Ralph Waldo Emerson
Natur
Diogenes Verlag, 1988
What's inside?
Ein Meilenstein der amerikanischen Geistesgeschichte: Emersons Plädoyer für eine aus der eigenen Wahrnehmung schöpfende, unmittelbare Anschauung der Natur.
- Essay
- Transzendentalismus
Worum es geht
Die amerikanische Philosophie der Natur
Emersons Natur ist ein doppelbödiges Buch. Vordergründig geht es um das Wesen der Natur und darum, wie der Mensch durch diese zu sich selbst finden kann. Eher über Gefühle als über konkrete Handlungsanweisungen versucht Emerson eine bestimmte Haltung zu entwerfen: durch die unverfälschte Wahrnehmung der Natur sein eigenes Wesen zu entdecken. Auf einer zweiten Ebene aber ist dieses Plädoyer, der eigenen Wahrnehmung mehr zu trauen als allem anderen, auch eine handfeste politische Aussage - nämlich die, sich von überkommenen Vorstellungen zu lösen, und das heißt vor allem von dem europäischen Erbe. Deshalb ist Natur ein sehr amerikanisches Buch. Wie ein fernes Echo spricht hier eine Stimme aus jener Zeit, als Amerika seine kulturelle Identität zu entwickeln begann. Die Denkweise, die Emerson u. a. pflegten, wird in der Philosophie als Transzendentalismus bezeichnet - ein nicht sehr glücklicher Begriff, denn es handelt sich weniger um eine philosophische Schule als um eine geistig-moralische Haltung, die oft konkrete politische Konsequenzen hatte. So war Emersons Eintreten gegen die Sklaverei, die er als der natürlichen Ordnung zuwiderlaufend empfand, seinerzeit nicht ungefährlich. In diesem Buch aber, seinem ersten, ist von Politik nur wenig die Rede. Es ruht in sich selbst und ist von tiefer Weisheit durchdrungen.
Take-aways
- Ralph Waldo Emersons Essay Natur ist ein wichtiges Werk der amerikanischen Geistesgeschichte.
- Es entstand zu einer Zeit, als die USA begannen, sich eine eigene kulturelle Identität zu schaffen und sich von Europa zu lösen.
- Der Text ist ein Plädoyer für eine Naturwahrnehmung, die auf eigener Anschauung gründet.
- Die intuitive Wahrnehmung der Natur ist demnach wichtiger als objektives Faktenwissen.
- Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist abzulehnen. Emerson legt damit das Fundament für das typisch amerikanische, immer nach vorn gerichtete "positive thinking".
- Der Mensch ist für Emerson ein untrennbarer Teil der Natur.
- Die Natur ist darum auch der Spiegel des Menschen: Was er in ihr wahrnimmt, ist auch in ihm selber vorhanden.
- Daher hat der Mensch die große Chance, lebenslang von der Natur zu lernen.
- Die Schönheit der Natur erschließt sich dem Menschen u. a. durch ein Wohlgefühl bei der unmittelbaren Anschauung.
- In der Natur liegt letztlich auch der Keim der Sprache, denn alle Wörter gehen ursprünglich auf Beschreibungen natürlicher Gegebenheiten zurück.
- Der Mensch wird erst wieder seinen Frieden in der Welt finden, wenn er zu einem wahren Naturverständnis kommt.
- Ralph Waldo Emerson war ein Hauptvertreter der Philosophie des Transzendentalismus, die auch die junge amerikanische Literatur stark beeinflusste.
Zusammenfassung
Nicht zurückschauen, sondern nach vorne
Unser Zeitalter ist besessen von der Vergangenheit. Wir studieren die Geschichte, wir beschäftigen uns mit dem Leben von Leuten, die längst gestorben sind, wir errichten ihnen Denkmäler, wir pflegen die alten Bauten und die alten Bräuche. Warum eigentlich? Das Leben geschieht fortwährend, es geschieht auf immer andere Weise, und es hat immer Neues zu bieten. Das Leben ist zu kurz, um es mit dem Studium der Vergangenheit zu vergeuden. Die Kräfte der Natur umgeben und inspirieren uns unaufhörlich. Warum sollen wir sie unter der Maske der Vergangenheit wahrnehmen und hauptsächlich mit den Augen derer sehen, die vor uns da waren?
„Unser Zeitalter blickt hinter sich. Es errichtet den Vätern Grabdenkmäler. Es schreibt Biographien, Geschichte und Kritik. Die vorangegangenen Generationen schauten Gott und die Natur von Angesicht zu Angesicht, wir durch ihre Augen. Warum sollten nicht auch wir uns eines ursprünglichen Verhältnisses zum Universum erfreuen dürfen?“ (S. 9)
Es gibt zwei verschiedene Bedeutungen von Natur, was aber keine Verwirrung auszulösen braucht. In der weiter gefassten Bedeutung ist Natur alles, was die Philosophie als Nicht-Ich versteht, also alles, was von meinem eigenen Bewusstsein getrennt ist: mein Körper, andere Menschen, die ganze Welt um mich herum. Die zweite Bedeutung bezeichnet Natur im engeren Sinne: Natur ist demnach alles, was vom Menschen unbeeinflusst ist: Raum und Zeit, der Wind, der Baum, das Blatt; Kunst dagegen bezeichnet in diesem Sinn die Dinge, die dem menschlichen Willen unterworfen und von ihm gestaltet sind.
Das Wesen der Natur
Jeder empfängliche Mensch kennt das Gefühl, die Erhabenheit der Natur zu spüren: das Glück, das er in ihrer Gegenwart erlebt, die Ehrfurcht beim Anblick des Sternenhimmels, die vielfältigen Empfindungen, die ihn im Wald oder auf einer Sommerwiese umwehen und die ihn an seine Kindheit erinnern. Woher kommen diese Gefühle? Sie stammen nicht unmittelbar aus dem Wesen der Natur selbst, sondern aus dem des Menschen - und aus der Harmonie des Menschen mit der Natur. Die Natur ist unser Spiegel. Ihre Schönheit ist unsere eigene Schönheit. Der Frieden, den wir in ihr verspüren, ist unser innerer Frieden. In der Natur fühlen wir, dass wir ein Teil von ihr sind. Die Natur bringt diejenigen Aspekte unseres Wesens zum Vorschein, über die wir uns oft nicht bewusst sind oder zu denen wir keinen Zugang haben.
„Eines jeden Menschen Lebenslage gibt auf die Fragen, die er stellt, die Antwort in Hieroglyphen. Er lebt diese Antwort, bevor er sie als Wahrheit erfasst.“ (S. 10)
Das Glück beim Naturerlebnis ist aber ein zweischneidiges Schwert. Denn die Natur ist keine reine Idylle, und deshalb darf man sich dem Vergnügen der Naturerfahrung nur mit größter Mäßigkeit hingeben. Nicht alles ist eitel Sonnenschein: Von einem Moment auf den anderen kann die Stimmung umschlagen, von strahlender Festlichkeit zu Melancholie, von sanftem Frieden zu stürmischer Härte. Aber auch darin ist die Natur wiederum nur der Ausdruck dessen, was wir im Innersten empfinden.
Der Nutzen der Natur
Die Natur ist dem Menschen auf vielfältige Weise zunutze. Tiere und Pflanzen, Wind und Wasser, Feuer und Steine, Korn und Früchte ergänzen sich in der nimmermüden Leistung, den Menschen zu versorgen und ihm dienlich zu sein. Der Wind verbreitet die Saat, die Sonne brütet sie aus und lässt das Meerwasser verdunsten, die Wolken fallen als Regen auf die Pflanzen herab und versorgen sie, die Pflanzen ernähren die Tiere, die Tiere den Menschen, und so weiter im ewigen Kreislauf.
„Die Natur tritt niemals unbedeutend in Erscheinung. Weder entreißt der weiseste Mensch ihr Geheimnis, noch verliert er seine Neugier dadurch, dass er ihre ganze Vollkommenheit erkennt.“ (S. 14)
Auch dort, wo der Mensch eigene Leistungen vollbringt, ahmen diese die Nützlichkeit der Natur nach, verbessern oder verstärken sie. Um nicht vom Wind abhängig zu sein, erfindet der Mensch Dampfschiffe. Um seine Nahrung zu verbessern und zu vermehren, züchtet er Pflanzen und liest die besten aus. Um für sein Fortkommen nicht auf die Leistung seiner Füße angewiesen zu sein, erfindet er Wagen und Eisenbahnen. Jeder Mensch, ob arm oder reich, hat an den Leistungen des Menschengeschlechts seinen Anteil, so wie er auch an den Leistungen der Natur seinen Anteil hat.
Die Schönheit der Natur
Die Natur ist eine unendliche Quelle für das Bedürfnis des Menschen nach Schönheit. Das alte Wort der Griechen für die Welt, "Kosmos", bedeutet Ordnung und Schönheit zugleich. Es beschreibt damit zwei wesentliche Aspekte der Beschaffenheit aller Dinge. Das Betrachten der Natur, ihrer Formen und Farben, der ihr innewohnenden Bewegung, erzeugt in uns ein Wohlgefallen. Wie sehr die Natur als Modell unser Leben und unsere Wahrnehmung bestimmt, wird deutlich, wenn man sich klarmacht, in wie starkem Maß der Mensch in Technik und Kunst die Formen nachbildet, die die Natur ihm vorgibt. Ob Ei oder Kugel, Vogelflügel oder Schlangenkörper, Ähre oder Traube, Muschel, Knospe oder die Gestalt vieler Bäume, all diese natürlichen Formen haben ihre Nachbildungen im Bereich des Menschen.
„Um die Wahrheit zu sagen, wenige Erwachsene können die Natur sehen.“ (S. 15)
Die Schönheit der Natur lässt sich auf drei Ebenen betrachten:
- Zum einen bereitet schon die einfache Wahrnehmung der natürlichen Formen dem Menschen Freude. Sie ist Teil des allgemeinen Wohlbefindens, das der Mensch in der Natur verspürt. Die Linie des Horizonts, das Formenspiel der Wolken, die Gestalt der Steine und der Pflanzen, die Farben der Blüten im Lauf des Sommers, all das erfreut uns mit seinem fortwährenden Wechsel. Das Erlebnis solcher Naturschauspiele macht uns glücklicher und erfüllt uns mit tieferer Befriedigung als weltlicher Besitz, und keine künstliche Pracht kann damit wetteifern.
- Einen zweiten Aspekt erhält die Schönheit der Natur durch die Wirkung des Geistes. In Verbindung mit dem menschlichen Willen, dem menschlichen Geist, entsteht jene erhabene göttliche Schönheit, die geliebt werden kann. Damit ist beispielsweise die Anmut gemeint, die eine natürliche Tätigkeit ausstrahlt, aber auch eine heldenhafte Tat. Wenn wir uns als Beispiel das Bild Kolumbus’ vor Augen führen, wie er mit seinem Schiff an der Küste der Neuen Welt landet, wie die Matrosen an der Reling stehen, wie die Einheimischen aus ihren Hütten herbeilaufen - dann gehören zu diesem Bild auch die Wellen am Strand, die Palmen, die Küste, die im Dunst aufragenden Berge untrennbar dazu. Auf dieselbe Weise wird sich immer, wenn irgendetwas Bemerkenswertes geschieht, und sei es nur im Kleinen, der Glanz der Tat mit der Anwesenheit der Natur zu einer Form umfassender Schönheit verbinden. Jedes vernunftbegabte Wesen kann auf diese Weise an der Kraft und der Schönheit des Universums teilhaben.
- Noch eine weitere Steigerung erfährt das Erlebnis der Schönheit durch die Anwesenheit des Intellekts. Dies geschieht am ehesten durch die Kunst. Kunst ist Ausdruck der Tätigkeit von Menschen, die sich nicht damit zufrieden geben, die Schönheit der Welt nur anzuschauen, sondern die eigene Formen von Schönheit hervorbringen wollen. Die Schöpfungen der Kunst sind aber immer Abbilder der Natur. Auf die gleiche Art und Weise, in der die Natur auf wenigen Grundformen beruht und in der die Formen nicht für sich allein schön sind, sondern erst gemeinsam Harmonie ergeben, wirkt auch das Werk eines Malers, Dichters oder Musikers. Es wirkt nicht nur durch sich selbst, sondern auch durch die Art, wie der Künstler in seiner Arbeit der Liebe zur Schönheit gerecht zu werden versucht. In der Kunst offenbart sich die Natur, nachdem sie durch den Menschen hindurchgegangen ist und sich durch seine Schaffenskräfte verwandelt hat.
Die Entstehung der Sprache
Ein weiterer und bisher völlig verkannter Nutzen, den die Natur dem Menschen bietet, besteht darin, dass sie die Grundlage für die Entstehung der Sprache ist. Alle Wörter, die wir benutzen, auch die für die abstraktesten Gegenstände, lassen sich direkt oder indirekt auf Phänomene aus der Natur zurückführen. Alle Wörter sind Zeichen für natürliche Dinge. In dieser Tatsache liegt ein ungeheurer Nutzen, der aber von den meisten Menschen nicht wahrgenommen wird: Er besteht darin, dass die Natur uns dabei helfen kann, die Geistesgeschichte zu verstehen. Die Natur ist Ausdruck unserer inneren Welt und diese wiederum Ausdruck der Natur. Die Sprache macht diese Übergänge sichtbar. Einige Beispiele verdeutlichen, wie auch abstrakte Begriffe auf materielle Erscheinungen zurückgehen: Wenn wir sagen, dass etwas "richtig" ist, dann bedeutet das ursprünglich "geradlinig"; wenn wir etwas "falsch" nennen, bedeutet es ursprünglich "verdreht". Das Wort "Übergang" stammt von der Bewegung beim Überschreiten einer Grenze; "Hochmut" bezeichnet ursprünglich das Hochziehen der Augenbrauen usw.
„Die größte Wohltat, die uns Felder und Wälder gewähren, ist die Idee einer geheimen Verwandtschaft zwischen dem Menschen und der Pflanzenwelt. Ich bin nicht allein und unerkannt. Sie neigen sich mir zu, und ich neige mich ihnen zu.“ (S. 17)
Der Zusammenhang reicht aber noch weiter. Jede natürliche Tatsache ist auch das Symbol einer geistigen Tatsache. Das bedeutet, dass jede Erscheinung in der Natur einem geistigen Zustand entspricht, und dieser wiederum kann nur erfasst werden, indem man die natürliche Erscheinung als Metapher begreift. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein Fluss: In ihm bewegt sich das Wasser auf vielfältige Weise, es strömt ruhig und wirbelt herum, es spritzt, es tropft, es staut sich oder schießt dahin, aber alle Bewegung ist der einen Hauptbewegung untergeordnet: dem Fließen. Das Fließen des Flusses ist Ausdruck des geistigen Fließens, der geistigen Bewegung an sich; aber diese wiederum kann in ihrem Wesen nur erfasst werden, wenn man den tatsächlich existierenden Fluss betrachtet.
Die Natur als Lehrerin
Schier unendlich sind die Möglichkeiten des Menschen, von der Natur zu lernen. Die Auseinandersetzung mit ihr schult sowohl den Verstand als auch die Vernunft. Jede Wahrnehmung der Natur, ihrer Formen, ihrer Materialien, ihrer sinnlichen Eigenschaften wie Gerüche und Temperaturen, ihrer mannigfaltigen Vorgänge ist zunächst eine Schulung für den Verstand. Er nimmt wahr, vergleicht, bewertet, ordnet ein. Diese Auseinandersetzung hört nie auf. Man erwirbt durch sie ein tieferes Verständnis der Ordnung und der Gesetzmäßigkeiten, die die Natur bestimmen.
„So besteht die Welt für die Seele, um deren Durst nach Schönheit zu stillen.“ (S. 34)
Die Vernunft und das Gewissen stehen ebenfalls in Beziehung zu all diesen Dingen. Denn die Ordnung der Natur spiegelt die moralische Ordnung wider. Alle Dinge sind moralischer Natur, und alle haben einen unauflöslichen Bezug zu den geistigen Dingen. Jedes natürliche Phänomen - die Sterne am Himmel, die Kristalle im Fels, das einzelne Blatt, der ganze tropische Regenwald, das Leben jedes Organismus, vom niedersten Schwamm bis zum heldenhaftesten Menschen - künden von den Regeln und Gesetzen der Natur, die sich wiederum in den moralischen Geboten finden. Deshalb ist auch der Bezug der Natur zur Religion so stark. Ein Bauernhof ist nichts anderes als ein Evangelium, und die Arbeit des Bauern ist nichts anderes als Gottesdienst. Der Fischer lernt von der Standhaftigkeit des Felsens in der Brandung ebenso wie von der Ruhe des Himmels oder der Bewegung des Meeres. Wer in der Lage ist, auf solche Weise von der Natur zu lernen und die Ordnung der Dinge zu erkennen, der wird auch Verwandtschaftsbeziehungen sehen, wo man sie vielleicht zunächst nicht vermutet: etwa zwischen der Architektur und der Musik, oder zwischen einem Felsen und dem Fluss, der an ihm nagt. Alles ist verbunden durch die geheimen Gesetze der Natur, die sich demjenigen offenbaren, der sie zu lieben beginnt.
Die Liebe zur Natur
Im Moment verwendet der Mensch nur die Hälfte seiner Energie auf das Lernen von der Natur. Er nimmt sie nur mit seinem Verstand wahr, und das ist der Grund, warum uns die Welt nicht als Einheit erscheint, sondern als disparates Wesen. Unsere Macht über die Natur beruht auf der Wirkung des Verstandes: die Nutzung des Windes, des Feuers, des Wassers, der Pflanzen, der Kohle. Doch der Geist hat nicht nur ein Bedürfnis nach Wahrnehmung, sondern auch nach Liebe, und das eine kann nicht vollkommen sein ohne das andere. Es geht darum, im scheinbar Banalen und Alltäglichen das Besondere und Wunderbare zu erkennen. Es ist ein Irrtum, die einfachen Dinge für unbedeutend zu halten. Wir erfinden Geschichten und Legenden, um simple Fakten mit Bedeutung aufzuladen, um sie, wie wir glauben, mit übergreifenden Gesetzen in Übereinstimmung zu bringen. Das ist aber nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich. Denn betrachtet man die Fakten im Licht der Wahrheit, so schrumpft die Legende zur Lächerlichkeit zusammen, und die Tatsachen strahlen um so heller. Dem wahrhaft Weisen sind die Tatsachen die schönsten aller Geschichten. Sie sind wunderbar, und sie geschehen direkt vor unseren Augen. Erst wenn der Mensch die objektive Wahrnehmung mit der liebenden Betrachtung in Einklang zu bringen vermag, ist er ein wahrer Naturforscher.
Zum Text
Aufbau und Stil
Natur ist von der Form her ein Essay, weist aber auch starke Züge einer Predigt oder eines Manifests auf. Der Text hat in großen Teilen appellativen Charakter, spricht den Leser also stark an, zudem ist er durchdrungen von bildhaften Schilderungen. Diese schwärmerischen, von starker Empfindsamkeit und großer poetischer Kraft zeugenden Abschnitte sind zweifellos die Stärke des Buches. Der Text ist in neun Kapitel untergliedert, die z. T. nur wenige Seiten umfassen und folgende Überschriften tragen: Einleitung, Natur, Dienlichkeit, Schönheit, Sprache, Schulung, Idealismus, Geist, Ausblicke. Bei einigen dieser Abschnitte wie "Schönheit" oder "Sprache" ist die Abgrenzung sinnfällig, andere wiederum scheinen ohne klare Scheidung ineinander überzugehen. Obwohl der Text grundsätzlich philosophischer Art ist, ist es doch kein philosophischer Text im wissenschaftlichen Sinn; er folgt oft kaum nachvollziehbaren Kriterien von Argumentation und Beweisführung. Der nur drei Seiten lange Abschnitt über "Dienlichkeit" ist sowohl in inhaltlicher, methodischer und logischer Hinsicht als auch von seinem Unfang her ziemlich dürftig. Und im Abschnitt "Schulung" führt Emerson zunächst aus, wie dem aufnahmebereiten Geist praktisch jedes Phänomen der Natur zur Lehre gereichen könne - um dann fortzufahren, dasselbe gelte auch für menschengemachte Phänomene wie etwa das Kreditwesen. Schuldenlast als Charakterschulung: das mag ja noch angehen, aber dies der Weisheit der Natur zuzuschreiben, ist als Argumentation doch bemerkenswert. Dass solche Elemente im Werk eines Vordenkers der amerikanischen Moderne durchgehen, lässt aus heutiger Sicht staunen.
Interpretationsansätze
- Natur ist ein moralisch-philosophisches Manifest des Transzendentalismus. Der Essay ist beeinflusst u. a. von Ideen des deutschen Idealismus und der Romantik und getragen von einem zutiefst religiösen Grundgefühl: In der natürlichen, göttlichen Ordnung der Dinge hat alles seine Richtigkeit. Dabei sah die entstehende amerikanische Nation die Natur eher als Feind an, den es zu besiegen oder zumindest zu zähmen galt. Hier deutet sich einer der großen Widersprüche an, die das geistige Amerika bis heute prägen.
- Der Text muss vor dem Hintergrund der aufkommenden Industrialisierung gesehen werden, die das Verhältnis des Menschen zur Natur tiefgreifend zu verändern begann. Auch in dieser Hinsicht hat Emerson europäische Einflüsse aufgenommen. Später propagierte er aber zunehmend die Besinnung auf eigenes amerikanisches Denken.
- Emerson nimmt in dem Text einige Gedanken vorweg, die im 20. Jahrhundert zu stärkerer Wirksamkeit gelangen sollten: etwa das Konzept der Biophilie, die Überzeugung, dass die Naturliebe des Menschen aus seinem evolutionären Ursprung erklärbar ist.
- Durch die Ermunterung an den Leser, der eigenen Anschauung und Empfindung stärker zu vertrauen als objektivem Faktenwissen, sowie durch seine Behauptung, die Beschäftigung mit der Vergangenheit verhindere die richtige Wahrnehmung der Gegenwart, legt Emerson das Fundament für die amerikanische Denkweise des "positive thinking".
- Emersons Überzeugung von einer natürlichen Ordnung der Dinge führte später u. a. zu seinem mutigen Eintreten gegen die Sklaverei. Von diesen politischen Aussagen ist aber in diesem, seinem ersten Buch noch wenig zu spüren.
Historischer Hintergrund
Die Selbstfindung einer jungen Nation
Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Expansion der USA, ausgehend von den Neuenglandstaaten in Richtung Westen, in vollem Gange. Besonders seit dem Amtsantritt des siebten Präsidenten, Andrew Jackson, im Jahr 1829 wurden die Erschließung des Landes und die Deportation und Vernichtung der einheimischen Indianervölker energisch und rücksichtslos vorangetrieben. Die Vereinigten Staaten von Amerika begannen sich von einer abtrünnigen Kolonie der Briten zu einem selbstbewussten Staat zu mausern, der vor allem dank der riesigen unerschlossenen Räume im Westen über ein gewaltiges Entwicklungspotenzial verfügte. Der Aufstieg der Nation wurde befeuert durch ein Sendungsbewusstsein, über das bereits die ersten Puritaner verfügt hatten, die davon träumten, auf amerikanischem Boden ein "neues Jerusalem" zu errichten, frei von der sittlichen Verkommenheit und den Zwängen des alten Europa.
Im Gegensatz zu diesem stürmischen Impetus bei der Staats- und Nationwerdung hatte das Volk der USA jedoch noch kaum nennenswerte geistige Leistungen hervorgebracht, mit Ausnahme der Werke von Benjamin Franklin, Washington Irving und vielleicht James Fenimore Cooper. In dieser Situation begannen sich die Ideen der europäischen Romantik in Nordamerika zu verbreiten. Hier wie dort wurden auch die ersten Zeichen des Industriezeitalters sichtbar. Doch die Romantik fiel in Nordamerika auf einen gänzlich anderen Boden als in Europa; sie traf auf Menschen, die die Sehnsucht nach einer eigenen nationalen Identität zunehmend schmerzhaft verspürten. Der Erste, der diese Sehnsucht ansprechen und befriedigen sollte, war Ralph Waldo Emerson.
Entstehung
Natur entstand in einer Umbruchphase in Emersons Leben, das ohnehin voller Schicksalsschläge war. Mit acht Jahren starb ihm der Vater, mit Mitte 20 und nur anderthalb Jahre nach der Hochzeit die Ehefrau. Im Alter von 30 Jahren hatte er bereits den erlernten Priesterberuf aufgegeben und eine längere Europareise hinter sich. Auf dieser hatte er in England und Schottland Geistesgrößen wie Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth und Thomas Carlyle getroffen und Bekanntschaft mit den aktuellen politischen und philosophischen Strömungen gemacht. Dabei war ihm die eklatante Diskrepanz zwischen der reichen europäischen Kultur und der jungen, noch kaum entstandenen amerikanischen Nation klar geworden. Vor diesem Hintergrund kehrte er 1833 ins heimische Concord in der Nähe von Boston zurück, zog in ein altes, ererbtes Haus mit dem Namen "Old Manse" und begann sowohl mit einer immer reger werdenden Vortragstätigkeit als auch mit der Niederschrift des Textes, der drei Jahre später unter dem Titel Nature erscheinen sollte. Das Buch verkaufte sich zunächst kaum. Erst nach einigen Jahren war die erste Auflage von 500 Stück abgesetzt. Umso stärker wurde später sein Einfluss auf die amerikanische Geistesgeschichte.
Wirkungsgeschichte
Die enorme Wirkung, die Emerson sowohl auf seine Zeitgenossen als auch auf die nachfolgenden Generationen ausübte, ist in Europa heute nur Fachleuten bekannt. Hierzulande ist eher sein Busenfreund und Mitstreiter Henry David Thoreau berühmt geworden, dessen Buch Walden. Leben in den Wäldern den Aussteigerbewegungen sowohl Anfang des 20. Jahrhunderts als auch in den 80er Jahren als Vorbild diente. Doch mehr noch als Thoreau steht Emerson für einen ganz zentralen Punkt der nordamerikanischen Kulturgeschichte: die bewusste geistige Unabhängigkeit von Europa.
Was viele Zeitgenossen an Emerson beeindruckt hat und was auch heute noch in seinen Schriften spürbar ist, das sind die ruhige Kraft und der beinahe heilige Ernst, die von ihm ausgehen. Emerson hat nichts Leichtes, nichts Verspieltes, in seinen Schriften findet sich keine Ironie. "Ich suchte Emerson kritisch zu untersuchen", schrieb der Kunsthistoriker und Übersetzer Herman Grimm, "aber es gelang mir nie. Es wohnte ihm eine Kraft inne, die er mit niemand gemein hatte." Der englische Physiker John Tyndall erklärte einmal, wenn er von irgendjemandem behaupten könne, er habe seinem Geist Anstoß und Richtung gegeben, so sei das Emerson.
Bei Emerson findet sich die Grundlage dessen, was man heute in geistiger Hinsicht als typisch amerikanisch wahrnimmt: das vorwärtsgerichtete Denken, das Beharren auf der Gültigkeit der eigenen Wahrnehmung, oft auch entgegen der objektiven Realität, schließlich das ungerührte Nebeneinander von Widersprüchen. Verstärkt zeigen sich diese Züge bei Autoren wie Ralph Waldo Trine, der den (schon bei Emerson nicht immer stringenten) Transzendentalismus banalisierte und als Pionier des Genres der Lebensratgeber gilt, welches dann Dale Carnegie (Sorge dich nicht, lebe!) und andere fortführten.
Über den Autor
Ralph Waldo Emerson wird am 25. Mai 1803 in Boston geboren. Sein Vater ist Priester; er stirbt, als der Sohn acht Jahre alt ist. Die Mutter muss die fünf Kinder allein durchbringen. Bereits in seiner Jugend zeigt sich seine philosophisch-rhetorische Begabung. Er erhält mehrmals Preise für seine Reden und Essays. Nach Abschluss des College arbeitet er drei Jahre als Privatlehrer, bevor er an die theologische Hochschule Cambridge geht und dort 1826 die Approbation zum Prediger erhält. Nach einer Zeit als Wanderprediger wird er 1829 in einer Bostoner Gemeinde zum Pfarrer berufen. Seine Frau Ellen Louisa Tucker stirbt nach nur anderthalb Jahren Ehe. Auch gesundheitlich geht es ihm schlecht. Emerson gibt den Priesterberuf auf, findet aber zunächst keine neue Betätigung. Auf einer Europareise lernt er u. a. den Marquis de Lafayette, die romantischen Dichter Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth sowie den schottischen Historiker Thomas Carlyle kennen, mit dem er den Rest seines Lebens befreundet bleiben wird. Zurück in den USA, in Concord, beginnt er intensiv zu schreiben und Vorträge zu halten. Er heiratet erneut. 1836 erscheint sein erstes Buch, Nature. Im selben Jahr wird sein Sohn Waldo geboren, der mit sechs Jahren stirbt. Die später geborenen Töchter Ellen und Edith und der Sohn Edward allerdings erreichen das Erwachsenenalter. Eine enge Freundschaft entsteht zu Henry David Thoreau, der zeitweise in seinem Haus wohnt. Emersons oft provokative Vorträge erreichen immer weitere Kreise. Er engagiert sich für soziale Reformen wie das Frauenwahlrecht. Besonders kämpft er gegen die Sklaverei und das damals gültige Gesetz, das es unter Strafe stellt, geflohenen Sklaven zu helfen. Er unterstützt auch den Freiheits- und Anti-Sklaverei-Kämpfer John Brown, der noch 1859 wegen seines Engagements hingerichtet wird. In Washington trifft Emerson Abraham Lincoln. 1872/73 unternimmt er erneut eine ausgedehnte Europareise. Seine letzten Lebensjahre verbringt er in Concord, bis zum Schluss schreibend und Vorträge haltend. Im Frühjahr 1882 erkrankt er an einer Lungenentzündung, an der er am 27. April stirbt.
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