Ferne die Trommeln der Kaserne, und die zwei Soldaten eilen zurück in die Stadt.
Marie und der Tambourmajor
Marie und ihre Nachbarin Margreth beobachten am Fenster stehend die vorbeiziehenden Soldaten. Auf dem Arm wiegt Marie ihren Sohn Christian. Die beiden Frauen bewundern den gut aussehenden Tambourmajor, vor allem Marie kann ihre Augen nicht von ihm lassen. Margreth, die das sofort bemerkt, spart gegenüber Marie nicht mit Sticheleien. Dies führt schließlich zum Streit, in dem Margreth Marie ihren unsittlichen Lebenswandel vorwirft: Entgegen aller Moralvorstellungen zieht diese nämlich ein uneheliches Kind auf, dessen Vater der arme Füsilier ist. Eine Heirat konnten sich die beiden bisher schlicht nicht leisten.
„Still, alles still, als wär die Welt tot.“ (Woyzeck, S. 12)
Nachdem Marie ihre Nachbarin ein Luder geschimpft hat, knallt sie das Fenster zu und stimmt ein Lied an, in dem sie ihre eigene Situation als unverheiratete Mutter beklagt. Nach zwei Strophen klopft Woyzeck ans Fenster; er will seine Geliebte und das gemeinsame Kind kurz besuchen. Seine Wahnvorstellungen, die ihn immer noch nicht losgelassen haben, versetzen Marie in große Sorge. Sie befürchtet sogar, dass ihr Geliebter seinen Verstand verlieren könnte.
Auf dem Jahrmarkt
Woyzeck und Marie besuchen den Jahrmarkt. Auf dem Platz singt ein alter Mann ein Lied über die Vergänglichkeit der Welt. Zwischen den Buden lädt ein Marktschreier dazu ein, seine zu Menschen erzogenen Tiere zu sehen. Gezeigt werden sollen ein als Soldat gekleideter Affe und ein Pferd mit menschlicher Vernunft. Da sich das Paar das Spektakel nicht entgehen lassen will, betritt es die Bude - gefolgt vom Tambourmajor, der, seit er Marie in der Menge entdeckt hat, dem Objekt seiner Begierde nicht mehr von der Ferse weicht.
„Auf der Welt ist kein Bestand. / Wir müssen alle sterbe, / das ist uns wohlbekannt!“ (alter Mann, S. 14)
Drinnen führt der Ausrufer den gespannt wartenden Zuschauern sein dressiertes Pferd vor. Auf seine Frage, ob unter den Studierten im Publikum ein Esel sitze, schüttelt das Pferd den Kopf. Dies interpretiert der Dompteur als deutliches Nein und erklärt die Antwort des Tiers zum Beweis für dessen Verstand.
Der mittellose Woyzeck
Um für Marie und das Kind sorgen zu können, muss Woyzeck seinen schmalen Sold mit diversen Nebenbeschäftigungen aufbessern. Der mittellose Soldat ist u. a. Handlanger eines Professors, Barbier seines Hauptmanns und Versuchskaninchen eines Doktors. Seit drei Monaten schon darf Woyzeck auf Anweisung des Arztes nur noch Erbsen essen, sodass sich der arme Soldat immer öfter zittrig und schwindlig fühlt. Der Doktor, von den Entwicklungen seines Schützlings fasziniert, lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, Woyzeck der versammelten Studentenschaft als Versuchsobjekt vorzuführen. Er verlangt sogar von ihm, mit den Ohren zu wackeln. Diese Fähigkeit führt der Doktor als Beweis von Woyzecks Verwandtschaft mit dem Esel an. Aus Sicht des Professors ist dies das Resultat einer zu weiblich orientierten Erziehung.
„Meine Herren, Sie können dafür was andres sehen, sehn Sie, der Mensch, seit einem Vierteljahr isst er nichts als Erbsen, beachte Sie die Wirkung, fühle Sie einmal was ein ungleicher Puls, da, und die Augen.“ (Doktor, S. 18)
Marie betrachtet sich selbst in einem Spiegelsplitter; sie trägt Ohrringe, die sie vom Major geschenkt bekommen hat. Als Woyzeck hereinplatzt, möchte er natürlich wissen, woher sie den Schmuck hat. Sie antwortet, dass sie die Schmuckstücke gefunden habe. Obwohl Woyzeck seiner Geliebten nicht glaubt, lässt er die Sache auf sich beruhen. Bevor der Gehetzte wieder forteilt, überreicht er Marie noch seinen Verdienst der letzten Tage. Sie bleibt mit schlechtem Gewissen in ihrer Kammer zurück.
„Ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt mich erstechen.“ (Marie, S. 20)
Woyzeck rennt weiter zum Hauptmann, den er für einen zusätzlichen Batzen rasiert. Der von Langeweile Geplagte mahnt Woyzeck, doch nicht immer so von einem Ort zum nächsten zu hetzen. Ebenfalls tadelt er den Soldat für seine fehlende Moral. Das uneheliche Kind ist dem Hauptmann schon lange ein Dorn im Auge. Woyzecks Argumente, dass ihm das Geld zum Heiraten fehle und dass Gott sein Kind genauso liebe wie alle anderen auch, überzeugen den Hauptmann nicht. In seinen Augen besitzt Woyzeck, wenngleich er ein guter Mensch ist, keine Tugendhaftigkeit.
Marie betrügt Woyzeck
Von der stattlichen Erscheinung des Tambourmajors geblendet, gibt sich Marie ihrem Verehrer hin, obwohl ihr bewusst ist, dass sie einen Fehler begeht. Währenddessen eilt der auf Erbsendiät gesetzte Woyzeck zum Doktor. Dort angekommen, uriniert er notgedrungen vor dem Haus an die Wand.
„Sehn Sie, wir gemeinen Leute, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine Anglaise, und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein.“ (Woyzeck, S. 23)
Der Doktor, der diese Szene vom Fenster aus beobachtet, ist über die fehlende Moral seines Probanden entsetzt und kann sich nur mit Mühe beherrschen, diesem keine Gewalt anzutun. Als Woyzeck jedoch plötzlich von Wahnvorstellungen heimgesucht wird, ist der Arzt schnell besänftigt. Er ist von Woyzecks Zustand derart begeistert, dass er ihm sogar eine Gehaltserhöhung zusichert.
Woyzeck schöpft Verdacht
Während der Hauptmann und der Doktor, die sich mit Herr Exerzierzagel und Herr Sargnagel ansprechen, auf der Strasse plaudern und keine Gelegenheit auslassen, sich gegenseitig hochzunehmen, eilt Woyzeck herbei. Sogleich ruft der Hauptmann den Soldat zu sich und offenbart ihm über diverse Anspielungen das Verhältnis zwischen Marie und dem Tambourmajor, von dem er offensichtlich Kenntnis hat. Woyzeck, im Innersten getroffen, wird kreidebleich. Die heftige Erregung seines Gegenübers erschreckt den Hauptmann. Der Doktor hingegen interessiert sich nur für den körperlichen Zustand seines Versuchskaninchens. Das einmalige Phänomen, das er an seinem Schützling beobachtet, veranlasst ihn, Woyzeck erneut mehr Geld zu versprechen.
Die erschütternde Wahrheit
Der Verdacht lässt Woyzeck keine Ruhe mehr. Er stellt Marie zur Rede. Die leugnet den Fehltritt nicht, gesteht ihn aber auch nicht ein. Von der quälenden Ungewissheit überfordert, hofft Woyzeck bei seinem Kameraden Andres auf ein offenes Ohr. Doch dieser schimpft ihn für seine Verdächtigungen einen Narr. Woyzeck, der bereits ein nächstes Tête-à-Tête zwischen Marie und dem Tambourmajor befürchtet, eilt zur Tanzveranstaltung im Wirtshaus. Dort angekommen, sieht er seinen Verdacht bestätigt: Durchs Fenster beobachtet er, wie Marie eng umschlungen mit dem Tambourmajor tanzt. Als Woyzeck klar wird, dass er seine Geliebte für immer verloren hat, ergreift er verzweifelt die Flucht.
„Wenn die Sonn im Mittag steht und es ist als ging die Welt im Feuer auf, hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!“ (Woyzeck, S. 25)
Auf freiem Feld vermischt sich in seiner Wahrnehmung das soeben Erlebte mit seinen Sinnestäuschungen. Stimmen aus dem Boden und dem Wind befehlen ihm, Marie zu ermorden. Zurück in der Kaserne, verfolgen ihn die Wahnvorstellungen sogar im Schlaf. Andres, der den Ernst der Situation nicht realisiert, sondern glaubt, Woyzeck sei fiebrig, rät seinem Kameraden, einen Schnaps mit Pulver zu trinken.
Im Elend
Von Andres erfährt der unglückliche Woyzeck, dass der Tambourmajor bereits auf dem Kasernenhof von seinem Schäferstündchen mit Marie herumerzählt. Wutentbrannt eilt der Gedemütigte ins Wirtshaus, wo er auf seinen Widersacher trifft und von diesem so lange provoziert wird, bis es zum Ringkampf kommt, aus dem Woyzeck als endgültiger Verlierer hervorgeht. Am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, sieht Woyzeck die Ermordung Maries als einzigen Ausweg aus seinem Elend. Bei einem jüdischen Krämer kauft er sich ein Messer.
„Herr, Hauptmann, ich bin ein armer Teufel, - und hab sonst nichts - auf de Welt.“ (Woyzeck, S. 28 f.)
Zur gleichen Zeit sucht Marie, die sich wegen ihres Seitensprungs schuldig fühlt, in ihrer Kammer Trost und Hilfe in der Bibel. Im Neuen Testament findet sie eine Stelle, in der Jesus einer Ehebrecherin vergibt, aber von ihr verlangt, zukünftig nicht mehr zu sündigen. Im Wissen, dass sie den Reizen des Tambourmajors auch in Zukunft nicht widerstehen kann, wünscht sich Marie, die Füße von Jesus salben zu dürfen, damit auch ihre Sünden vergeben würden. Ihren Sohn, der sie schmerzhaft an Woyzeck und ihre Untreue erinnert, schiebt sie einfach von sich weg, woraufhin sich der schwachsinnige Karl des Kleinen annimmt.
„Der Kerl! Wie er an ihr herumtappt, an ihrm Leib, er, er hat sie wie ich - zu Anfang.“ (Woyzeck, S. 33)
In der Kaserne rafft Woyzeck inzwischen sein Hab und Gut zusammen. Mit seinem baldigen Tod rechnend, teilt er Andres mit, wer was erben soll: Andres soll sein Hemd bekommen, Woyzecks Schwester das Kreuz sowie den Ring. Andres, der immer noch glaubt, Woyzeck leide an einem Fieber, rät ihm, sich im Lazarett helfen zu lassen.
Die Tat
Vor Maries Haus erzählt die Großmutter einigen Kindern und Marie ein Märchen - die Geschichte eines Waisenkinds. Weil das Kind auf der Welt niemanden mehr hat, will es den so freundlich auf die Erde hinabschauenden Mond im Himmel besuchen. Doch dort angekommen, entpuppt sich dieser als ein Stück faules Holz, die Sonne ist eine verwelkte Sonnenblume und die Sterne sind kleine goldene Mücken. Als das Kind wieder auf die Erde zurückwill, ist diese ein umgestürzter Topf, und das arme Wesen bleibt allein und weinend zurück.
„Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot?“ (Woyzeck S. 34)
Kaum hat die Großmutter das Märchen zu Ende erzählt, trifft schon Woyzeck ein und fordert Marie auf, mit ihm zu kommen. Sie folgt ihm bis vor die Stadt, wo bereits alles im Dunkeln liegt. Woyzecks Worte und sein Verhalten sind Marie unheimlich. Als ihr Geliebter plötzlich ein Messer hervorzieht, wird ihr endlich klar, was er vorhat. Doch noch bevor jemand ihre Hilferufe hören kann, tötet Woyzeck sie mit mehreren Stichen. Plötzlich hört er Stimmen näher kommen; er lässt das Messer fallen und läuft weg.
Beseitigung der Mordspuren
Wenig später betritt Woyzeck das Wirtshaus, wo alle ausgelassen tanzen. Noch von der Tat benommen, zieht er ein Mädchen namens Käthe auf die Tanzfläche. Als er sich mit ihr wieder hinsetzt, entdeckt sie an seiner rechten Hand plötzlich Blut. Mit unglaubwürdigen Ausreden versucht Woyzeck sich herauszureden und macht sich so immer verdächtiger.
„Alles tot! Heiland, Heiland ich möchte dir die Füße salben.“ (Marie, S. 37)
Als ihm niemand mehr glaubt, verlässt er das Wirtshaus überhastet und kehrt an den Tatort zurück, wo noch, wie ihm eingefallen ist, die verräterische Tatwaffe liegt. Nach kurzem Suchen findet Woyzeck das Messer und wirft es in den nahe gelegenen Teich. Aus Angst, es sei noch zu wenig tief versenkt, watet Woyzeck ins Wasser und schleudert die Waffe noch weiter hinaus. Anschließend wäscht er sich die Blutflecken ab.
Allein und verlassen
Unterdessen hat sich in der Stadt der Mord schnell herumgesprochen, sodass immer mehr Gaffer zum Tatort hinauseilen. Dort freut sich der Gerichtsdiener über diesen schönen, echten Mord - einen solchen habe es schließlich schon lange nicht mehr gegeben.
„Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und kein Mutter, war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt.“ (Großmutter, S. 39)
Derweil ist Woyzeck nach Hause zurückgekehrt. Dort findet er seinen Sohn unter der Aufsicht des Narren Karl. Christian will nichts mehr von seinem Vater wissen, er beachtet Woyzeck selbst dann nicht, als dieser ihm einen Spielzeugreiter verspricht. Als Woyzeck Karl bittet, Christian das Spielzeug zu kaufen, läuft der Narr mit dem Kind fort. Der Soldat bleibt allein zurück.
Zum Text
Aufbau und Stil
Büchner konnte das Drama Woyzeck vor seinem frühen Tod im Jahr 1837 nicht mehr vollenden, sodass das Werk Fragment geblieben ist. Insgesamt existieren vier Handschriften des Dramas mit jeweils verschiedenen Szenen. Diese lose Szenenfolge war und ist immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Debatten und Kontroversen. So ordneten die zeitgenössischen Ausgaben den Text vorerst nach ästhetischen Kriterien: Eröffnet wurde das Drama mit der Rasierszene und zum Ende hin wurde die unhaltbare Vermutung aufgestellt, dass Woyzeck sich im Teich ertränkt habe. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text, die erst 1920 begann, strebte die von Büchner vorgegebene Szenenanordnung an und verzichtete auf eine Überarbeitung der Texte. Aber bis heute ist es der Literaturwissenschaft nicht gelungen, sich auf eine einheitliche Fassung festzulegen. Aufgrund des vorliegenden Materials ist sogar zu vermuten, dass wohl immer mehrere Varianten möglich sein werden. Unklar wird auch bleiben, welchen Schluss Büchner für das Werk vorgesehen hat. Woyzeck ist ein offenes Drama. Anders als in der klassischen Dramenkunst steht in diesem Stück nicht eine chronologische, sich zuspitzende Handlung im Vordergrund, sondern eine Reihe von meist sehr kurzen, z. T. auch austauschbaren Szenen. Die steife, gekünstelte Ausdrucksweise der Klassik ist einer realistischen, mundartlichen Sprache gewichen. Mit diesen Neuerungen revolutionierte Büchners Woyzeck das deutsche Drama und läutete den Beginn der realistischen Dichtung ein.
Interpretationsansätze
- Woyzeck ist kein heroischer Dramenheld, wie wir ihn von Goethe oder Kleist kennen. Vielmehr entspricht er dem Typus eines Antihelden. Von seinen Mitmenschen diskriminiert und von seiner Geliebten betrogen, versinkt Woyzeck ins tiefste menschliche Elend. Das Drama führt uns die soziale Realität einer mittellosen, am Rand der Gesellschaft lebenden Person vor Augen. Damit stellt sich Büchner endgültig gegen die in der Aufklärung formulierte Ständeklausel, welche fordert, dass der Dramenheld eine Person mit hohem gesellschaftlichem Status sein müsse.
- Im Woyzeck zeigt Büchner ungeschminkt die gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit auf. Besonders die große Ungleichheit zwischen Arm und Reich sowie das in den Köpfen der Menschen tief verankerte Ständedenken prangert er an.
- Auch Büchners Sprache bildet die soziale Wirklichkeit ab. Alle im Stück auftretenden Personen sprechen so, wie es ihrem Stand, ihrer Bildung und ihrer momentanen Gemütsverfassung entspricht. So verfügen Woyzeck, Marie und Andres nur über eingeschränkte Ausdrucksmöglichkeiten, während der Doktor und der Hauptmann sich einer gehobenen Sprache bedienen.
- Woyzecks Tat kann unterschiedlich gedeutet werden. Einerseits als Mord aus Eifersucht: Als der Soldat erkennt, dass seine Geliebte ihn mit dem Tambourmajor betrügt, verliert er auf einen Schlag alles, was ihm teuer war und wofür er sein Leben aufgeopfert hat. Andererseits kann der Mord aber auch als Auswirkung der auf Woyzeck wirkenden gesellschaftlichen Kräfte und Zwänge interpretiert werden. Er ist das Opfer der Gesellschaft, seine Mitmenschen diskriminieren ihn und missbrauchen ihn für ihre persönlichen Zwecke.
- Eine besondere Bedeutung im Woyzeck nimmt das von der Großmutter erzählte, abgewandelte Grimm’sche Sterntaler-Märchen ein. Büchners Version - im Grunde ein Antimärchen - enthält die Kernaussage des Stücks: In einer entmenschlichten und entgötterten Welt ist der Mensch zur Einsamkeit verdammt. Genauso bleibt auch Woyzeck am Ende allein und verlassen zurück.
Historischer Hintergrund
Vormärz in Deutschland
Nach dem Sieg über Napoleon in der Schlacht bei Waterloo im Jahr 1815 hoffte das deutsche Bürgertum auf eine Verfassung und das damit verbundene Ende der immer noch vorherrschenden Fürstenwillkür. Stattdessen vereinbarten die europäischen Mächte während des Wiener Kongresses eine Politik der Restauration. Die alte Ordnung im Sinne des "Ancien Régime" sollte wiederhergestellt werden. Mittels Gewalt, Unterdrückung und Zensur rissen die Fürstenhäuser erneut die Macht an sich und bekämpften die zuvor hart errungenen Verfassungsreformen vehement. Gegen diese reaktionäre Entwicklung regte sich breiter Widerstand, der 1848 in der deutschen Märzrevolution gipfelte. Im so genannten Vormärz, der Zeit vor der Revolution, wurde in erster Linie für die nationale Einheit, eine Verfassung und die endgültige Abschaffung der Fürstenherrschaft gekämpft. Radikale Revolutionäre forderten sogar eine Veränderung der gesamten Gesellschaftsordnung sowie die Umgestaltung der Besitzverhältnisse. Diese bewegten Jahre der Umwälzungen waren von Unsicherheit und Ohnmacht geprägt. So flüchteten sich viele Zeitgenossen in die Idylle des privaten Lebens und suchten Halt im häuslichen Glück. Diese von einem neu zelebrierten Privat- und Familienleben gekennzeichnete Stilepoche bezeichnet man als Biedermeier. Ihre Vertreter lobten Tugenden wie Fleiß, Bescheidenheit und Treue. Zur geselligen Gemütlichkeit traf man sich in den eigenen vier Wänden. Die Urform des heutigen Wohnzimmers und das häusliche Weihnachtsfest, wie wir es kennen, sind Errungenschaften jener Zeit. Während die Dichter des Biedermeiers in ihrer Literatur eine idyllisierte Welt darstellten, riefen die Literaten des Vormärz zur Revolution auf und kritisierten die Missstände der Restaurationszeit in politisch-philosophischen Abhandlungen oder in satirischen Schriften. Neben Büchner waren Heinrich Heine, Christian Dietrich Grabbe und Büchners Freund Karl Gutzkow bedeutende Autoren des Vormärz.
Entstehung
Als eine der Hauptquellen von Büchners Woyzeck erachtet die Literaturwissenschaft einen populären Leipziger Mordfall. Der 41-jährige Perückenmacher Johann Christian Woyzeck erstach am 21. Juni 1821 seine um fünf Jahre ältere Geliebte in einem Hausflur - aus Eifersucht. Der Mordfall erregte großes Aufsehen und löste in der Fachwelt eine Diskussion über die Zurechnungsfähigkeit des Täters aus. In der Zeitschrift für Staatsarzneikunde, an der Büchners Vater mitarbeitete, wurden sogar die zwei ärztlichen Gutachten von Hofrat Dr. Clarus zu diesem Fall abgedruckt, sodass Büchner auf diese Texte Zugriff hatte. Die Tatsache, dass im Stück viele Einzelheiten aus diesen Berichten zu finden sind, bezeugt, dass Büchner mit dem Fall Woyzeck vertraut war. Vermutlich kannte er auch die Fälle von Daniel Schmolling und Johann Dieß, deren Mordprozesse ihm höchstwahrscheinlich ebenfalls als Quellen dienten. Beide Delinquenten töteten aus Eifersucht ihre Geliebten: Schmolling 1817 in Berlin und Dieß 1830 in Darmstadt. Wann genau Büchner seine Arbeit am Woyzeck in Angriff nahm, konnte bis heute noch nicht geklärt werden. Es wird davon ausgegangen, dass der Autor zwischen Juni und September 1836 in Straßburg mit der Niederschrift des Dramas begann und diese in Zürich bis zu seinem frühen Tod im folgenden Jahr fortsetzte.
Wirkungsgeschichte
Nach Büchners Tod verging beinahe ein halbes Jahrhundert bis zur Veröffentlichung des Woyzeck-Fragments. Der Publizist Karl Emil Franzos, der 1875 die Handschriften des Autors erhielt und nur mit Mühe entziffern konnte, verlegte den Text 1879 erstmals in seiner Gesamtausgabe der Werke Büchners. Das Erscheinen des bis dahin unbekannten Werkes - gleichzeitig der Beginn des sozialen Dramas im deutschen Sprachraum - löste in Fachkreisen große Beachtung aus. Es war das erste Mal, dass dem Leser in einem Drama die erbärmliche Wirklichkeit einer menschlichen Kreatur der untersten Gesellschaftsschicht gezeigt wurde. Seinen endgültigen Siegeszug trat das Stück jedoch erst am 8. November 1913 an, als es im Münchener Residenztheater uraufgeführt wurde.
Kaum ein anderes Werk aus dieser Zeit hat die Literatur des nachfolgenden Jahrhunderts so nachhaltig beeinflusst wie Büchners Woyzeck. Für Naturalisten und Expressionisten wie Gerhart Hauptmann, Franz Wedekind und Georg Heym wurde das Drama zum Vorbild und Vorläufer der eigenen dichterischen Bestrebungen. Auch die frühen Dramen von Bertolt Brecht sowie Andorra von Max Frisch sind von Büchners Stück inspiriert. Der Komponist Alban Berg vertonte den Stoff zu einer Oper mit dem Titel Wozzeck, uraufgeführt 1925. Für Heiner Müller können Dramatik und Bedeutung dieses Stückes gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: "Wie harmlos der Pillenknick der neueren Dramatik, Becketts Warten auf Godot, vor diesem schnellen Gewitter, das mit der Geschwindigkeit einer anderen Zeit kommt, (...) wie schamlos die Lüge vom Posthistoire vor der barbarischen Wirklichkeit unserer Vorgeschichte." Die bekannteste Verfilmung des Stoffes stammt vom deutschen Regisseur Werner Herzog (1979); Klaus Kinski spielte darin die Rolle des armen Soldaten.
Über den Autor
Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in Goddelau bei Darmstadt geboren. Sein Vater ist Arzt und seine Mutter eine sehr belesene, am geistigen Klima der Zeit interessierte Frau. Büchner nimmt 1831 in Straßburg ein Medizinstudium auf. Das Kleinstadtklima behagt ihm überhaupt nicht. Er wird melancholisch und erkrankt häufig. Erst die Beschäftigung mit der Geschichte der Französischen Revolution holt ihn aus seiner Lethargie heraus. 1832 verlobt er sich in Straßburg heimlich mit Wilhelmine (Minna) Jaeglé, der Tochter seines Vermieters. Im gleichen Jahr nimmt er am Hambacher Fest teil, dem Höhepunkt bürgerlich-liberaler Opposition gegen die Restauration. 1834 setzt er in Gießen sein Medizinstudium fort, gründet die „Gießener Gesellschaft der Menschenrechte“ und schart Gleichgesinnte um sich mit dem Ziel, die reaktionäre Strömung im Großherzogtum Hessen zu bekämpfen. Nachdem seine sozialrevolutionäre Flugschrift Der hessische Landbote in mehreren Hundert Exemplaren verteilt worden ist, wird seine Wohnung auf den Kopf gestellt und er wird bald sogar steckbrieflich gesucht. Büchner flieht nach Straßburg. 1836 siedelt er nach Zürich über, wo er sein Studium beendet und Privatdozent für Anatomie wird. Im Juli 1835 erscheint die Buchausgabe von Büchners Drama über die Französische Revolution, Dantons Tod. Drei Monate später beginnt er die Niederschrift der Erzählung Lenz, die der Dichter Karl Gutzkow, Büchners langjähriger Freund und politischer Mitstreiter, 1839 publizieren wird. Erst 1878 erscheint hingegen das Fragment gebliebene Theaterstück Woyzeck, das Büchner Ende 1836 beginnt, wegen einer Erkrankung aber nicht fortsetzen kann. Als der Arzt Typhus diagnostiziert, eilt Büchners Verlobte von Straßburg nach Zürich. Zwei Tage nach ihrem Eintreffen, am 19. Februar 1837, stirbt Büchner im Alter von nur 23 Jahren.
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