Für Wladimir Putin wie auch für große Teile der russischen Bevölkerung sind Russen und Ukrainer de facto ein Volk. Die Ukrainer selbst hingegen sehen sich als eigenständige Nation. Beide Seiten berufen sich auf die Geschichte, jeweils in anderer Deutung. Das Buch zeichnet beides höchst erhellend nach: die historischen Ereignisse wie auch deren Inanspruchnahme für die jeweiligen politischen Zwecke. So entlarvt es etwa Putins Nazinarrativ als reine Propagandalüge. Herausgegeben wurde es 2017, hat aber mit Russlands Überfall auf die Ukraine bedrückende Aktualität erhalten.
Sowohl Russland als auch die Ukraine nehmen die Kiewer Rus als Wiege der jeweils eigenen Staatlichkeit in Anspruch.
Sowohl Russland als auch die Ukraine führen den Ursprung ihrer Staatlichkeit auf die Kiewer Rus des Mittelalters zurück. Dieses Reich umfasste Gebiete, die heute zu Russland, Belarus und der Ukraine gehören. Es wurde im 9. Jahrhundert von den normannischen Warägern gegründet. Gegen Ende des 10. Jahrhunderts festigte Wladimir, der Fürst von Kiew, das Reich durch seinen Übertritt zum orthodoxen Christentum. Ihre Blütezeit erlebte die Kiewer Rus im 11. Jahrhundert. Russen, Belarussen und Ukrainer blicken auf diese Ära als ein „Goldenes Zeitalter“ zurück.
Die Frage, ob die Kiewer Rus wesentlich ukrainisch oder russisch war, wird von ukrainischen und russischen Historikern jeweils unterschiedlich beantwortet. Allerdings ist weder das eine noch das andere Narrativ haltbar. Denn zum einen beruhen beide auf dem modernen Begriff der Nation, den es im Mittelalter schlicht noch nicht gab. Zum anderen unterschlagen beide Seiten die Rolle der Waräger.
Im 15. und 16. Jahrhundert war die Ukraine ebenbürtiger Partner Russlands und trug dazu bei, Russland...
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