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Die Besteigung des Mont Ventoux

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Die Besteigung des Mont Ventoux

Reclam,

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10 take-aways
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What's inside?

Ein Berg wird zum seelischen Scheideweg für seinen Besteiger – und für die Nachwelt zum Symbol einer Zeitenwende.

Literatur­klassiker

  • Autobiografie
  • Renaissance

Worum es geht

Der Weg ist das Ziel

Die Besteigung des Mont Ventoux ist ein Text, der für vieles herhalten musste: Zeugnis des aufkommenden Humanismus, erster Hinweis auf den neuen Menschen der Renaissance, frühstes Beispiel einer ästhetischen Weltwahrnehmung, Überwindung der mittelalterlichen Diesseitsfeindlichkeit – man hat dem Brief Petrarcas im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert einiges unterstellt, doch der Text ist kein Ausbruch, keine Revolte. Ebenso wenig ist er allerdings eine simple Bestätigung der herrschenden Weltanschauung. Allein der Umstand, dass Gott nur selten, die Seele dagegen sehr oft erwähnt wird, zeigt die Verschiebung des gedanklichen Zentrums, was den Kern des Humanismus ausmachen sollte: Der Mensch mit seinen Fähigkeiten steht im Fokus, nicht der Wille Gottes. Dass Petrarca wahrscheinlich mit fiktionalen Eingriffen in seinen Lebenslauf versucht, der Vita seines Idols Augustinus nahezukommen, mag man als Größenwahn oder auch als Liebesdienst auslegen – es zeigt auf jeden Fall, worum es dem Wanderer geht: um Läuterung, um Überwindung seiner eigenen inneren Konflikte. Er kommt dabei zu Einsichten, die aus heutiger Sicht befremden müssen. Doch seine Erkenntnismethode ist auch heute noch plausibel: Man muss sich bewegen, um etwas zu erkennen.

Take-aways

  • Die Besteigung des Mont Ventoux ist Zeugnis für ein neues, humanistisches Welt- und Menschenbild zu Beginn der Renaissance.
  • Inhalt: Francesco Petrarca besteigt am 26. April 1336 mit seinem Bruder den Mont Ventoux in der Provence. Ursprünglich aus reiner Neugier unternommen, entwickelt sich die Bergtour für den Dichter zum Erweckungserlebnis. Auf dem Gipfel liest Petrarca bei Augustinus von der menschlichen Überbewertung der Außenwelt und der Vernachlässigung der Seele. Beschämt und geläutert tritt er den Rückweg an.
  • Bei dem Text handelt es sich um einen Brief an Petrarcas Freund Francesco Dionigi.
  • Er ist Teil einer umfassenden Briefsammlung, nach dem Vorbild Ciceros.
  • Wahrscheinlich entstand der Brief nicht – wie der Verfasser behauptet – gleich nach der Wanderung, sondern erst Jahre später.
  • Der Brief zeigt anschaulich den Kern des Renaissancegeists: die Wiederentdeckung antiker Literatur und Geschichte.
  • Petrarca inszeniert die eigene Biografie in Anlehnung an sein Idol, den spätantiken Kirchenvater Augustinus.
  • Der Text mit seinen zahlreichen historischen, biblischen und literarischen Zitaten ist Ausdruck der Gelehrsamkeit Petrarcas.
  • Bergsteiger vereinnahmen Petrarca gern als einen der ersten Alpinisten.
  • Zitat: „Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, ,den Windigen‘, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen.“

Zusammenfassung

Das Verlangen nach dem Aufstieg

Francesco Petrarca schreibt in einem Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro, dass er heute den Mont Ventoux – auch Ventosus („der Windige“) genannt – bestiegen hat. Seine Motivation war einzig und allein der lang gehegte Wunsch, den Gipfel dieses Berges, dessen Anblick er seit seiner Kindheit kennt, endlich einmal aufzusuchen.

„Den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht Ventosus, ,den Windigen‘, nennt, habe ich am heutigen Tag bestiegen, allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen.“ (S. 9)

In seinem Vorhaben hat ihn zudem die Lektüre der römischen Geschichte nach Livius bestärkt. Bei diesem hat Petrarca von der Besteigung des Haemus, eines Berges in Thessalien, durch den makedonischen König Philipp gelesen. Dieser hatte, dem Gerücht folgend, man könne vom Gipfel des Haemus sowohl das Adriatische wie auch das Schwarze Meer sehen, den Aufstieg gewagt. Ob das Gerücht stimmt, hat Petrarca nicht in Erfahrung bringen können: Die Schriftsteller sind darüber uneins, und der Berg ist für eine persönliche Überprüfung leider zu weit entfernt. Wäre der Berg in erreichbarer Nähe, so hätte Petrarca sich selbst ein Bild gemacht. Doch durch das historische Vorbild sah er sich zumindest gewappnet, ebenfalls eine Bergbesteigung in Angriff zu nehmen, zumal er dabei – anders als König Philipp – keine Staatsgeschäfte vernachlässigen musste.

„Mein Bruder freilich strebte auf dem abkürzenden Weg geradewegs über die Kämme des Berges in immer höhere Zonen, ich dagegen, weniger gestählt als er, schlug einen schrägen Pfad nach unten ein.“ (S. 14)

Nach dem Beschluss des Vorhabens gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Begleiter als schwierig. Petrarca ging im Geist alle Freunde durch, doch keiner schien zu passen: Der eine war zu ruhig, der andere zu laut, einer zu schwach, einer zu kräftig. Diese Eigenheiten stören ihn im Alltag nicht, doch befürchtete er, sie könnten bei der Ersteigung des Berges, die er als Extremsituation einstuft, zur Belastung werden. Mit feiner Rücksicht auf die freundschaftlichen Beziehungen zu den Kandidaten, überlegte er hin und her. Schließlich wandte er sich an seinen jüngeren Bruder, der das Angebot einer gemeinsamen Bergtour mit Freuden annahm.

Warnungen zum Aufbruch

Der Tag des Aufbruchs ist gekommen, und die beiden Brüder machen sich mit zwei Dienern im Schlepptau auf den Weg nach Malaucène am Fuß der Nordseite des Mont Ventoux. Nachdem sie dort einen ganzen Tag lang gerastet haben, beginnen sie bei schönem Wetter und in bester Laune von hier aus den Aufstieg. Gleich zu Anfang ihrer Wanderung treffen Petrarca und sein Bruder an den Hängen des Berges einen alten Hirten, der eindringlich versucht, sie von der Besteigung abzubringen. Er selbst sei vor 50 Jahren von dem gleichen Unterfangen reumütig, erschöpft und verletzt zurückgekommen. Niemand habe vor oder nach ihm jemals eine Besteigung gewagt, und auch die Petrarca-Brüder sollten besser von ihrem Plan ablassen. Doch die Warnung bestärkt die jugendlich begeisterten Bergwanderer nur in ihrem Vorhaben.

„Könnte ich doch ebenso mit der Seele jene Wanderung hinter mich bringen, nach der ich mich Tag und Nacht sehne, wie ich nach endlich überwundenen Schwierigkeiten die heutige Wanderung mit des Leibes Füßen hinter mich gebracht habe!“ (S. 17)

Sie lassen allen unnötigen Ballast zurück und erhalten vom leidgeprüften Hirten schließlich noch einen Hinweis, wie sie am schnellsten auf den Gipfel gelangen. Auch nach ihrem Abschied vom Hirten ruft dieser ihnen noch weitere Ermahnungen nach – vergeblich. Die Wanderer machen sich guter Dinge und im Vertrauen auf ihre körperlichen Kräfte auf den Weg in die schroffe und unwirtliche Bergregion.

Irrwege und Meditationen

Der Weg gestaltet sich äußerst beschwerlich. Schon bald müssen die Brüder eine erste Rast einlegen. Als es dann endlich weitergeht, strebt Petrarcas Bruder zügig der Anhöhe entgegen, während Petrarca selbst sich durch das schwierige Terrain auf schrägen Pfaden wieder abwärtsleiten lässt. Auf der Suche nach einem sanfteren Aufstieg gerät er immer weiter auf Irrwege. Schließlich nimmt er doch den direkten Weg und erreicht, durch die zusätzliche und unnütze Anstrengung völlig erschöpft, den Ort, wo sein Bruder rastet. Dieser ist bereits wieder erholt und voller Tatendrang. Missmutig nimmt Petrarca zusammen mit seinem Bruder den direkten Weg wieder auf. Doch das gleiche Spiel wiederholt sich: Nach kurzem gemeinsamem Aufstieg weicht Petrarca erneut vom steilen, direkten Weg ab. Bei einer Pause in einem Tal setzt er sich erschöpft und frustriert nieder und geht mit sich selbst ins Gericht.

„Ich freute mich über meine Fortschritte, beweinte meine Unvollkommenheit und beklagte die allgemeine Wandelbarkeit des menschlichen Tuns; und an welchen Ort und aus welchem Grund ich gekommen war, schien ich irgendwie vergessen zu haben.“ (S. 21)

So wie er selbst, Petrarca, den Aufstieg bisher gestaltet hat, ergeht es dem Menschen auf der Suche nach dem seligen Leben. Der Weg dahin, so steht es geschrieben, ist schwer, und nur ein schmaler Pfad führt zum Ziel. Das selige Leben ist das Ziel aller Menschen, doch ein Ziel nur erreichen zu wollen, ist zu wenig, wie bereits Ovid schrieb: Man muss es vielmehr begehren. Petrarca nimmt für sich in Anspruch, den Weg zum seligen Leben nicht nur zu wollen, sondern ihn tatsächlich auch zu begehren. Er stellt sich die Frage, was genau ihn denn nun davon abhält, diesen Weg zu gehen. Es ist seine Bequemlichkeit, die ihm einen leichteren Weg verspricht. Doch nach allen Bequemlichkeiten und allen diesseitigen Annehmlichkeiten gibt es nur zwei Wege für einen Menschen: entweder, nach der Erkenntnis des Fehlgehens, den steilen und mühsamen Weg zum Gipfel des seligen Lebens oder aber das weitere Herumirren im Tal, bis der Tod den verirrten Sünder heimsucht und sein ewiges Leben zur ewigen Marter wird.

„Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.“ (zitiert nach Augustinus, S. 23)

Das Sinnieren stärkt Petrarca an Körper und Seele. Im Grunde müsste es doch einfacher sein, den richtigen Weg für die Seele zu finden als den für den Körper, denn schließlich ist die Seele beweglich und unendlich und nicht an Zeit und Raum gebunden, wie es der sterbliche und hinfällige Leib doch ist.

Auf dem Gipfel

Obwohl der Berg der größte in der Region ist, nennen ihn die Anwohner „Söhnlein“, vielleicht in ironischer Absicht. Eigentlich gebührt ihm vielmehr die Bezeichnung „Vater“. Durch seine intensive Beschäftigung mit den Parallelen zwischen körperlichem und geistigem Aufstieg motiviert, macht Petrarca sich nun mit neuer Kraft auf den direkten Weg zum Gipfel. Auf dem Gipfelplateau angekommen, rasten die Bergsteiger.

„Ich (…) schloss das Buch, zornig auf mich selber, dass ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß.“ (S. 23)

Das Panorama zu seinen Füßen überwältigt ihn. Petrarca fühlt, wie sich Erzählungen über heilige Berge wie den Athos oder den Olymp relativieren. Er wendet sich in Richtung Italien und verspürt eine große Sehnsucht nach seiner Heimat und den Freunden dort, die er lange nicht gesehen hat. Er erblickt in der Ferne die schneebedeckten Alpen und denkt an die einstige Überquerung des Gebirges durch Roms „wilden Feind“.

„Ich konnte nicht glauben, dass dies zufällig sich so gefügt hätte, nein, alles, was ich dort gelesen hatte, so glaubte ich, sei für mich und für keinen andern gesagt.“ (S. 24)

Dann wendet sich der Blick von der äußeren Empfindung des Raumes zur inneren Empfindung der Zeit. Es ist auf den Tag genau zehn Jahre her, dass Petrarca im Anschluss an sein Studium die Stadt Bologna verlassen hat. Vieles ist seitdem passiert. Die äußeren Umstände und sein eigenes Verhalten haben sich in großem Umfang verändert. Vieles ist noch unerledigt. Petrarca geht diesen Gedanken nach, obwohl er sich im Klaren darüber ist, dass die Zeit für einen umfassenden Rückblick auf sein Leben noch nicht gekommen ist. Doch ein einleitendes Zitat des Augustinus, in dem dieser sich seine begangenen Sünden vergegenwärtigt, um sie für die Liebe Gottes zu überwinden, hat er für seine eigenen, kommenden Bekenntnisse schon parat.

Erleuchtende Lektüre

Petrarca ist noch an vieles aus seiner Vergangenheit in Liebe gekettet, das er lieber hassen würde. Seit drei Jahren streiten in ihm entgegengesetzte Kräfte miteinander. Es ist ein unentschiedener Kampf zwischen alten Verstrickungen auf der einen und neuen Erkenntnissen auf der anderen Seite. Doch die Fortschritte und die Überwindung seines alten Starrsinns, die die neuen Erkenntnisse bewirkt haben, geben ihm Hoffnung, dass er – sofern er den Kurs der letzten zwei Jahre beibehält – in zehn Jahren, im Alter von 40, geläutert diese Welt verlassen kann, ohne noch weiterstreben zu müssen. Als die Sonne sinkt und seine Begleiter ihn zur Rückkehr ermahnen, lässt Petrarca seinen Blick noch einmal nach Westen schweifen und erblickt dort den Golf von Marseille, die Berge um Lyon und die Rhone zu seinen Füßen. All das ist viele Tagesreisen entfernt, und doch erscheint ihm hier alles zum Greifen nah.

„(…) schweigend dachte ich drüber nach, wie groß bei den Menschen der Mangel an Einsicht sei, sodass sie sich unter Vernachlässigung des edelsten Teils ihres Selbst in vielerlei Dinge verzetteln (…) und außerhalb suchen, was drinnen zu finden gewesen wäre.“ (S. 25)

Vom Staunen über das Panorama fühlt Petrarca sich seelisch erhoben und nimmt ein mitgebrachtes Buch zur Hand, das er dem Briefadressaten Dionigi verdankt: die Bekenntnisse des Augustinus. Durch Zufall öffnet er das zehnte Buch der Bekenntnisse und liest seinem Bruder daraus laut vor. Es ist die Rede von der Bewunderung des Menschen für die Natur und davon, wie dieser dadurch sein eigenes Seelenheil vernachlässigt. Petrarca ist von den Worten unmittelbar beschämt und wütend über sein eitles und allzu diesseitiges Schauen, das seinen Plan und auch den ganzen Tag bis hierher bestimmt hat. Jetzt erkennt er: Nichts Äußeres, sondern nur die Seele ist entscheidend. Als sein Bruder ihn bittet weiterzulesen, weigert er sich und verstummt.

Bekehrtes Schweigen

Den langen und mühsamen Abstieg verbringt Petrarca in schweigender Betrachtung seiner selbst. Er fühlt sich, als sei die zufällig aufgeschlagene Seite in den Bekenntnissen einzig und allein für ihn geschrieben worden. Er erinnert sich daran, dass der große Augustinus selbst von einem ähnlichen Erweckungserlebnis berichtet hat: Durch eine Stelle im Evangelium, in der die Gelüste des Körpers – Völlerei und Trunksucht, Wollust, Eifersucht und Streit –, als der falsche Weg kritisiert werden, war Augustinus seinerzeit geläutert und zur Umkehr bewegt worden.

Vor Augustinus war es schon dem Antonius so ergangen, als er eine bestimmte Stelle im Evangelium vorgelesen bekommen hatte, in der alle irdischen Werte für nichtig erklärt und in der Jesus Christus als einziger Führer auf dem Weg zum Seelenheil gepriesen wurde. Petrarca bedauert die Neigung des Menschen, das Bedeutsame in seiner Außenwelt zu suchen, wo es doch so offensichtlich in ihm selbst liegt. Die menschliche Seele wird allzu oft von ihrer göttlichen Herkunft entfremdet. Steht sie dem Menschen in ihrer göttlichen Urform, ohne all die üblichen schändlichen Verirrungen, zur Verfügung, ist sie edel und bewundernswert.

Beim Abstieg wandert Petrarcas Blick oft zurück zum Gipfel, den er gerade verlassen hat. Und sooft er auch schaut: Jetzt erscheint ihm die zurückliegende und mühsam erklommene Höhe als klein im Vergleich zur menschlichen Fähigkeit, die Welt losgelöst von irdischem Ballast in ihrer erhabenen, himmlischen Gestalt zu begreifen. Wenn der Mensch in der Lage und willens ist, seinen Körper mit vielen Mühen dem Himmel näher zu bringen, dann muss doch die Aussicht, dass die Seele sich zu Gott erhebt, noch ganz andere Kräfte freisetzen können.

Die Überwindung der Sterblichkeit und aller irdischen Eitelkeiten lohnt jede Anstrengung. Doch wer hat die Kraft, sich aller Versuchungen und Überheblichkeiten zu enthalten? Wer kann sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit und seine Ängste vor schweren Prüfungen überwinden, um sich auf den schmalen Pfad zu begeben, der allein zum Seelenheil führt? Schon Vergil pries in einem Vers denjenigen Menschen, der versucht, „das Wesen der Welt zu ergründen“, und dabei seine Furcht und sein Schicksal zu beherrschen lernt. Alle Menschen sollten versuchen, ihre Anstrengungen nicht auf diesseitige Dinge, sondern auf das ewige Leben zu richten.

Vom Entstehen und Beenden des Briefes

Im hilfreichen Schein des Mondes kehren Petrarca und sein Bruder spät in der Nacht zurück in die Herberge in Malaucène, von der aus sie am Morgen auf den Mont Ventoux aufgebrochen sind. Während die Diener für ein Nachtmahl sorgen, schreibt Petrarca voller Eifer den Brief an seinen Freund Dionigi, um die Stimmung, in der er sich hier noch immer befindet, nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Vor dem Adressaten, dem „liebsten Vater“, hat er nichts zu verbergen. Er will ihm vielmehr seine Lebensumstände und seine Gedankenwelt rückhaltlos öffnen. Petrarca bittet Dionigi, für ihn zu beten, damit sein Leben nach all den vergangenen Wirrungen und Verstrickungen endlich in die richtigen Bahnen gelenkt werde.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Besteigung des Mont Ventoux ist ein Brief, der aus der Ichperspektive auf etwa 18 Seiten die Besteigung des Berges Mont Ventoux in der Provence und zugleich die Bekehrung des Bergsteigers erzählt. Zu Beginn stellt Petrarca fest, dass er den Berg eben erst erklommen hat, dass also Erzählung und Erzähltes nur wenige Stunden auseinanderliegen. Der Text ist im Original auf Latein verfasst, besteht zu einem großen Teil aus langen, elaborierten Sätzen und ist voller Zitate und Textverweise auf antike Autoren sowie auf die Bibel. Im Brief werden sowohl die Vergangenheitsform als auch das Präsens verwendet. Besonders die Abschnitte im Präsens verdichten das Erzählen und stellen Unmittelbarkeit her. Die Beschreibung äußerer Beobachtungen nimmt im Vergleich zur Schilderung innerer Zustände eher wenig Raum ein. Im Zentrum stehen Petrarcas innere Monologe. Sie sind oft mit rhetorischen Fragen kombiniert, die die Zustimmung des Lesers einfordern. Durch den Schluss erweist sich der Brief formal als eine Art Beichte, da hier der Verfasser betont, seinem Adressaten nichts vorenthalten zu wollen. Schließlich bittet er ihn, für ihn zu beten.

Interpretationsansätze

  • Ein ästhetischer Weltzugang, wie er sich in Petrarcas Brief ansatzweise zeigt, markiert den Epochenwechsel vom Mittelalter zur Renaissance. Das Schauen um des Schauens willen war für den mittelalterlichen Menschen nicht nur unüblich, sondern geradezu verwerflich; insofern ist Petrarcas Bergbesteigung eine unerhörte Neuerung. Die Betrachtung der Natur war bis dahin einzig aus wissenschaftlichen, administrativen oder militärischen Gründen erlaubt.
  • Der Mensch des humanistischen Zeitalters ist noch nicht geboren. Der kurze Augenblick einer ästhetischen Weltsicht endet im völligen Rückzug in die mittelalterliche Weltverneinung und im reumütigen Eingeständnis sündiger Abschweifung.
  • Der Berg wird zur negativen Allegorie: Der körperliche Auf- und Abstieg ist dem seelischen Auf- und Abstieg diametral entgegengesetzt. Der Aufstieg auf den Berg – mit der Absicht, ihn ganz weltlich zu genießen – ist gleichbedeutend mit dem seelischen Abstieg. Der körperliche Abstieg vom Berg, in geläuterter Verfassung, wird dagegen zum seelischen Aufstieg.
  • Manche Interpreten betrachten den Brief als bewusste Fiktionalisierung und Stilisierung von Petrarcas Lebensweg. Demnach versucht Petrarca, seine eigene Biografie durch die von ihm geschilderte Bekehrungsgeschichte noch enger an die seines erklärten Vorbilds Augustinus anzubinden. Auch die Hinweise zu seinem Alter (32 – genau wie Augustinus, als er bekehrt wurde) lassen den Schluss zu, der Autor habe Daten und Umstände seiner Bergbesteigung bewusst so gewählt, vielleicht auch nachträglich manipuliert, dass sie die größtmögliche Nähe zum Vorbild herstellten.
  • Der Brief ist ein Ausdruck der Belesenheit des Autors. Fast alle Beobachtungen und Orte werden mit historischen Figuren und Dichtern in Verbindung gebracht. Die zahlreichen Bezüge zur antiken Literatur und Geschichte betonen, wie wichtig es für Gelehrte der Zeit war, die entsprechenden Originalwerke zu kennen – ein Grundpfeiler humanistischer Bildung. Die Erzählung liest sich fast wie eine Wanderung in die Literatur statt in die Natur.

Historischer Hintergrund

Der Mensch im Zentrum: das Erwachen des Humanismus

Während des Mittelalters schlummerten die Schriften des griechischen und lateinischen Altertums lange Zeit weitgehend unbeachtet in den Archiven der Klöster. Mit der Wiederentdeckung und breiteren Wahrnehmung von Platon und Aristoteles im elften und zwölften Jahrhundert begann jedoch der Einzug alter Weisheit in das christliche Weltverständnis Europas, teils auf dem Umweg über Gelehrte aus dem arabischen Raum. So wurde die Ideenlehre Platons mit christlichen Inhalten gefüllt. Vor allem aber war es die Logik des Aristoteles, die zur Erklärung und Unterstützung christlicher Dogmen herhalten musste.

Was mit den griechischen Philosophen begann, setzte sich – vor allem in Italien – mit den lateinischen Autoren fort. Mehr und mehr Schriften wurden wiederentdeckt, was für eine sprachliche Rückbesinnung auf das klassische Latein und eine Kritik am mittelalterlichen Kirchenlatein sorgte. Cicero wurde im 14. Jahrhundert zum rhetorischen und stilistischen Vorbild einer ganzen Generation italienischer Gelehrter. Sein hochfliegendes Bildungsideal stellt den Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten ins Zentrum der Betrachtung. 1369 tauchte bei dem italienischen Gelehrten und späteren Kanzler in Florenz Coluccio Salutati erstmals der Begriff „studia humanitatis“ auf, mit dem die fünf Studienfächer Grammatik, Rhetorik, (antike) Geschichte, Poesie und Moralphilosophie zusammengefasst wurden. Sie befassen sich – wie schon die Studien Ciceros – mit den sprachlich bedingten Erkenntnisprozessen und Ausdrucksformen des Menschen. Bildung auf Basis des antiken Latein war das Fundament dieses Humanismus. Die Beschäftigung mit Schriften aus heidnischer, vorchristlicher Zeit stand nicht generell im Widerspruch zu den herrschenden kirchlichen Dogmen. Viele frühe Humanisten in Italien – wie Petrarca – waren Geistliche, die die Klarheit des antiken Latein mit den Lehren der Kirchenväter in Einklang zu bringen versuchten.

Entstehung

Die Besteigung des Mont Ventoux ist ein Brief, der die Umstände seines Entstehens selbst schildert. Petrarca will ihn spät in der Nacht, unmittelbar nach der Rückkehr von der Bergtour in der Herberge in Malaucène im April 1336 niedergeschrieben haben. Doch diese Angabe wurde schon früh als Fiktion verdächtigt. Der Text enthält zu viele korrekte Klassikerzitate, Parallelen zur Bekehrungsgeschichte des Augustinus und Hinweise auf lateinische Originaltexte. Der Zugang zu einer Bibliothek – die Petrarca in Malaucène natürlich nicht zur Verfügung stand – scheint Voraussetzung für diesen Text gewesen zu sein. Auch ist der stilistische Einfluss der Epistulae ad familiares von Cicero, deren Bekanntschaft Petrarca erst später machte, deutlich erkennbar.

Der Brief ist Teil der Briefsammlung Epistolae familiares. Diese ist eine von sechs Briefsammlungen des Autors, der insgesamt mehr als 600 Briefe schrieb. Die Forschung geht davon aus, dass die heute bekannte Fassung des Mont-Ventoux-Briefs um 1350 entstand, also etliche Jahre nach dem Tod des Briefempfängers Dionigi. Ob Petrarca den Brief erst dann schrieb oder eine ältere Fassung lediglich überarbeitete, ist unbekannt. Seinen Titel erhielt der Brief erst viel später. Petrarca selbst gab seinen Briefen, außer der Angabe des Adressaten, keine eigenständigen Titel.

Wirkungsgeschichte

Francesco Petrarcas Brief Die Besteigung des Mont Ventoux wurde im Zuge der literaturhistorischen Betrachtung des Phänomens Landschaft im 19. Jahrhundert zu einem Schlüsseltext. Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt betonte in seiner stark beachteten Abhandlung Die Kultur der Renaissance in Italien von 1860 die Rolle von Petrarcas Text als einem ersten überlieferten Beleg für jene Synthese zweckfreier Landschaftsbetrachtung mit tiefer Empfindung, die ein prägender Aspekt des Humanismus und der aufkommenden Renaissance werden sollte. Der Philosoph Hans Blumenberg nannte Petrarcas Brief einen der „großen, unentschieden zwischen den Epochen oszillierenden Augenblicke“. Als „Zeugnis einer Epochenschwelle in der Geschichte der ästhetischen Erfahrung“ bezeichnete ihn der Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle. Andere Wissenschaftler relativieren dagegen die Bedeutung des Textes.

Außerhalb des wissenschaftlichen und historischen Kontexts ist Petrarcas Brief vor allem für den Bergsport vereinnahmt worden. So feiern Bergsteigerzeitschriften Petrarca noch heute als einen der ersten Alpinisten. Jährlich folgen Hunderte Literaturpilger mit Petrarcas Brief in der Tasche auf inzwischen wohl begradigten Pfaden dem Dichter auf den Gipfel des Mont Ventoux.

Über den Autor

Francesco Petrarca wird am 20. Juli 1304 in Arezzo in der Toskana geboren und verbringt seine ersten Lebensjahre in der Nähe von Florenz. Im Zuge von Streitigkeiten zwischen den italienischen Fürsten und dem Papst wird Petrarcas Vater, ein Advokat und Freund des Dichters Dante Alighieri, als bekennender Anhänger des Papstes aus Florenz verbannt. Die Familie folgt ihm ein paar Jahre später nach Carpentras, in der Nähe von Avignon. Petrarca studiert auf Geheiß seines Vaters in Montpellier und Bologna Rechtswissenschaften, doch sein Hauptinteresse gilt der lateinischen Literatur, besonders Cicero und Vergil. Er freundet sich mit dem jüngeren Giovanni Boccaccio an und beginnt mit ihm einen innigen Briefwechsel. Als 1326 sein Vater stirbt, bricht Petrarca das Studium ab und kehrt zurück nach Avignon. Die Freundschaft mit einem Mitglied einer römischen Adelsfamilie entbindet ihn von der Sorge um seinen Lebensunterhalt, sodass er sich voll der Literatur widmen kann. 1327 erlangt er die niederen Weihen. Außerdem begegnet er einer Dame namens Laura, die zum Objekt seiner lebenslangen lyrischen Begeisterung wird. In seinem 366 Gedichte umfassenden Werk Canzoniere (Das Buch der Lieder, 1348) gibt er seiner unerfüllten Liebe Ausdruck und erschafft einen neuen poetischen Ton, der ihm viel Beachtung und dieser Art von Dichtung die Bezeichnung „petrarkisch“ einbringt. Petrarca reist quer durch Europa und sammelt dabei antike lateinische Manuskripte. Er entdeckt viele antike Schriften wieder, von Cicero über Seneca bis Ovid, und wird so zu einem der Initiatoren der italienischen Renaissance. Neben die Klassiker der lateinischen Antike tritt Augustinus, dessen Bekenntnisse für Petrarca zur wichtigen Lektüre werden. 1341 wird er in Wiederbelebung einer antiken Tradition auf dem Kapitol in Rom zum Dichterfürsten ausgerufen. Seine späteren Jahre verbringt Petrarca reisend, lehrend und schließlich kontemplativ auf seinem Ruhesitz im norditalienischen Arquà, wo er am 19. Juli 1374 stirbt.

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