Charles Dickens
Große Erwartungen
Hanser, 2011
What's inside?
Dickens’ Meisterwerk über das Erwachsenwerden und eine unglückliche Liebe.
- Bildungsroman
- Viktorianische Ära
Worum es geht
Dickens’ Meisterwerk
Charles Dickens ist als Autor von ungeheurer sprachlicher Erfindungskraft bekannt, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen sucht. Dieses Talent spielt er in Große Erwartungen voll aus: Jede Szene, jeder Handlungsstrang strotzt nur so vor liebevoll gestalteten Details und poetischen Spielereien, die den Roman zu einem wahren Lesevergnügen werden lassen. Ob mit selbst erfundenen Begriffen, sprechenden Namen, Wortspielen, lebendigen Beschreibungen oder genial eingefangenen umgangssprachlichen Besonderheiten einzelner Figuren: Dickens erschafft eine eigene Welt voller skurriler Gestalten, deren Geschichten sich in unheimlichen Herrenhäusern und nebligen Moorlandschaften ebenso entfalten wie in den schmutzigen und lauten Gassen Londons. Da sieht der Leser gern über Schwächen wie die etwas zu offensichtlich konstruierten Verflechtungen zwischen den Handlungssträngen hinweg. Große Erwartungen ist ein grandioser Roman über das Erwachsenwerden, der mitreißend von Liebe, Freundschaft und Reue erzählt, ohne je in Klischees zu verfallen.
Take-aways
- Große Erwartungen gilt als Charles Dickens’ stilistisch ausgereiftestes Werk.
- Inhalt: Der Waisenjunge Pip wächst in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Schwester und deren Mann auf. Dank eines geheimnisvollen Gönners kann er sich den Traum erfüllen, ein Gentleman zu werden, und darf hoffen, das Herz der schönen Estella zu gewinnen. Als sich sein Gönner aber als entflohener Sträfling entpuppt, nimmt Pips Leben eine dramatische Wende.
- Im Zentrum stehen die Themen Schuld, Freundschaft und unerfüllte Liebe.
- Der Roman zählt zu Dickens’ Spätwerk, das insgesamt ernster ist als die früheren Texte.
- Große Erwartungen erschien zuerst als Fortsetzungsroman in Dickens’ eigener Zeitschrift All the Year Round.
- Während der Roman beim breiten Publikum gut ankam, wurde er von der Kritik lange Zeit kaum beachtet.
- Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich auch die Literaturwissenschaft mit dem Werk zu beschäftigen.
- Die größte Kontroverse entbrannte um die beiden Fassungen des Schlusskapitels: die eine ohne, die andere mit Hoffnung auf ein Happy End.
- Der Roman wurde mehrfach für Bühne und Film adaptiert.
- Zitat: „Und noch immer stand ich da und sah das Haus an und dachte, wie glücklich ich wäre, wenn ich dort mit ihr lebte, und wusste, dass ich nie glücklich mit ihr war, sondern immer elend.“
Zusammenfassung
Begegnung im Sumpf
Nach dem frühen Tod seiner Eltern wächst der kleine Philip Pirrip, der sich selbst Pip nennt, bei seiner 20 Jahre älteren Schwester Georgina, Mrs. Joe genannt, und deren Mann Joe, einem Schmied, auf. Eines Tages trifft der kleine Pip auf dem Friedhof auf einen zerlumpten Sträfling, der ihn unter Drohungen zwingt, ihm Proviant und eine Feile zum Öffnen seiner Fesseln zu besorgen. Pip, der Panik nahe, entwendet zu Hause die geforderten Dinge. Als er sie abliefern will, trifft er überraschend auf einen zweiten Sträfling, der im Morgennebel entflieht. Dem zuvor getroffenen Sträfling bringt Pip das Essen und das Werkzeug. Wenig später kommt ein Trupp Soldaten in die Stadt, der die beiden entflohenen Häftlinge jagt. Joe und Pip schließen sich den Männern an und sind dabei, als die Verbrecher eingefangen werden. Der zweite Sträfling beschwert sich, dass der erste ihn umbringen wollte. Dieser behauptet, die Lebensmittel gestohlen zu haben – womit er Pips Vergehen deckt.
Satis House
Pips einziger Zugang zu Bildung ist seine Freundschaft mit der gleichaltrigen klugen und hilfsbereiten Biddy, die alles an ihn weitergibt, was sie lernt. Eines Tages lässt die reiche Miss Havisham verlauten, dass Pip zu ihr zum Spielen kommen soll. Pip macht sich gleich auf den Weg zu dem etwas gruseligen, halb verfallenen Anwesen Satis House, wo Miss Havisham residiert. An der Tür trifft er auf Estella, ein hochmütiges Mädchen, etwa in seinem Alter, das ihn zu Miss Havisham bringt. Die alte Dame sitzt in ihrer Brautkleidung inmitten vermoderter Hochzeitsdekoration in einem abgedunkelten Raum, seit ihr Bräutigam sie vor vielen Jahren kurz vor der Hochzeit hat sitzen lassen. Pip soll zur Unterhaltung der Hausherrin mit Estella spielen. Diese behandelt Pip, den sie als gewöhnlichen Arbeiterjungen sieht, äußerst herablassend. Miss Havisham hat Estella von klein auf darauf vorbereitet, allen Männern um sie herum das Herz zu brechen, so wie ihr selbst vor Jahren das Herz gebrochen wurde. Pip nimmt sich vor, ein Gentleman zu werden, um eines Tages gut genug für Estella zu sein. Denn er hat sich schon am ersten Tag in sie verliebt. Zehn Monate lang geht er regelmäßig zu Miss Havisham, um die alte Dame in ihrem Rollstuhl herumzufahren, mit Estella Karten zu spielen und das überwucherte Anwesen zu erkunden.
Lehrzeit
Pip beginnt seine Lehre bei Joe, obwohl er ja gar nicht mehr Schmied, sondern lieber Gentleman werden will. Insgeheim schämt er sich für seine ungebildete Familie und sein einfaches Zuhause. Seine größte Angst ist, dass Estella all das sehen könnte. Sie hat inzwischen ihre Ausbildung im Ausland begonnen.
„Meines Vaters Name lautet Pirrip, mein Vorname Philip, und aus beiden Namen vermochte meine kindliche Zunge nichts Längeres und Verständlicheres zu bilden als Pip. So kam es, dass ich mich Pip nannte und Pip genannt wurde.“ (S. 9)
Kurz nach einem Streit mit Joes Geselle Orlick wird Pips Schwester von einem Unbekannten niedergeschlagen. Obwohl viele Orlick verdächtigen, kann man ihm nichts nachweisen. Mrs. Joe wird zum Pflegefall: Sie kann kaum noch sprechen und sich nur noch wenig bewegen. Biddy zieht zur Familie, um sie zu pflegen.
„Seit jener Zeit, die lange vorbei ist, habe ich oft daran gedacht, wie wenige Erwachsene wissen, was Kinder für Seelenqualen erleiden, wenn man sie in Angst und Schrecken versetzt. Der Schrecken mag noch so unbegründet sein, Schrecken bleibt er.“ (S. 25)
Als Pip im vierten Lehrjahr ist, sucht ihn ein Fremder auf, den Pip schon einmal bei Miss Havisham getroffen hat: Er stellt sich als Anwalt Jaggers aus London vor und gibt ihm zu verstehen, dass er einen reichen Gönner vertritt. Dieser möchte, dass Pip zu einem Gentleman erzogen wird. An die Unterstützung sind allerdings zwei Forderungen geknüpft: Der Wohltäter soll bis zu dem Tag, an dem er sich zu erkennen geben will, geheim bleiben. Und Pip soll immer seinen richtigen Namen behalten. Jaggers wird zu Pips Vormund ernannt und besorgt ihm einen Privatlehrer: Matthew Pocket, ein Verwandter von Miss Havisham, soll Pip fortan in London unterrichten. Vor seiner Abreise besucht Pip noch einmal Miss Havisham, die sich aufrichtig über seinen Aufstieg zu freuen scheint.
Pips Leben in London
Nach seiner Ankunft in London begibt sich Pip sofort zur Kanzlei von Mr. Jaggers, wo er dessen undurchsichtigen Schreiber Mr. Wemmick kennen lernt. Pip soll vorerst in einem Wirtshaus bei Mr. Pockets Sohn Herbert wohnen, der ihn später zu seinem Vater bringt. Herbert und Pip werden sofort die besten Freunde. Von ihm erfährt Pip, dass Miss Havisham Estella adoptiert hat und dass Herberts Vater der einzige Verwandte der alten Dame ist, der sich nicht bei ihr einschmeichelt, um einen Teil des Erbes zu erhalten. Miss Havisham war die verwöhnte Tochter eines reichen Brauers und hatte noch einen Halbbruder, der sein Erbe schnell verprasste. Um auch noch an ihren Anteil zu kommen, heckte der Halbbruder mit einem Komplizen einen Plan aus: Dieser umgarnte Miss Havisham und brachte sie dazu, sich in ihn zu verlieben und ihm große Teile ihres Besitzes zu überlassen. Am Tag der Hochzeit erhielt sie dann einen kurzen Brief, in dem der Bräutigam die Trauung absagte. Seitdem befindet sie sich in dem apathischen Zustand, in dem Pip sie kennen gelernt hat.
„Ich sah, dass die Braut in dem Brautkleid wie das Kleid und wie die Blumen verwelkt war und nichts Glänzendes mehr an sich hatte bis auf den Glanz ihrer eingesunkenen Augen.“ (über Miss Havisham, S. 85)
Herberts Familie ist nicht besonders reich: Er arbeitet unentgeltlich in einem Kontor, um Erfahrungen zu sammeln, und wartet auf eine Chance zum Aufstieg. Herbert will seine Verlobte Clara heiraten, sobald er es in der Geschäftswelt zu etwas gebracht hat.
Pip zieht nach Hammersmith zu Mr. Pocket, der mit seiner unzufriedenen Frau und den mindestens sieben kleineren Kindern völlig überfordert ist. Neben Pip werden bei ihm zwei weitere Schüler ausgebildet: Drummle und Startop. Pip findet Drummle von Anfang an unsympathisch, mit Startop aber freundet er sich an. Er verbringt viel Zeit in London, in seinem Zimmer bei Herbert, und gewöhnt sich einen verschwenderischen Lebensstil an.
Estellas Rückkehr
Pip ist fest davon überzeugt, dass Miss Havisham seine geheime Wohltäterin ist. Er malt sich aus, welche Pläne sie wohl für ihn hat, und fragt sich, ob er Estella heiraten soll. Obwohl er weiß, dass sie ihn nie glücklich machen wird, liebt er sie unsterblich. Eines Tages erreicht Pip die Nachricht vom Tod seiner Schwester. Er macht sich auf den Weg in seine Heimatstadt. Dort verspricht er Biddy, Joe nun öfter zu besuchen, was er jedoch nie tut.
„In der kleinen Welt, in der das Leben von Kindern stattfindet, unabhängig davon, wer sie aufzieht, wird nichts so deutlich wahrgenommen und so deutlich gespürt wie Ungerechtigkeit.“ (S. 92)
Pip wird 21 Jahre alt und bekommt anlässlich seiner Volljährigkeit 500 £ ausgezahlt. Er möchte Herberts Karriere auf die Sprünge helfen, ohne dass dieser davon erfährt, und bittet Mr. Wemmick um Unterstützung. Tatsächlich erreicht dieser mit Pips Geld, dass Herbert in einem kleinen aufstrebenden Unternehmen Fuß fasst. Estella lebt inzwischen in Richmond bei einer wohlhabenden Bekannten von Miss Havisham, die sie in die Gesellschaft einführt. Pip besucht Estella häufig. Sie trifft sich aber noch mit ihren zahlreichen anderen Verehrern, zu denen auch Drummle gehört. Das macht Pip rasend eifersüchtig. Estella weiß selbst, dass sie kalt und herzlos ist, doch sie kann nicht aus ihrer Haut: Sie wurde von Miss Havisham zu dem gemacht, was sie ist.
Der Wohltäter gibt sich zu erkennen
Rund zwei Jahre später hat Pip seine Ausbildung bei Mr. Pocket beendet. Er wohnt noch immer mit Herbert zusammen und weiß nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. An einem stürmischen Abend – Herbert ist gerade auf Geschäftsreise und Pip allein zu Hause – taucht unerwarteter Besuch bei ihm auf. Es ist niemand anderer als der Sträfling, dem Pip damals geholfen hat. Er wurde aus England verbannt und hat es in der Neuen Welt zu einigem Erfolg gebracht. Alles, was er verdiente, schickte er nach London, damit Pip das Leben eines Gentlemans führen konnte. Nun wollte er sich endlich seinen Traum, Pip wiederzusehen, erfüllen. Da er noch immer verbannt ist, droht ihm die Todesstrafe, sollte er auf englischem Boden gefasst werden. Pip ist entsetzt, schließlich ist er immer davon ausgegangen, dass Miss Havisham seine Wohltäterin ist.
Magwitchs Geschichte
Pips Gönner stellt sich als Abel Magwitch vor. Pip gibt ihn als seinen Onkel vom Land aus. Er wird als wohlhabender Bauer eingekleidet und in einer nahe gelegenen Wohnung einquartiert. Als Herbert von seiner Reise zurückkehrt, weihen Pip und Magwitch ihn in die ganze Geschichte ein. Obwohl Pip sich von der rauen Art des Exsträflings abgestoßen fühlt, beschließt er, Magwitch zu helfen, weil er nicht die Schuld an dessen Tod tragen will. Magwitch erzählt Herbert und Pip seine Lebensgeschichte: Als Kind setzte man ihn aus und er wurde schon in frühen Jahren aus Hunger zum Dieb. Immer wieder wurde er eingesperrt, Arbeit fand er nur selten. Er brachte sich selbst lesen und schreiben bei und lernte schließlich einen feinen Herrn namens Compeyson kennen, der sich als Betrüger und Fälscher betätigte. Dessen letzter Kompagnon lag gerade im Sterben, und so wurde Magwitch sein neuer Helfer. Schließlich wurden Magwitch und Compeyson festgenommen, doch Compeyson gelang es, seine Haftzeit auf sieben Jahre herunterzuhandeln, während Magwitch zu 14 Jahren verurteilt wurde. Magwitch wartete auf eine Gelegenheit zur Rache. Die ergab sich, als die beiden zufällig gleichzeitig von einem Gefängnisschiff flohen: An dem Tag, als Pip Magwitch den Proviant brachte, versuchte dieser vergeblich, Compeyson zu ermorden. Herbert und Pip wird klar, dass Compeyson niemand anders als der ehemalige Bräutigam von Miss Havisham gewesen sein muss. Die größte Gefahr für Magwitch, das erkennen alle drei sofort, besteht nun darin, dass Compeyson von seinem Aufenthalt in London erfahren könnte.
Vorbereitungen zur Flucht
Pip plant, sich zusammen mit Magwitch ins Ausland abzusetzen. Vorher will er sich jedoch noch von Miss Havisham verabschieden. Er konfrontiert sie mit der Neuigkeit, dass er nun seinen wahren Gönner kenne, und bittet sie, an seiner Stelle fortan die Karriere von Herbert zu fördern. Estella eröffnet ihm, dass sie Drummle heiraten werde. Pip, der sich keine Illusionen mehr über eine mögliche Zukunft mit ihr macht, bittet sie, zumindest einen besseren Mann zu wählen.
„Brich ihnen die Herzen, mein Stolz und meine Hoffnung, brich ihnen die Herzen und kenn kein Erbarmen!“ (Miss Havisham zu Estella, S. 138)
Pip ist beim Anwalt Mr. Jaggers zum Essen eingeladen. Dabei fällt ihm auf einmal die ungeheure Ähnlichkeit zwischen Estella und der Haushälterin des Anwalts auf: Wie sich herausstellt, ist sie eine Zigeunerin, die Jaggers vor Jahren verteidigte und deren kleine Tochter er in die Obhut von Miss Havisham gab, die sich sehnlichst ein Kind wünschte. Herbert findet wenig später heraus, dass Magwitch Estellas Vater sein muss. Der jedoch hält seine Tochter für tot. Um Estella nicht zu belasten, beschließen die Freunde, weder ihr noch Magwitch etwas davon zu sagen.
Showdown auf der Themse
Die Abreise steht kurz bevor. Herbert wird das Land ebenfalls verlassen: Er soll fortan die Niederlassung seiner Firma in Kairo leiten. Pip, Herbert und Magwitch machen sich auf den Weg; mit einem Boot wollen sie die Themse herunterfahren. Dann sollen Pip und Magwitch an Bord eines Dampfers gehen und so aufs Festland fliehen. Kurz bevor es so weit ist, werden sie von einem anderen Boot aufgehalten: Compeyson hat sie die ganze Zeit über beschattet und erwartet sie nun mit einigen Polizeibeamten im Schlepptau. Bei einem Handgemenge gehen Magwitch und Compeyson über Bord, doch nur Magwitch taucht wieder auf. Er ist schwer verletzt und wird sofort festgenommen. Compeysons Leiche entdeckt man erst einige Zeit später. Magwitch wird zum Tod verurteilt, sein gesamtes Vermögen geht an die Krone. Pips Gefühle haben sich vollständig gewandelt: Er will sich um Magwitch kümmern und besucht ihn jeden Tag im Gefängnis. Dessen Zustand verschlechtert sich rasch: Kurz vor seinem Tod erzählt Pip ihm doch von seiner Tochter, aus der eine schöne und reiche Dame geworden sei. Magwitch stirbt friedlich.
Ein neues Leben
Pip ist nun nicht nur völlig abgebrannt, er wird auch noch schwer krank. Joe kommt zu ihm, um ihn zu pflegen und seine Schulden zu bezahlen. Nach mehreren Wochen der Krankheit erholt sich Pip wieder. Miss Havisham ist inzwischen gestorben. Sie hat ihr Vermögen Estella vererbt, aber auch Matthew Pocket bedacht. Pip will noch einmal neu anfangen. Just als er erkennt, dass Biddy eigentlich die perfekte Frau für ihn wäre, und um ihre Hand anhalten will, erfährt er von ihrer Hochzeit mit Joe. Pip tritt daraufhin eine Stelle als Schreiber bei Herbert in Kairo an und arbeitet sich langsam nach oben. Elf Jahre, nachdem er England verlassen hat, kehrt er zurück und trifft Estella auf dem Grund von Satis House, das inzwischen abgerissen wurde: Estella führte mit Drummle eine unglückliche Ehe und lebte von ihm getrennt, bis Drummle vor zwei Jahren bei einem Unfall starb. Sie hat inzwischen erkannt, welches Leid sie Pip damals zugefügt hat. Die beiden verlassen gemeinsam das Grundstück.
Zum Text
Aufbau und Stil
Große Erwartungen ist in drei Bände gegliedert. Der erste Band umfasst Pips Kindheit bis zu seinem Aufbruch nach London, der zweite beinhaltet die Ereignisse bis zu Magwitchs Rückkehr nach London. Pip schildert die Erlebnisse zu einem Zeitpunkt, der mindestens elf Jahre nach Magwitchs Tod liegt. Dickens’ poetischer Stil lässt den Roman zu einer echten Lesefreude werden. Die kreative Kraft, mit der er Formulierungen erfindet („sich ins Grab nussknackern“), längere Geschichten in einem einzigen Begriff („Zorngiebel“) zusammenfasst und jeden Namen als lautmalerischen Hinweis auf seinen Träger nutzt, macht die Lektüre zum Erlebnis. Alle Figuren in Große Erwartungen sind über ihre Sprache charakterisiert: Individuelle sprachliche Eigenheiten (etwa Joes verschachtelter Satzbau, Magwitchs ganz eigene Grammatik oder Jaggers umständliche Juristensprache) verleihen ihnen einen hohen Wiederkennungswert. Generell sind es eher die Nebenfiguren, zu denen der Leser sofort Zuneigung fasst: Der abgebrühte Schreiber Wemmick, der ein geheimes Doppelleben als genialer Bastler und fürsorglicher Sohn führt, oder der arme Matthew Pocket, der sich tapfer seiner „heranpurzelnden“ Kinderschar stellt und sich weigert, sich bei Miss Havisham einzuschmeicheln, sind nur zwei von mehreren Charakteren, die der Leser sofort ins Herz schließen muss.
Interpretationsansätze
- Große Erwartungen ist ein Entwicklungs- oder Bildungsroman, eine klassische Geschichte des Erwachsenwerdens: Die Hauptfigur Pip wird von den Wirren des Schicksals kräftig durchgeschüttelt und geht als geläuterter Mann aus ihnen hervor.
- Dickens selbst sah Große Erwartungen als eine Tragikomödie, mit der er der Kritik seiner Leserschaft an den zuvor veröffentlichten, eher ernsten und sozialkritischen Romanen Rechnung trug.
- Ein zentrales Thema des Romans ist die Frage nach Schuld und Sühne: Als Kind fühlt sich Pip für Dinge schuldig, die gar nicht in seiner Macht liegen, und steht ihnen ohnmächtig gegenüber. Als Erwachsener lernt er, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen; am Schluss trägt er einen Teil seiner Schuld ab, indem er Magwitch beisteht.
- Dickens beweist – lange vor Freud und Piaget – ein beeindruckendes Gespür für psychologische Zusammenhänge, insbesondere in der Beschreibung von Pips kindlichen Selbstvorwürfen und den Seelenqualen, die die ungerechte Behandlung durch seine Schwester und andere Erwachsene in ihm auslösen.
- An Pips Verwandlung in einen reichen Herrn werden immer wieder auch die ungeheuren Standesunterschiede verdeutlicht, die es zwischen der Unter- und der Oberschicht Englands gab: Beide Seiten haben kaum Kontakt, haben sich nichts zu sagen und leben vollkommen unterschiedliche Leben – das geht so weit, dass selbst Pip und Joe später keine Grundlage mehr für ein Gespräch finden.
- Anstatt die ärmeren Bevölkerungsschichten zu Opfern zu stilisieren, macht Dickens sie zu den heimlichen Herrschern (z. B. die Dienstboten) und stellt sie als die zufriedeneren Menschen dar (z. B. Joe).
- Die meisten Figuren im Roman haben eine Entsprechung in Märchen und Gruselgeschichten: Joe ist ein zweiter Hans im Glück; Miss Havisham und Abel Magwitch agieren wie Frankenstein, indem sie ein eigenes Geschöpf erschaffen.
Historischer Hintergrund
Gesellschaftlicher Wandel in England
Der Beginn der industriellen Revolution brachte für das britische Empire zahlreiche tief greifende gesellschaftliche Veränderungen. Die neue Klasse des Proletariats entstand und stellte die Gesellschaft vor völlig neue Herausforderungen. Aufgrund der raschen technischen Neuerungen etablierte sich ein immer selbstbewussteres Bürgertum, das schnell Reichtum anhäufte und die Adelsprivilegien infrage stellte. Steigende Lebensmittelpreise und das überholte Wahlrecht waren nur zwei Auslöser für eine breite gesellschaftliche Bewegung, die ihre Unzufriedenheit mit der Regierung durch Streiks und Proteste zum Ausdruck brachte.
Ab 1822 wurden umfangreiche Wirtschaftsreformen umgesetzt und neue Handelsabkommen geschlossen, durch die sich die Lage nach und nach besserte. Mit dem Factory Act wurden 1833 die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats leicht verbessert. 1846 wurde der Freihandel eingeführt, der England seinen Platz als führende Wirtschaftsmacht Europas sicherte. Religiöse Minderheiten erstritten sich mehr Gleichberechtigung, und 1836, ein Jahr vor Beginn der langen Regierungszeit von Königin Victoria, wurde die so genannte People’s Charter verfasst: Die Chartisten-Bewegung setzte sich u. a. für gleiches Wahlrecht für alle Männer und verbesserte Arbeitsbedingungen ein und konnte bald kleinere Erfolge verbuchen: Mit der Wahlrechtsreform von 1867 erhielten deutlich mehr Einwohner das Stimmrecht, wenn auch dem Großteil der Arbeiterschaft das Wahlrecht weiterhin vorenthalten blieb.
Entstehung
Zur Zeit der Entstehung von Große Erwartungen steckte Charles Dickens in einer schweren persönlichen Krise: Seine Ehe war gescheitert, seine unglückliche Liebe zu der jungen Schauspielerin Ellen Tiernan ließ ihn zum Gespött der Leute werden, seine Gesundheit war angeschlagen und seine Zeitschrift All the Year Round hatte mit stetig sinkenden Verkaufszahlen zu kämpfen. Um zumindest das letzte Problem zu lösen, beschloss Dickens – recht überstürzt –, wieder einen eigenen Fortsetzungsroman zu veröffentlichen, mit dem er die Gunst der Leserschaft zurückgewinnen sollte. Große Erwartungen erschien in wöchentlichen Folgen von Dezember 1860 bis August 1861, die erste Buchfassung wurde im Juli 1861 veröffentlicht.
Alle Dickens-Romane tragen autobiografische Züge, doch am stärksten sind diese in den beiden einzigen Romanen, die in der Ich-Person verfasst sind: David Copperfield und Große Erwartungen. Das zentrale autobiografische Element ist die unerwiderte Jugendliebe, die das gesamte weitere Leben bestimmt. Bei Charles Dickens war es Maria Beadnell, die sich nach einer dreijährigen Beziehung zwischen Hoffnung und Enttäuschung gegen ihn entschied. Andere Teile des Romans entnahm Dickens der Artikelfolge The Uncommercial Traveller, die er seit 1860 in seinen Zeitschriften veröffentlichte. In diesen kleinen polemischen Texten setzte sich Dickens mit aktuellen Ereignissen auseinander und arbeitete sie mit bissigem Humor auf. Nachgewiesen ist außerdem, dass Dickens Elemente von Henry James Byrons Burleske The Maid and the Magpie; or, The Fatal Spoon! für die Darstellung von Pips Kindheit aufgriff.
Wirkungsgeschichte
Die Leser von All the Year Round reagierten äußerst positiv auf den neuen Roman, doch die Kritiker waren weniger begeistert. Zwar fanden sie, dass Dickens nach seinen eher bedrückenden Werken wie Schwere Zeiten zu seinem alten Humor zurückgefunden habe, dennoch wurde der Roman von den meisten als enttäuschend und langweilig bis unglaubwürdig bewertet. Der zentrale Vorwurf bestand darin, dass es Dickens als Mitglied der Bürgerschaft nicht zustehe, einen Roman über einen Gentleman zu schreiben. Zwar brachen die alten Standesgrenzen im 19. Jahrhundert immer weiter auf, doch die Furcht vor einem vollständigen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Systeme saß tief. So wundert es nicht, dass die Geschichte eines Waisenkindes, das durch die Gunst eines Sträflings in die obersten Schichten versetzt wird, Befremden auslöste.
Über viele Jahre wurde der Roman von der Literaturwissenschaft gemieden – erst die Arbeiten von George Gissing und Gilbert Keith Chesterton aus der Zeit der Jahrhundertwende entfachten das Interesse daran neu. Heute gilt Große Erwartungen als Dickens’ stilistisch ausgereiftestes Werk. Für den meisten Diskussionsbedarf sorgen bis heute die beiden Versionen des Schlusskapitels: In der ursprünglichen Fassung gibt es nur ein kurzes, kühles Wiedersehen zwischen Pip und Estella. Dickens ließ sich jedoch von seinem Kollegen Edward Bulwer-Lytton überzeugen, in einer zweiten Fassung doch noch ein Happy End in Aussicht zu stellen.
Heute zählt Große Erwartungen zu Dickens bekanntesten Romanen. Er wurde zahllose Male für die Bühne, den Film und sogar eine Zeichentrickserie (South Park) adaptiert. Die wohl bekannteste Fassung ist die Verfilmung mit Ethan Hawke, Gwyneth Paltrow und Robert De Niro, die 1998 unter der Regie von Alfonso Cuarón entstand.
Über den Autor
Charles Dickens wird am 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth als eines von acht Kindern eines Marinezahlmeisters geboren. Weil die Familie über ihre Verhältnisse lebt und der Vater Schuldscheine nicht einlösen kann, kommt sie in ein Schuldgefängnis. Der zwölfjährige Charles wird Hilfsarbeiter in einer Fabrik, um selbst seinen Unterhalt bestreiten zu können. Die Erlebnisse der Kinderarbeit traumatisieren den Jungen und prägen später einen Großteil seines literarischen Werks. Als die Familie aufgrund einer Erbschaft des Vaters wieder freikommt, kann Charles Dickens seine Schulausbildung fortsetzen. Mit 15 Jahren wird er Schreiber in einem Anwaltsbüro. Bald darauf steigt er zum Gerichts- und Parlamentsreporter auf. 1836 heiratet er Catherine Hogarth, die Tochter eines Journalistenkollegen. Als er 1836/37 seine Episodenreihe The Pickwick Papers (Die Pickwickier) veröffentlicht, erlangt er schnell in ganz England Berühmtheit. Der nachfolgende Fortsetzungsroman Oliver Twist (1837/38) festigt seine Popularität. Er gibt mehrere Zeitschriften heraus und verfasst Kurzgeschichten und Romane. 1849/50 arbeitet Dickens an David Copperfield, einem Werk, das stark autobiografische Züge trägt. Nach 1852 erscheinen seine großen Spätromane Bleak House (Bleakhaus), Hard Times (Schwere Zeiten) und Great Expectations (Große Erwartungen). 1858 trennt sich Dickens von seiner Frau, mit der er inzwischen zehn Kinder hat. Gegen Ende seines Lebens unternimmt er ausgedehnte Lesereisen in Europa und Amerika. Weil sich seine Gesundheit zunehmend verschlechtert, erwirbt er 1868 den Landsitz Gad’s Hill Place bei Rochester. Am 9. Juni 1870 stirbt er dort an einem Schlaganfall. Als Schriftsteller von nationaler Bedeutung wird er in der Dichterecke der Westminster Abbey beigesetzt.
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