Peter Handke
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter
Erzählung
Suhrkamp, 1972
What's inside?
Peter Handkes literarische Auseinandersetzung mit den Grenzen der Sprache.
- Erzählung
- Gegenwartsliteratur
Worum es geht
Eine tief greifende Sprach- und Erkenntniskrise
Gleich zu Beginn des Buches geschieht ein Mord – doch um einen gängigen Kriminalroman handelt es sich bei Peter Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter nicht. Noch viel weniger geht es übrigens um Sport. Stattdessen setzt sich der österreichische Schriftsteller mit den Grenzen unserer Sprache auseinander. Wie ist es möglich, selbst einfache Gespräche zu führen? Was haben die banalsten Wörter, die uns scheinbar so geläufig sind, mit den Dingen zu tun? Wie kann es sein, dass wir einen Satz anfangen und schon wissen, wie er endet? Vordergründig passiert in diesem Roman nur wenig, auf einer tieferen Ebene aber handelt er von der existenziellen Sinn- und Wahrnehmungskrise des Protagonisten Josef Bloch. Dessen Verhalten mag uns befremdlich oder gar krank erscheinen – für Handke ist es symptomatisch: Wir haben das einfache Sehen und Hören verlernt, alle Worte, Gesten und Dinge erscheinen als eine Anspielung auf etwas anderes. Handkes ebenso faszinierender wie verstörender Roman lässt uns über unsere normal erscheinenden, alltäglichen Sprechgewohnheiten nachdenken.
Take-aways
- Die Angst des Tormanns beim Elfmeter zählt zu den bekanntesten Werken von Peter Handke.
- Inhalt: Der Monteur Josef Bloch glaubt entlassen worden zu sein und streift ziellos herum. Nachdem er wie nebenbei eine Zufallsbekanntschaft ermordet hat, verlässt er die Stadt und reist in ein Dorf an der Grenze Österreichs. Alles erscheint ihm sinnlos, er selbst fühlt sich aus der Welt gerissen und versteht die einfachsten Gespräche und Wörter nicht mehr.
- Die Angst des Tormanns beim Elfmeter folgt vordergründig dem Muster eines Kriminalromans.
- Auf einer tieferen Ebene thematisiert das Werk die existenzielle Sprach- und Wahrnehmungskrise des Protagonisten.
- Der ehemalige Torwart nimmt Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Kommunikation bewusst wahr und hinterfragt vorgefertigte Sprachmuster.
- Handke setzt sich in dem Buch mit der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins und Roland Barthes’ auseinander.
- Stilistisch steht das Buch in der Tradition des Nouveau Roman und folgt Handkes Vorbild Alain Robbe-Grillet.
- Die Angst des Tormanns beim Elfmeter stand zu Beginn der 70er Jahre auf den Bestsellerlisten.
- Wim Wenders verfilmte den Roman schon bald nach dessen Erscheinen.
- Zitat: „Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände.“
Zusammenfassung
Falsch verstandene Gesten und Worte
Als der Monteur Josef Bloch an einem schönen Oktobertag bei der Arbeit erscheint, blickt in der Bauhütte von den anwesenden Kollegen nur der Polier von seinem Frühstück auf. Bloch – einst ein bekannter Torwart, dessen Karriere ruiniert war, als er bei einem Strafstoß den Ball einfach zwischen seinen Beinen hindurchrollen ließ – interpretiert dies als Kündigung und verlässt seinen Arbeitsplatz. Ziellos streift er durch die Stadt, geht ins Kino, steigt in einem Hotel ab, betrinkt sich, versucht vergeblich, Freunde anzurufen, und geht ins Stadion. Geräusche und Gesten, das Schimpfen eines Taxifahrers und das Winken eines Polizisten, die Selbstverständlichkeit, mit der die Kassiererin ihm im Kino das Wechselgeld herausgibt – alles erscheint ihm befremdlich. Seine Wahrnehmung ist überempfindlich, er meint, selbst noch das Fallen des Staubes gegen das Fenster zu hören.
„Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, dass er entlassen sei. Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, dass bei seinem Erscheinen (...) nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.“ (S. 7)
Er verabredet sich mit einer Frau, die er flüchtig von früher kennt. Während er in einer Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs auf sie wartet, kommt er am Musikautomaten mit einem Mädchen ins Gespräch. Zusammen verlassen sie das Lokal, gehen in ein Haus, küssen sich im Treppenhaus und kehren anschließend auf die Straße zurück. In der Gaststätte wartet die Frau schon auf ihn. Plötzlich verspürt Bloch den Wunsch, eine Zeitung zu kaufen, doch die beiden finden keinen Zeitungsverkäufer, und der Bahnhof hat schon geschlossen. Bloch tut so, als sei er darüber erschrocken, ist aber auch tatsächlich erschrocken. Um sich von der Frau zu trennen, erfindet er eine Ausrede: Er habe vergessen, einen Zettel zu hinterlegen. Doch während er das sagt, versteht er die Bedeutung der einzelnen Worte schon nicht mehr. Später passt er die Kassiererin vor dem Kino ab und sieht sie in ein Auto steigen. Sie erwidert seinen Blick, indem sie ihr Kleid zurechtrückt – oder zumindest fasst Bloch die Geste als Erwiderung auf.
Ein beiläufiger Mord
Ob Bloch mit einem alten Bekannten ein Fußballspiel besucht, ob er fernsieht, seine frühere Frau und sein Kind anruft oder in eine Schlägerei verwickelt wird – alles passiert ihm, als ginge es ihn nichts an. Seine Handlungen erscheinen ihm lächerlich und künstlich, seine Worte sinnlos und leer. Selbst banale Dinge wie ein Stapel leerer Obst- und Gemüsekisten kommen ihm vor, als seien sie nicht ernst gemeint, wie Witze ohne Worte. Erst als er wieder im Kino sitzt, verschwindet dieser Eindruck von Zweideutigkeit, Verstellung und Unsinn.
„Alles, was er sah, störte ihn; er versuchte, möglichst wenig wahrzunehmen.“ (S. 7)
Nach der Vorstellung verfolgt Bloch die Kassiererin bis in ihre Wohnung, wo die beiden miteinander schlafen. Am nächsten Morgen ist das unerträgliche Fremdheitsgefühl allerdings noch gewachsen. Er kann sich die Gegenstände in der Wohnung der Frau, den Teekessel, den Elektrokocher, die Blumen, mit geschlossenen Augen nicht vorstellen; mit den dazugehörenden Wörtern weiß er nichts anzufangen. Auch der Versuch, mit den Wörtern Sätze zu bilden und sich Geschichten zu den Gegenständen auszudenken, bleibt erfolglos. Hat er die Augen offen, empfindet er die Gegenstände in seiner Umgebung als aufdringlich, schließt er die Augen, drängen sich ihm in einer noch unerträglicheren Weise die Wörter für die Gegenstände auf. Beim Frühstück mit der Kassiererin – ihr Name ist Gerda (aber das wollte Bloch eigentlich gar nicht wissen) – stört ihn ihr unbefangenes, scheinbar vertrautes Reden, während er sprachlich Distanz wahrt. Nachdem er sie plötzlich und ohne jeden sichtbaren Anlass erwürgt hat, verspürt er eine leichte Beklemmung – nicht mehr.
Weitere Missverständnisse
Bloch holt seine Sachen aus dem Hotel und will seine Papiere von der Arbeit mitnehmen, doch die sind zu seiner Überraschung noch nicht bereit. Er verkauft seine alten Sachen in einem Trödelladen und nimmt den Reisebus in Richtung Süden, wo eine alte Bekannte, Hertha, einen Gasthof gepachtet haben soll. Im Bus macht ihn eine Frau darauf aufmerksam, dass ihm ein paar amerikanische Cents aus der Tasche gefallen sind. Sie kommen ins Gespräch über die Münzen, doch Bloch fühlt sich belästigt. Während der ganzen Fahrt nimmt er Einzelheiten überdeutlich wahr: den Blick des Busfahrers im Rückspiegel, das Klappern der Kofferraumtüren, das Flackern des Lichts, die Asymmetrie der Scheibenwischer, einen Handschuh auf dem Mittelgang. Er zieht sich in eine Ecke zurück, doch gegen den schmerzhaften Ansturm von Sinneseindrücken hilft nichts.
„Im Nachhinein wunderte er sich, dass die Kassiererin die Geste, mit der er das Geld, ohne etwas zu sagen, auf den drehbaren Teller gelegt hatte, mit einer anderen Geste wie selbstverständlich beantwortet hatte.“ (S. 7)
In dem südlichen Grenzort steigt Bloch aus und nimmt sich ein Zimmer in einem Gasthaus. Auf seine Frage erfährt er, dass das Wirtshaus seiner Bekannten sich in der Nähe des Grenzübergangs befinde und dass dieser geschlossen sei – aber danach hatte er gar nicht gefragt. Man redet von einem stummen Schüler, der seit zwei Tagen verschwunden sei. In einem Gemischtwarenladen kauft Bloch sich neue Kleidung und erhält ungefragt die Information, dass Gummistiefel eingetroffen seien. Er sucht das Wirtshaus seiner Bekannten auf. Wieder fühlt er sich von Details bedrängt: die Kellnerin, die einschenkt, der Tropfen, der am Glas herunterläuft, die Zeiger der Uhr. Während er sich mit Hertha unterhält, verspürt er ein Gefühl der Bedrohung. Ihm ist, als könnte alles, was passiert, gegen ihn verwendet werden, und er interpretiert harmlose Sätze der Gendarmen als Aufforderung, den Ort zu verlassen. Auch ein banales Gespräch mit dem Zimmermädchen scheitert daran, dass Worte, Sätze und Gesten missverstanden werden.
Falsch gedeutete Zeichen
Aus der Presse erfährt Bloch, man habe neben der toten Kassiererin eine amerikanische Münze und eine Zeitung mit Kritzeleien gefunden, die Hinweise auf den Täter liefern könnten. Er geht in den Wald und findet ein Fahrrad. Zwei Gendarmen mit Hunden streifen durch die Felder. Das Blinken ihrer Funkgeräte irritiert Bloch: Es könnte ein Zeichen sein, aber wofür? Bloch fährt ein Stück des Weges mit dem Rad, dann lässt er es stehen. Im Wirtshaus seiner Bekannten erfährt er, dass es dem verschwundenen stummen Kind gehört. Im Haus nebenan ist jemand gestorben. Die Kellnerin hat ein Glas zerbrochen, doch die Pächterin schaut nicht sie, sondern ihn an. Sie erzählt von ihrem Freund, dem Sohn des Gutsbesitzers, doch Bloch interessiert das nicht. Als er ihr seinerseits von seiner neuen Angewohnheit berichtet, mit dem Zählen erst bei Zwei anzufangen, antwortet sie nur mit einer Redensart. Ihr Kind ist aufgewacht und klagt über tote Fliegen unter seinem Kopfkissen. Das seien die Nachbarn, sagt die Pächterin, die wegen des aufgebahrten Toten in ihrem Haus schliefen und die Angewohnheit hätten, mit Gummibändern auf Fliegen zu schießen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs macht die Pächterin Bloch darauf aufmerksam, dass er sich ständig entschuldige. Ihm selbst ist das gar nicht aufgefallen.
Zwang und Ekel
Nachdem er im Nachbarhaus den aufgebahrten Toten angesehen und mit den Angehörigen gegessen hat, geht Bloch in den Ort und schaut in einem Café den Gästen beim Kartenspiel zu. Er zettelt einen Streit an, dann geht er in ein Hinterzimmer, lauscht einem Diavortrag und fängt wieder an zu streiten. Auch in einem zweiten Café provoziert er die Leute, dann kehrt er in den Gasthof zurück und legt sich schlafen. Frühmorgens wacht er auf. Alles im Zimmer ist ihm unerträglich: die Matratze, die Schränke, die Wände. Er wird von einem starken Ekel erfasst und übergibt sich ins Waschbecken. Die Gegenstände scheinen auf unerträgliche Weise von ihm selbst abgegrenzt zu sein. Zwanghaft denkt er zu jedem Gegenstand das dazugehörige Wort. Sieht er einen Stuhl, denkt er „Stuhl“, sieht er einen Kleiderbügel, denkt er „Kleiderbügel“. Er sieht die Gegenstände, als seien sie Reklame für sich selbst, und empfindet den gleichen Ekel, den er oft angesichts von Werbung, Schlagern oder Landeshymnen verspürt.
„Bloch wurde nervös. Einerseits diese Aufdringlichkeit der Umgebung, wenn er die Augen offen hatte, andrerseits diese noch schlimmere Aufdringlichkeit der Wörter für die Sachen in der Umgebung, wenn er die Augen geschlossen hatte!“ (S. 20)
Am nächsten Tag bemerkt er einen neuen Zwang an sich: Er muss von allem den Preis erfahren – ganz gleich, ob es sich um die Möbel im Wirtshaus, eine Schaufensterdekoration oder die Entschädigungssumme für ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers handelt. Einfachen Gesprächen kann er jedoch kaum mehr folgen. Überrascht nimmt er zur Kenntnis, dass die beiden Friseurmädchen, mit denen er sich unterhält und denen er von seiner Vergangenheit als Torwart erzählt, mit eigenen Geschichten von ähnlichen Erlebnissen antworten. Erwähnt er etwa eine Verletzung, berichten sie von einer ebensolchen Verletzung, die sich jemand anders bei anderer Gelegenheit zugezogen habe. Ein Wort gibt das andere, es ist das gewöhnliche Hin und Her eines Gesprächs, doch für Bloch haben die Antworten nichts mit dem zu tun, worüber er gesprochen hat. Zudem irritiert ihn, dass die beiden Mädchen von Personen und Sachen so sprechen, als müsste er diese kennen. Er selbst dagegen erklärt, wenn er Namen nennt, immer in einem Nebensatz, um wen es sich handelt. Wenn er von einem Fußballspiel berichtet und etwa einen Eckstoß erwähnt, erklärt er umständlich die Regeln, obgleich diese seinen Zuhörerinnen bekannt sind. Nichts erscheint ihm selbstverständlich, und schon bald meint er, überhaupt jedes Wort, das er verwendet, erklären zu müssen.
Überscharfe, verzerrte Wahrnehmung
Während Bloch, ganz auf die eigene Wahrnehmung konzentriert, in einen Fluss starrt und feststellt, dass alles, was er sieht, schon im Augenblick des Sehens zur Erinnerung wird, schiebt sich plötzlich das Bild einer Kinderleiche in sein Blickfeld. Auf dem Weg zurück in den Ort kommt ihm ein Gendarm auf einem Moped entgegen. Bloch schaut ihm nach und denkt, er sehe alles nur als Vergleich für etwas anderes, in einem übertragenen Sinn. Außerdem achtet er immer auf Nebensächliches: beim Ballspiel auf die Tropfen, die der nasse Ball versprüht, bei einem Gespräch auf den Zuhörer statt auf den Redner. Später, im Wirtshaus, beobachtet Bloch betrunken das Treiben um sich herum. Die jungen Männer und Frauen stehen an der Theke, scherzen, lachen, hören Musik. Bloch sieht alle Details: wie der Musikautomat eine Platte auswählt, wie die Kellnerin den Arm bewegt, wie die Gläser gefüllt werden. Es scheint ihm, als spielten sich die Dinge, die er sieht und hört, in weiter Entfernung ab, als habe all dies nichts mit ihm zu tun. Die Gegenstände sehen aus wie auf einem Luftbild, die Geräusche kommen ihm vor wie Nebengeräusche, wie das Husten und Räuspern bei einer Radioübertragung eines Gottesdienstes.
„Plötzlich würgte er sie. Er hatte gleich so fest zugedrückt, dass sie gar nicht dazu gekommen war, es noch als Spaß aufzufassen.“ (S. 22)
Als Bloch später in seinem Bett aufwacht, nimmt er plötzlich auch sich selbst, seinen eigenen Körper, auf überdeutliche Weise wahr. Es ist, als richteten sich die Gedanken plötzlich gegen ihn selbst, als wäre sein Inneres auf einmal nach außen gestülpt und er aus jedem Zusammenhang herausgefallen. Bloch empfindet Ekel vor sich selbst, er schwitzt vor Todesangst. Dieses Gefühl ist schrecklich und zugleich überaus wirklich, denn es ist kein Vergleich für etwas anderes mehr. Um wenigstens oberflächlich zu funktionieren, fängt er an zu zählen und die Dinge beim Namen zu nennen: einen verregneten Oktobertag, ein staubiges Fenster. Es hilft ihm, alles, was er gerade tut, in Worte zu fassen – eins nach dem anderen. Er geht zum Frühstück in die Wirtsstube, er setzt sich an den Tisch, er schlägt die Zeitung auf. Selbst die Nachricht, man verfolge im Mordfall Gerda eine heiße Spur, kann ihn nicht aus der Ruhe bringen. Eine Zeit lang gelingt es ihm, die Wirklichkeit als wirklich und nicht als künstliche Fassade wie in einem Film wahrzunehmen.
Der Blick auf den Torwart
Blochs Wahrnehmungs- und Sprachverwirrung schreitet voran. Wortspiele muss er sich erst mühsam übersetzen, einfache Wörter kommen ihm verrätselt vor. Zugleich scheint es ihm, als wäre alles, was passiert, eine Aufforderung an ihn, etwas zu tun oder zu lassen. Im Wirtshaus missversteht Bloch eine harmlose Bemerkung eines jungen Mannes. Es kommt zu einer Schlägerei, und doch erscheint ihm die Welt danach friedlicher. Er fühlt sich nicht mehr von Details bedrängt und bezieht nicht mehr jedes Ding, jede Geste auf sich selbst. Ein abgebranntes Streichholz darf endlich nichts weiter sein als ein abgebranntes Streichholz. Doch das Gefühl, alles sei selbstverständlich und natürlich, hält nicht lange an.
„Er war hier am Waldrand, dort war ein Transformatorhäuschen, dort war ein Milchstand, dort war ein Feld, dort waren ein paar Figuren, dort am Waldrand war er.“ (S. 45)
Am Morgen entdeckt Bloch in der Zeitung sein Fahndungsbild. Die amerikanische Münze hat den Ermittlern die nötigen Hinweise gegeben, man ist ihm auf der Spur. Statt aber zu fliehen, besucht er ein Fußballspiel. Wortreich erklärt er einem anderen Zuschauer seine Art, ein Spiel zu verfolgen. Man müsse nicht auf den Stürmer achten, sondern auf den Torwart in Erwartung des Balls. Es sei lächerlich, aber mit der Zeit gewöhne man sich daran, die Dinge auf diese Art zu sehen. Auf dem Spielfeld gibt der Schiedsrichter einen Elfmeter. Wenn bei einem Elfmeter der Schütze auf die Bewegungen des Torwarts achte, erklärt Bloch, könne er erkennen, in welche Richtung dieser sich werfen werde, und seinen Schuss in letzter Sekunde noch in die andere Richtung lenken. Auf dem Spielfeld nimmt der Elfmeterschütze Anlauf. Der Torwart bleibt regungslos stehen, und der Ball fliegt ihm genau in die Hände.
Zum Text
Aufbau und Stil
Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ist weder durch Kapitel noch durch größere Einschnitte gegliedert. Das Geschehen wird durchweg aus der Perspektive des Protagonisten Bloch geschildert – allerdings in der dritten Person. Die Handlung ist aufs Äußerste reduziert. In einfachen, schnörkellosen Sätzen wird sehr genau beschrieben, was Bloch sieht, hört und spricht, ohne dabei zu analysieren, zu interpretieren oder zu gar zu psychologisieren. Ins Blickfeld rücken immer bloß Ausschnitte der Wirklichkeit: eine Bank, ein Flugzeug am Himmel, eine Zigarettenschachtel. Blochs Misstrauen gegenüber der Sprache geht so weit, dass er sich am Ende des Buches Wörter in Anführungszeichen und sogar als Piktogramme denkt, die auch im Text als solche erscheinen. Vermeintliche Nebensächlichkeiten, banale Handlungen und ferne Geräusche stehen im Zentrum, während eigentlich wichtige Ereignisse wie etwa der Mord an der Kinokassiererin oder der Leichenfund im Fluss mit der allergrößten Beiläufigkeit geschildert werden. Vordergründig geschieht kaum etwas, doch bei aller Ereignislosigkeit herrscht eine Stimmung latenter Bedrohung. So wie immer wieder vom Kino die Rede ist, so hat auch Handkes Text in seiner Aneinanderreihung von Bildsequenzen und harten Schnitten selbst etwas Filmisches.
Interpretationsansätze
- Vordergründig folgt Die Angst des Tormanns beim Elfmeter dem Muster eines Kriminalromans. Auf einer tieferen Ebene handelt die Erzählung indes von einer existenziellen Wahrnehmungs- und Erkenntniskrise des Helden Bloch, der die sprachlichen Zeichen der Wirklichkeit nicht mehr zuverlässig entschlüsseln kann: Signifikat und Signifikant, Zeichen und Bezeichnetes fallen auseinander.
- Blochs Beruf – Monteur – lässt sich als Metapher für seine Wahrnehmungsweise lesen: Alles, was ihn umgibt, erscheint ihm nicht natürlich, sondern montiert. Zwischen Bloch und die Dinge schieben sich immer wieder Worte, es gibt keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit. Josef Bloch erinnert denn auch nicht nur dem Namen nach an die Figuren Franz Kafkas, die das Vertrauen in die Welt verloren haben.
- Obwohl man durchaus pathologische Verhaltensweisen (Schizophrenie, Autismus) erkennen könnte, erscheint Josef Bloch nicht unbedingt als krank. Er nimmt lediglich Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Kommunikation bewusst wahr und hinterfragt vorformulierte Floskeln und eingeübte Konventionen.
- Im Verlauf des Buches treibt Handkes Held die strukturalistische Methode auf die Spitze, indem er alles, was er wahrnimmt, als Zeichen für etwas anderes interpretiert, als Andeutung, Wortspiel oder Aufforderung.
- Nur in Momenten äußerster Müdigkeit und im Halbschlaf gelingt es Bloch, die Wahrnehmung aus dem Korsett der vorgefertigten Sprache zu befreien und die Gegenstände unvermittelt und für sich zu betrachten, ohne sie erst in Worte übersetzen zu müssen – Handkes poetisches Ideal.
- Der Torwart, der beim Elfmeter reglos im Tor wartet und gerade deswegen den Ball hält, steht für einen solchen Idealzustand der Passivität, der eine freie Entfaltung und eine gelingende Kommunikation erst ermöglicht.
Historischer Hintergrund
Strukturalismus und Nouveau Roman
Typisch für die deutsche Literatur der 60er Jahre waren ein neuer Realismus und ein Hang zum Politisieren. Nach Auffassung der politisch engagierten Literatur, die maßgeblich unter dem Einfluss des französischen Dichters und Philosophen Jean-Paul Sartre stand, hatte der Schriftsteller die Aufgabe, durch sein Schreiben die bestehenden Zustände aufzudecken und zu verändern. Im Gegensatz zu dieser so genannten Engagement-Literatur stand die poetische Konzeption von Strukturalisten wie dem französischen Linguisten und Semiotiker Roland Barthes, die die Zeichenhaftigkeit der Sprache betonten. Zu Beginn der 50er Jahre hatte Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen das Lehren von Sprache als eine Art Abrichten bezeichnet, das eben durch den praktischen Gebrauch der Sprache stattfinde. Der Welt werde durch sprachliche Begriffe und Zeichen eine Ordnung übergestülpt. Nach Barthes nun sollte sich die Poesie – im Unterschied zur Prosa – bemühen, das Zeichen in Sinn zurückzuverwandeln. Ihr Zweck sei es, nicht zum (von Menschen konstruierten) Sinn der Wörter zu gelangen, sondern zum (natürlichen) Sinn der Dinge selbst. Die poetische Haltung bestand aus Barthes’ Sicht darin, in der Sprache die Substanz der Dinge und der Welt unmittelbar, unabhängig von der subjektiv erfahrbaren Wirklichkeit, zum Vorschein zu bringen.
Ab den 50er Jahren bildete sich in Frankreich unter dem Begriff des Nouveau Roman eine neue literarische Bewegung heraus. Schriftsteller wie Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet und Michel Butor sahen den traditionellen Roman in einer Krise und suchten nach neuen literarischen Formen, die dem veränderten Menschen- und Weltbild besser gerecht würden. Emphatisch verabschiedeten sie sich von der auktorialen Erzählperspektive, die ein sinnvolles, kohärentes Weltbild suggerierte, und experimentierten mit neuen Formen des Erzählens.
Besonders Alain Robbe-Grillet sprach sich vehement gegen den bürgerlichen Roman Balzac’scher Tradition und gegen das aus, was in den Augen vieler Leser einen guten Roman überhaupt erst ausmachte: lebhafte Milieubeschreibung, psychologische Charakterzeichnung sowie die Darstellung von Leidenschaften, die die Handlung in eine bestimmte Richtung lenkten. Eindringlich wandte sich der Autor gegen eine Metaphern- und Symbolüberfrachtung von Dingen und Gesten im Roman. Das Medium des Films entsprach nach seiner Auffassung eher der Natur der uns umgebenden Welt als die konventionelle literarische Darstellungsform, die die Dinge unnötig mit Bedeutung auflud und künstliche Sinnzusammenhänge konstruierte. Im Roman der Zukunft sollten Gesten und Dinge einfach nur da sein und beschrieben werden, ohne gleich etwas zu bedeuten. Diese Beschreibungen verglich Robbe-Grillet mit der Bewegung einer Kamera, die Gegenstände langsam und vollkommen emotionslos erfasst. Außerdem setzte er sich in einigen Werken mit dem Genre des Kriminalromans auseinander, indem er mit dessen Muster wie auch mit der exakten, fotografischen Betrachtung experimentierte.
Entstehung
Schon in seinem literarischen Erstling Die Hornissen und in dem Theaterstück Kaspar hatte sich Peter Handke Ende der 60er Jahre mit Sprachkritik und mit der Philosophie Ludwig Wittgensteins beschäftigt. Auch in theoretischen Texten setzte er sich unter dem Einfluss Roland Barthes und vor allem Alain Robbe-Grillets kritisch mit den konventionellen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmustern der Sprache auseinander. Bei einem spektakulären Auftritt in der Gruppe 47 warf Handke den Vertretern des neuen Realismus vor, sie versuchten Wirklichkeit durch bloßes sprachliches Benennen abzubilden. Eine vorgefertigte Sprache aber führe zur Entfremdung des Individuums von der Welt und von sich selbst. Literatur sollte sich in seinen Augen von solchen Sprachkonventionen und vorgestanzten Begriffen lösen und sie kritisch hinterfragen.
Beim Verfassen von Die Angst des Tormanns beim Elfmeter hatte Handke nach eigener Aussage zunächst nur den Titel im Kopf, der Vorstellungen und Sehnsüchte ausgelöst und ihm Lust gemacht habe, zu schreiben. Mit dieser Idee im Kopf sei er in einen südlichen Grenzort im österreichischen Burgenland gefahren, um dort sinnliche Details zu notieren, vom Aussehen des Schwimmbades bis zur Zigarettenschachtel im Gras. Das Schreiben selbst sei dann ungeplant, von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz passiert.
Wirkungsgeschichte
Das Buch tauchte kurz nach seinem Erscheinen 1970 in den deutschen Bestsellerlisten auf, obwohl manche Kritiker dem vermeintlichen Krimi mangelnde Spannung vorwarfen. Der Titel geriet schon bald zu einer Redewendung, die bei Elfmetern bis heute gern von Sportreportern zitiert wird. Wim Wenders, der das Manuskript des befreundeten Handke schon vor der Veröffentlichung las, verfilmte das Buch im Jahr 1971.
Über den Autor
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Seine Mutter stammt aus einer slowenisch-kärntnerischen Familie, sein Vater ist ein im Zweiten Weltkrieg in Österreich stationierter deutscher Soldat. Nach dem Abitur beginnt Handke ein Jurastudium in Graz. Aufgrund des Erfolgs seiner ersten literarischen Werke gibt er das Studium auf und arbeitet fortan als freier Schriftsteller. Nach zahlreichen Stationen in Paris, Österreich und Deutschland lebt er seit 1991 in Chaville bei Paris. Seine ersten Werke zeigen ihn als Vertreter einer sprachkritischen Literatur. Im Lauf der Zeit wendet er sich mehr dem traditionellen Erzählen zu. Im Zentrum seines Schaffens steht die Bemühung, subjektive Erfahrungen mitteilbar zu machen. Handke schreibt Essays, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke (z. B. Publikumsbeschimpfung, 1966) und zahlreiche Prosatexte: Sein erster ist der Roman Die Hornissen (1966). Daneben übersetzt er Werke von Shakespeare, Julien Green u. a. Gemeinsam mit Wim Wenders realisiert er mehrere Filme: 1971 entsteht Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1987 schreiben die beiden zusammen das Drehbuch für Der Himmel über Berlin. Handke wird mit etlichen bedeutenden Preisen für deutschsprachige Literatur ausgezeichnet, darunter 1973 mit dem Georg-Büchner-Preis. Seit den 90er Jahren erregt Handke weniger mit seinen literarischen Texten Aufsehen als mit seinem Engagement für Serbien, das in einem Besuch beim ehemaligen Präsidenten Slobodan Miloševic während dessen Haft in Den Haag und in einer Rede auf dessen Beerdigung im März 2006 gipfelt. Ein Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit ist Handke mit jeder Äußerung sicher. Im Frühjahr 2006 wird eine geplante Aufführung eines Handke-Stücks an der Pariser Comédie-Française wegen Handkes proserbischer Position abgesetzt. Der Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf wird ihm im Mai 2006 zunächst von der Jury zuerkannt, vom Stadtparlament aber verweigert, woraufhin Handke seinerseits auf den Preis verzichtet.
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