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Zeit und Freiheit

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Zeit und Freiheit

Europäische Verlagsanstalt,

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10 take-aways
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What's inside?

Bergsons Schrift über unser inneres Zeiterleben ist eines der einflussreichsten philosophischen Werke des frühen 20. Jahrhunderts.

Literatur­klassiker

  • Philosophie
  • Moderne

Worum es geht

Zeit als inneres Erleben

In seinem 1889 erschienenen Hauptwerk Zeit und Freiheit holt der junge Henri Bergson zu einem Rundumschlag gegen Positivismus, Rationalismus und vor allem gegen Kants mechanistischen Zeitbegriff aus. Was wir als Zeit erleben, so die provokante These des französischen Philosophen, ist tatsächlich ein Konstrukt unseres Bewusstseins. Unser zur Abstraktion fähiger Verstand ordnet Gefühle und Empfindungen, als handelte es sich dabei um Gegenstände im Raum. In Wirklichkeit aber fließen Bewusstseinsströme ineinander und färben psychische Zustände auf unser gesamtes Innenleben ab. Dieses ständige Werden und Vergehen ist nach Bergson die wahre Zeit, die sich weder messen noch mit dem Verstand analysieren, sondern nur intuitiv erfassen lässt. Unter der Kruste unseres oberflächlichen Ichs lagert ein tieferes Ich, das es zu entdecken gilt. Ohne ins Esoterische zu verfallen, weist Bergson auf die Grenzen unseres Intellekts hin und fordert, dass wir uns auf das innere Erleben konzentrieren, statt wie Automaten zu funktionieren. Sein Werk übte großen Einfluss auf Philosophie und Literatur der Moderne aus.

Take-aways

  • Henri Bergsons Zeit und Freiheit zählt zu den einflussreichsten philosophischen Werken des frühen 20. Jahrhunderts.
  • Inhalt: Es gibt zwei Arten von Zeit: messbare, durch unser Raumdenken geprägte Zeit und reine Dauer, die sich weder in Zahlen ausdrücken noch sprachlich definieren lässt. Unser oberflächliches Ich nimmt Seelenzustände als Abfolge wahr, unser inneres Ich dagegen erlebt sie als ein kontinuierliches Fließen. Dadurch erst wird freies Handeln ermöglicht.
  • Mit seinem Begriff von Zeit als einem natürlichen Werden und Fließen wendet sich Bergson gegen Rationalismus und Materialismus.
  • Er grenzt sich von der Philosophie Immanuel Kants ab, der Zeit und Raum als homogene, leere Medien begriff.
  • Vorläufer von Bergsons Lebensphilosophie waren die deutschen Romantiker, insbesondere Friedrich Wilhelm Joseph Schelling.
  • Bergson übte großen Einfluss auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts aus, vor allem auf Existenzphilosophen wie Heidegger oder Sartre.
  • Sein Zeitbegriff hatte Auswirkungen auf die Literatur der Moderne und ihre Darstellung von Bewusstseinsströmen.
  • Linke Intellektuelle der Frankfurter Schule kritisierten das Werk als biologistisch und präfaschistisch.
  • In den 60er-Jahren weckte Gilles Deleuze neues Interesse an Bergsons Schrift.
  • Zitat: „Frei handeln heißt von sich selbst Besitz ergreifen, sich in die reine Dauer zurückversetzen.“

Zusammenfassung

Qualitative Veränderungen von inneren Gefühlen

In der Philosophie wie auch in unserer Alltagssprache wenden wir quantitative Begriffe auf innere Zustände an. Wir sagen, ein Körper sei größer oder kleiner als ein anderer, und ebenso sprechen wir von Empfindungen oder Gefühlen, die stärker oder schwächer sind als andere. Im Hinblick auf den Raum sind Größenunterschiede klar definiert: Der größere Raum ist derjenige, der den kleineren enthält. Wie aber soll man sich das bei Gefühlen vorstellen? Ist in dem intensiveren Gefühl bereits das weniger intensive inbegriffen, so wie in der größeren Zahl die kleinere enthalten ist? Müssen wir, um eine intensive Empfindung zu haben, zuvor die weniger intensiven verspürt haben? Dass die äußere Ursache, die zu einer Empfindung führt, nicht messbar ist, lassen wir außer Betracht. Wie selbstverständlich gehen wir davon aus, dass das Ziehen eines Zahnes schmerzhafter ist als das Ausziehen eines Haares.

„Wir drücken uns notwendig durch Worte aus, und wir denken fast immer räumlich.“ (S. 7)

Das Grundproblem ist, dass wir für verschiedene Intensitäten eines Gefühls denselben Begriff gebrauchen. Besonders deutlich wird das bei jenen Empfindungen, die gar keiner äußeren Einwirkung bedürfen. Da ist beispielsweise zunächst ein Wunsch, der sich allmählich – so scheint es uns – zur tiefen Leidenschaft steigert. Tatsächlich aber durchdringt dieser anfangs noch isolierte Wunsch unser ganzes Innenleben und färbt auf all unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Empfindungen und Vorstellungen ab. Mit Begriffen sukzessiver Größe und den üblichen scharfen Gradunterscheidungen, die wir auf räumliche Gegenstände anwenden, kommt man bei diesem dynamischen Prozess nicht weiter. Es handelt es sich dabei nämlich nicht um eine messbare, quantitative Entwicklung. Das Begehren, das wir als anschwellend bezeichnen, nimmt vielmehr eine andere Qualität und eine höhere Komplexität an.

„Dennoch kommt der gemeine Verstand mit den Philosophen darin überein, ein rein Intensives zur Größe zu machen, genau wie ein Ausgedehntes.“ (S. 10)

Auch beim Gefühl des Schönen sprechen wir fälschlicherweise von einer Steigerung der Intensität, wo wir eigentlich subtile psychologische Zustandsänderungen unterscheiden müssten. Während wir etwa eine anmutige Bewegungsfolge wahrnehmen, treten immer neue Gefühle hinzu – von der Leichtigkeit über die Ungezwungenheit bis hin zum Empfinden einer Lust darauf, den Ablauf der Bewegungen zu verstehen und sogar vorhersagen zu können. Was wir der Einfachheit halber als Intensivierung des ästhetischen Gefühls bezeichnen, lässt sich in Wahrheit in unterschiedliche Gefühle und Phasen aufteilen. Ob nun die Natur oder die Kunst ein ästhetisches Gefühl in uns auslöst, stets handelt es sich um eine Art der Suggestion. Durch Gleichförmigkeit der Formen (wie in der Baukunst) oder des Rhythmus (wie in der Musik oder Dichtkunst) versetzt uns ein Kunstwerk in einen hypnotischen Zustand der Selbstvergessenheit, drängt all die ständig einströmenden Veränderungen und Widerstände unseres Bewusstseins zurück und lässt unsere ganze Seele das Gefühl, das der Künstler zum Ausdruck bringen will, mitempfinden.

Emotionale und affektive Zustände als physische Veränderungen

Die meisten Gefühle, etwa Zorn, Hass, Liebe, Angst oder Scham, äußern sich in körperlichen Zuständen. So beschleunigt der Zorn Puls und Atmung, Scham lässt uns erröten. Auch hier nehmen wir als Intensivierung wahr, was tatsächlich eine Ausbreitung von Muskelkontraktionen über eine immer größere Oberfläche des Körpers ist. Die zunehmende Intensität eines emotionalen Zustands ist also nichts anderes als eine immer tiefer gehende, sich über den Körper ausbreitende organische Reizung. Nimmt man vom Zorn die begleitenden körperlichen Empfindungen weg, entfernt man vom Schrecken das Zittern und das Herzklopfen, so bleibt von der Emotion nur noch die Vorstellung übrig. Körperliche Reaktionen wie Blässe, Schweißausbruch und Übelkeit sind nicht Ausdruck des Ekels. Vielmehr ist Ekel nichts anderes als die Summe dieser Empfindungen.

„Je weiter man eben in die Tiefen des Bewusstseins hinabdringt, desto weniger hat man das Recht, die psychologischen Tatsachen wie Dinge zu behandeln, die sich nebeneinander aufreihen ließen.“ (S. 14)

Die Intensität von Empfindungen bemisst sich einerseits nach ihrer Mannigfaltigkeit und andererseits nach der Ausdehnung von organischen Bewegungen und Muskelkontraktionen auf immer weitere Körperteile. In diesem Sinn lässt sich die Intensität von Schmerz nicht mit einem lauter werdenden, auf einer Skala messbaren Ton vergleichen, sondern eher mit einer Symphonie, bei der immer mehr Instrumente mitspielen. Sie ist eine Qualität, nicht eine Größe. Wenn wir uns mit einer Nadel stechen, erst schwach, dann stärker, suggeriert unser Bewusstsein, dass ein stärkerer Reiz stärkeren Schmerz bedeute. Tatsächlich aber spüren wir zunächst nur ein Kitzeln, dann Berührung, dann Schmerz, anfangs punktuell, dann sich ausbreitend – es sind also ganz unterschiedliche Empfindungen. Auch Licht-, Geräusch- oder Geschmacksempfindungen nehmen wir als quantitativ messbare Größen wahr. Doch es ist nur unser Lust- bzw. Unlustempfinden, das uns suggeriert, ein Reiz sei schwächer oder intensiver. Wir messen die Intensität eines Tons oder eines Geruchs daran, ob wir uns anstrengen müssen, ihn wahrzunehmen, oder ob wir davon überflutet werden.

Räumliches Zeitdenken oder reine Dauer?

Wir unterscheiden Materie – also Dinge, die eine gewisse Ausdehnung im Raum haben und von denen nicht zwei gleichzeitig an der gleichen Stelle sein können – und Bewusstseinszustände, sprich Gefühle, Empfindungen und Vorstellungen, die keine homogenen Einheiten darstellen und einander durchdringen können. Materielle Dinge kann man zählen, indem man sie sich aufgereiht im Raum vorstellt. Psychische Zustände bedürfen dagegen einer symbolischen Projektion in den Raum, um in Zahlen ausgedrückt werden zu können. Wir stellen uns die Zeit als das Medium vor, in dem die verschiedenen Bewusstseinszustände klar unterscheidbar aufeinanderfolgen und sich – eben wie im Raum – aneinanderreihen und zählen lassen. Damit machen wir Zeit zu Raum, den wir mit unserem reflektierenden, zur Abstraktion fähigen Verstand als unbegrenztes, homogenes, an und für sich leeres Medium begreifen. Dieser vom räumlichen Denken abgeleitete Zeitbegriff führt aber in die Irre. Reine Bewusstseinszustände sind nun einmal keine klar durch räumliche Intervalle voneinander abzugrenzende Materie, sondern sie durchdringen einander, selbst wenn sie zeitlich aufeinanderfolgen.

„Man hätte sich also die Frage vorzulegen, ob die Zeit, als homogenes Medium, nicht am Ende ein Bastardbegriff ist, der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewusstseins verdankt.“ (S. 76)

Reine Dauer erleben wir, wenn wir uns dem Leben überlassen und die aufeinanderfolgenden Bewusstseinszustände nicht wie streng voneinander getrennte, isolierte Punkte auf einer Linie nebeneinanderstellen, sondern sie als dynamisches Ganzes begreifen. Wir müssen unser gewohntes räumlich-abstraktes Denken aufgeben und uns Bewusstseinszustände wie Töne vorstellen, die miteinander verschmelzen, sich gegenseitig durchdringen und sich zu einer Melodie organisieren. Dann erst verstehen wir ihre qualitative Mannigfaltigkeit, die keine messbare Größe ist und sich in Zahlen nicht ausdrücken lässt. Stellen wir uns eine regelmäßige Tonfolge vor, die uns zum Einschlafen bringt: Nicht der letzte Ton, den wir wahrnehmen, entfaltet diese einschläfernde Wirkung; vielmehr ist es die gesamte Komposition der Töne – und zwar nicht durch ihre Quantität, sondern durch ihre rhythmische Qualität, die man ohne Reflexion wahrnimmt.

„Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewusstseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überlässt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.“ (S. 77)

Warum fällt es uns so schwer, uns reine Dauer vorzustellen? Über die Sinne nehmen wir Bewegung im Raum wahr, indem unser Bewusstsein die aktuelle Lage eines Körpers mit dessen vorheriger Lage, die in unserem Gedächtnis abgespeichert ist, verknüpft. Der Raum an sich kennt keine Dauer – es ist unser Bewusstsein, das aus vielen simultanen Lageverschiebungen eine Sukzession herstellt, indem es Erinnertes und Gegenwärtiges miteinander verknüpft. Wir messen dann die Geschwindigkeit einer so konstruierten Bewegung, projizieren damit Zeit in den Raum und gehen davon aus, auch die Zeit sei eine Größe, die sich in Formeln ausdrücken und mithilfe von Uhren messen lasse. Aber das stimmt nicht. Wenn wir den Sekundenzeiger einer Uhr betrachten, erleben wir keine Dauer, sondern zählen immer nur gegenwärtige, isolierte, identische Momente, die verschwinden, sobald der nächste auftritt, und nichts von dem vorhergehenden in sich tragen. Tief in unserem Innern aber organisieren sich vergangene und aktuelle Bewusstseinsvorgänge und durchdringen einander in einem dynamischen Prozess. Schalten wir nun das Sekunden zählende Ich aus, so vermittelt uns das ein Gefühl reiner Dauer, die – anders als der Raum – niemals homogen sein kann.

Die Grenzen unseres oberflächlichen Bewusstseins

Für die gefühlte – nicht gemessene – Dauer und ihre qualitative – nicht numerische – Mannigfaltigkeit, die unser oberflächliches Ich kaum wahrnimmt und die wir allenfalls verworren im Traum erleben, kennt unsere unveränderliche, präzise Alltagssprache keinen Begriff. Um sie zu erleben, müssen wir oberflächliche Schichten unseres Ichs abstreifen und in die Tiefen des Bewusstseins vordringen. Um nicht in Starre zu verfallen, sondern das ständige Fortschreiten, die Veränderung von Empfindungen zu spüren, müssen wir uns darüber bewusst werden, dass etwa der Eindruck von Häusern einer Straße oder von einem bestimmten Geruch oder Geschmack aus der Kindheit nach einer gewissen Zeit nicht mehr derselbe ist, auch wenn wir ihn immer noch mit demselben Wort belegen. Insofern ist es die Sprache mit ihrer brutalen, unpersönlichen Festigkeit, die unsere individuellen, unbeständigen Empfindungen deformiert, indem sie ihnen eine Stabilität aufzwingt, die ihnen ursprünglich nicht eigen ist. Allerdings ermöglicht uns erst die auf das oberflächliche Ich zugeschnittene Sprache Verständigung und soziales Leben, insofern, als sie innere Zustände scharf unterscheidet.

„In meinem Innern vollzieht sich dagegen ein Organisations- oder gegenseitiger Durchdringungsprozess der Bewusstseinsvorgänge, der die wahre Dauer ausmacht.“ (S. 83)

Unser vom Raumdenken geprägter Verstand verlagert die konkreten Bewusstseinsvorgänge von innen nach außen, ordnet und etikettiert sie mit unpersönlichen, abstrakten Symbolen und Worten. Dabei entgeht uns, dass es sich in Wirklichkeit um ein Verschmelzen, ein Ineinanderfließen von individuellen Seelenzuständen handelt. So hat jeder Mensch seine eigene Art, zu lieben, und darin spiegelt sich seine gesamte Persönlichkeit wider. Unsere Sprache aber bezeichnet die Liebe allgemein und unpersönlich bei allen Menschen mit ein und demselben Wort. Wer nun das Ich auf eine Reihe von Bewusstseinszuständen reduziert, die sich in scharf umrissenen Begriffen wie „Liebe“ oder „Hass“ ausdrücken, erschafft bloß ein Phantom-Ich ohne persönliche, individuelle Nuancen.

Freiheit statt Determinismus

Gemäß der Theorie des Determinismus entstehen Handlungen dadurch, dass wir – von verschiedenen Motiven oder Gefühlen gedrängt – dem jeweils stärkeren Impuls folgen und danach handeln. Man geht also davon aus, ein Bewusstseinszustand bedinge den nächsten kausal. Oft aber gehen in der Psychologie Wirkungen den Ursachen voran, haben wir Entscheidungen längst getroffen, ehe wir Motive dafür suchen. Oder wir atmen den Duft einer Rose ein und meinen, dieser rufe vage Kindheitserinnerungen hervor. Tatsächlich aber atmen wir diese mit dem Duft ein; die Assoziationen werden nicht durch den Duft ausgelöst, sondern der Duft ist eben all das für uns – und für andere Leute etwas anderes. Die meisten Eindrücke und Empfindungen spielen sich nur an der Oberfläche ab und erfüllen nicht unser ganzes Bewusstsein. Wenn wir morgens aufstehen und unseren Geschäften nachgehen, handeln wir wie Automaten, die mit Bewusstsein ausgestattet sind. Durch Gewohnheit verfestigen sich oberflächliche, von außen diktierte Gefühle und Vorstellungen und umgeben unser Ich allmählich wie eine dicke Kruste. Unsere innigsten, undefinierbaren Empfindungen und Gedanken dagegen verbannen wir aus Bequemlichkeit in die Tiefenschichten unseres Bewusstseins. Handlungen sind aber nur frei, wenn psychische Zustände wie Liebe, Hass oder Zorn die Seele vollkommen durchdringen, sodass sich das ganze Ich darin ausdrückt, die ganze Persönlichkeit darin mitklingt. Solche freien Handlungen finden selten statt. Selbstbeobachtung und -reflexion sind ihnen hinderlich.

„Die Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände nämlich, in ihrer ursprünglichen Reinheit betrachtet, bietet keinerlei Ähnlichkeit mit der wohlunterschiedenen Mannigfaltigkeit dar, die eine Zahl bildet.“ (S. 92)

Lässt sich nun, wie die Deterministen behaupten, das Handeln einer Person in Kenntnis aller Bedingungen, die dazu führten, präzise vorhersagen? Die Frage ist sinnlos, da wir durch lückenlose Kenntnis derjenigen Vorgänge im Innern einer Person, die zu einer Willensentscheidung geführt haben, diese Zustände selbst stufenlos bis zum Punkt der Entscheidung durchleben, sodass schlicht kein Raum für eine Vorhersage bleibt. Da die tiefen Bewusstseinsvorgänge, die zu einem Willensakt führen, nicht statisch wie Materie sind, sondern sich in dynamischem Fortschritt entwickeln, kann man künftige menschliche Handlungen – anders als etwa astronomische Phänomene – nicht vorhersehen. Tiefe Seelenzustände gleichen sich nie. Allein schon durch ihre Wiederholung entsteht etwas Neues. Psychische Phänomene in ihrer radikalen Heterogenität sind keine naturwissenschaftlichen Tatsachen, die dem Kausalitätsgesetz gehorchen. Das freie Handeln eines konkreten Ichs lässt sich weder zeitlich zerstückeln noch analysieren oder definieren. Die gegenwärtige Psychologie aber vermengt unzulässig Raum und Zeit und zwängt so die Vorstellung von Freiheit in eine Sprache, in die sie sich nicht übersetzen lässt. Wirklich frei zu handeln bedeutet, in der reinen Dauer zu leben, fernab von äußeren Zwängen aus den eigenen seelischen Tiefen zu handeln und von sich selbst Besitz zu ergreifen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Zeit und Freiheit ist in drei längere Abschnitte unterteilt. Der erste behandelt die Intensität von Bewusstseinszuständen, der zweite den Begriff der reinen Dauer und der dritte die sich daraus ergebende Frage nach der menschlichen Handlungsfreiheit. Im Dreischritt entwickelt Bergson seine Freiheitstheorie, die in einem Angriff auf die vom Determinismus beherrschte Philosophie seiner Zeit mündet. Die einzelnen Abschnitte sind nicht streng voneinander getrennt. Stattdessen gibt es viele thematische Überschneidungen und Wiederholungen. Trotz seiner tendenziell antiwissenschaftlichen und antiintellektuellen Haltung entwickelt Bergson seinen Gedanken eines intuitiven Zeitverständnisses streng logisch und untermauert ihn durch zahlreiche mathematische Formeln und physikalische Experimente. Seine streng analytische Sprache wird durch gelegentlich eingestreute Beispiele aus unserer alltäglichen Wahrnehmung und sogar durch poetische Bilder, etwa durch einen Vergleich des Bewusstseins mit der Oberfläche eines Sees, aufgelockert.

Interpretationsansätze

  • Henri Bergsons Kritik eines verräumlichten, mechanistischen Zeitbegriffs richtet sich vor allem gegen die Philosophie Immanuel Kants und des Neukantianismus, der die Zeit – wie auch den Raum – als homogenes Medium und als apriorische Form des menschlichen Verstandes begriff. Gegen diese Auffassung setzt Bergson seinen Begriff von der wirklichen Zeit als einem natürlichen Werden und Fließen, das sich nicht intellektuell, sondern nur intuitiv nachvollziehen lässt.
  • Entgegen dem seit der Aufklärung auch im alltäglichen Denken vorherrschenden Rationalismus betont Bergson die Rolle der Intuition. Der Intellekt vermag lediglich statische Dinge und die physikalische Zeit zu erkennen, der lebendige Entwicklungsprozess, das innere Leben als ständiges Werden und Vergehen, das im Begriff der Dauer zum Ausdruck kommt, lässt sich nach Bergsons Auffassung nur intuitiv wahrnehmen.
  • Ein später von Interpreten gezogener Vergleich mit dem Daumenkino oder überhaupt mit dem Film veranschaulicht Bergsons Zeit- und Raumauffassung recht gut: Betrachten wir jedes Bild einzeln für sich, so erkennen wir keine Bewegung, nur verschiedene Momentaufnahmen, also Lagen im Raum. Betrachten wir dagegen die bewegten Bilder im Fluss, können wir keine einzelnen Bilder mehr wahrnehmen.
  • Auch wenn Bergson zwischen einem fundamentalen und einem oberflächlichen Ich unterscheidet, lehnt er die Vorstellung, es gebe zwei Ichs, etwa ein fühlendes und ein denkendes, ausdrücklich ab. Das Ich ist für ihn vielmehr eine Mischung zwischen Innen und Außen, die sich mal dem einen, mal dem anderen Zustand nähert. So gibt es für Bergson Bewusstseinstatsachen, die unser Ich vollkommen ausfüllen und die allen anderen Seelenzuständen ihre eigene, uns kaum bewusste Färbung verleihen. Von diesen verinnerlichten Grundüberzeugungen unterscheidet Bergson die oberflächlichen, äußerlichen, unpersönlichen Empfindungen, die nur beschränkt auf unser Wesen wirken.
  • Bergson betont die negative Wirkung autoritärer Erziehung, die uns zu außenorientierten Wesen macht und die Verbindung zu unseren tieferen Vorstellungen und Gefühlen abschneidet. Würden wir dagegen lernen, die Aufmerksamkeit auf unser inneres Erleben zu richten, wären wir uns unserer individuellen Bedürfnisse stärker bewusst.

Historischer Hintergrund

Antirationalismus und Lebensphilosophie im 19. Jahrhundert

Als Reaktion auf den Siegeszug der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert mit ihren materialistischen Welterklärungen, ihrem Fortschrittsoptimismus und Rationalismus bildete sich um die Wende zum 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland die romantische Bewegung heraus, die verstärkt wieder Gefühle, mystisches Erleben und intuitive Einfühlung in den Fokus rückte. Wie der Dichter Novalis wandte sich auch Friedrich Wilhelm Schlegel gegen die „absolute Vernunftdenkerei“ und ein von den Naturwissenschaften beherrschtes Denken, das nicht lebendige Wahrheit erfasse, sondern sie nur mithilfe leerer Formeln und Begriffe beschreibe. In deutlicher Abgrenzung von Immanuel Kants und Georg Wilhelm Friedrich Hegels logisch-systematischer Philosophie forderte Schlegel eine „Philosophie des Erlebens“.

Der Übergang vom romantischen Denken zur Lebensphilosophie, die zwischen 1880 und 1930 ihre Blüte erlebte, ist fließend. Großen Einfluss auf diese antirationalistische, gegen die Fortschrittsgläubigkeit gerichtete Denkströmung hatte auch Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Naturphilosophie mit ihrem zentralen Begriff der intellektuellen Anschauung, die er vom begrifflich verhafteten Verstandesdenken abgrenzte. Zugleich kritisierte Schelling den seiner Ansicht nach oberflächlichen, mechanistischen Zeitbegriff Kants, den er für eine bloße Form des Bewusstseins hielt. Von diesem abstrakten Zeitbegriff unterschied er eine organische Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. Einer seiner Grundgedanken lautete, kein Ding habe eine äußere Zeit, sondern jedes eine eigene, innere Zeit; Dinge entstünden nicht in der Zeit, sondern in jedem Ding entstehe die Zeit aufs Neue.

An die romantische Vorstellung, dass sich in der Natur wie auch in der Geschichte das Leben in seiner ganzen Fülle ausdrücke, knüpfte auch der deutsche Theologe und Philosoph Wilhelm Dilthey an. Nach seiner ab den frühen 1880er-Jahren entwickelten Theorie der Geisteswissenschaften lassen sich überlieferte Texte, Kunstwerke und auch religiöse und rechtliche Traditionen nicht mit objektiven wissenschaftlichen Mitteln erklären, sondern nur durch Nacherleben des subjektiven Erlebniszusammenhangs ihrer Entstehung deutend verstehen. Um etwa zu verstehen, was jemand geschrieben hat, müsse man dessen Bewusstseinsvorgänge im Augenblick des Niederschreibens nachvollziehen. Der auf naturwissenschaftlicher Grundlage erklärenden Psychologie warf Dilthey vor, sie reduziere psychische Zustände auf Einzelerscheinungen und konstruiere daraus Zusammenhänge und Erklärungsmuster, ohne dabei dem individuellen, ganzheitlichen Charakter dieser Zustände gerecht zu werden.

Entstehung

Wenn es auch Parallelen zu deutschen Romantikern gibt, so sind direkte Einflüsse auf Henri Bergson nur schwer nachzuweisen. Wahrscheinlich erhielt Bergson jedoch von Schelling – vermittelt von seinem philosophischen Lehrer Félix Ravaisson, der Schelling noch persönlich begegnet war – wichtige Impulse. Nach Abschluss seines Studiums der Literaturwissenschaft arbeitete Henri Bergson als Gymnasiallehrer für das Fach Philosophie, zunächst im westfranzösischen Angers, ab 1883 in Clermont-Ferrand. Nebenbei schrieb an seiner ersten großen wissenschaftlichen Schrift Zeit und Freiheit, die er 1888 als Dissertation an der Pariser Universität Sorbonne einreichte. 1889 erschien das Werk mit einer Widmung des Autors an den Philosophen Jules Lachelier, seinen ehemaligen Lehrer an der Pariser Eliteuniversität École normale supérieure.

Wirkungsgeschichte

Zeit und Freiheit erregte schon bald nach seinem Erscheinen auch außerhalb Frankreichs große Aufmerksamkeit – weit über philosophische Fachkreise hinaus. 1910 wurde das Werk ins Englische übersetzt, ein Jahr später auch ins Deutsche. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg galt Bergson als Modephilosoph und übte maßgeblichen Einfluss auf die literarische Moderne aus. William James’ Konzept des Stream of Consciousness als literarische Technik, das von Autoren wie James Joyce, Virginia Woolf, Claude Simon oder John Dos Passos in ihren Romanen angewandt wurde, lehnte sich an Bergsons Zeitbegriff an. Ob dieser – wie gelegentlich behauptet – Marcel Proust zu seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit anregte, ist jedoch fraglich. In der Philosophie beeinflusste Zeit und Freiheit den Existenzialismus, insbesondere Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre. Kritik kam dagegen von Vertretern der Frankfurter Schule und anderen linken Intellektuellen, die Bergsons Lebensphilosophie als biologistisch und präfaschistisch abtaten. In den 60er-Jahren weckte der französische Philosoph Gilles Deleuze durch eine Neuinterpretation Bergsons neues Interesse an dessen Werk.

Über den Autor

Henri Bergson wird am 18. Oktober 1859 als Sohn des jüdischen Komponisten Michal in Paris geboren. Während seiner Schulzeit wird er für eine mathematische Problemlösung ausgezeichnet. Er beschließt, Literatur und Philosophie zu studieren und besucht von 1877 bis 1881 die berühmte Pariser École normale supérieure. Nach dem Examen in Literatur legt er die Prüfung für eine Gymnasialprofessur in Philosophie ab. Dieses Fach unterrichtet er in den folgenden Jahren, zunächst in Angers, dann in Clermont-Ferrand. Neben seiner Lehrtätigkeit widmet er sich seinen philosophischen Schriften. Sein erstes Hauptwerk ist der 1889 als Teil seiner Promotion an der Sorbonne entstandene Essay Zeit und Freiheit (Essai sur les donnés immédiates de la conscience). Als zweites Hautpwerk gilt das 1896 erschienene Materie und Gedächtnis (Matière et mémoire)Das dritte, Schöpferische Entwicklung (L’Evolution créatrice), erscheint 1907 und bringt Bergson internationalen Ruhm ein. Sein viertes Hauptwerk ist Die beiden Quellen der Moral und der Religion (Les deux sources de la morale et de la réligion, 1932). 1890 kann Bergson nach erfolgreicher Habilitation an ein Pariser Gymnasium wechseln. Zwei Jahre später heiratet er und wird Vater einer Tochter. 1900 erscheint sein Essay Das Lachen (Le rire), der sich mit einer Theorie des Komischen beschäftigt und großen Einfluss auf den Symbolismus haben wird. Bergson erhält einen Lehrstuhl am renommierten Collège de France, wird in die Académie française aufgenommen und hält unter anderem Vorträge in Oxford und Cambridge. Im Ersten Weltkrieg übernimmt er verschiedene diplomatische Missionen, deren wichtigste darin besteht, den US-Präsidenten Wilson zur Unterstützung Frankreichs im Krieg gegen Deutschland zu bewegen. 1927 erhält er den Nobelpreis für Literatur. In seinen letzten Lebensjahren leidet Bergson an einer rheumatischen Erkrankung und lebt zurückgezogen. Obwohl er sich dem katholischen Glauben verbunden fühlt, lässt er sich 1940, nachdem auch in Frankreich antisemitische Tendenzen zunehmen, demonstrativ als Jude eintragen und gibt damit alle Titel, Mitgliedschaften und Auszeichnungen auf. Henri Bergson stirbt am 4. Januar 1941 in Paris.

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