Henry David Thoreau
Walden
oder Leben in den Wäldern
Diogenes Verlag, 2004
What's inside?
Zwei Jahre an einem einsamen Waldsee: Thoreaus Kultbuch ist viel mehr als eine Anleitung zum Holzfällen.
- Tagebuch
- Transzendentalismus
Worum es geht
Im Einklang mit der Natur
Im Juli 1845 baut sich der Schriftsteller Henry David Thoreau in der Nähe seiner Heimatstadt Concord im US-Bundesstaat Massachusetts eine Blockhütte an einem einsamen Waldsee. Dorthin zieht er sich für die nächsten zwei Jahre zurück. Sein Ziel: Zu sich selbst und zurück zur Natur zu finden. In Walden – so der Name eines Teiches, der dem Buch den Titel gibt – skizziert Thoreau den Verlauf dieses Experiments. Besonderen Stellenwert räumt er ökonomischen Aspekten ein. Der Dichter schildert, wie er sich mit Fischfang, Getreide- und Gemüseanbau selbst versorgt, und erteilt Ratschläge, wie es gelingt, die Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren. So erhält der Leser tatsächlich recht handfeste Tipps zur Bewältigung des kargen Alltags. Das generationenübergreifende Kultbuch vieler Wandervögel und Strickpulloverträger hat aber auch eine gewichtige philosophisch-religiöse Seite: Thoreau beschreibt, wie er in der Waldeinsamkeit zu einem erweiterten Verständnis seiner selbst und der ihn umgebenden Natur gelangt. So fällt es ihm mit der Zeit immer leichter, auf den gewohnten Luxus zu verzichten und sich den bescheidenen Verhältnissen anzupassen. Auch wenn man es ihm nicht gleichtun möchte und man auf die Annehmlichkeiten des modernen Lebens nur ungern verzichtet: Walden ist nichts weniger als ein Ratgeber für ein besseres Leben.
Take-aways
- Walden gehört zu den großen Klassikern der amerikanischen Literatur.
- Henry David Thoreau ist einer der Väter der „Zurück zur Natur“-Bewegung. Er gilt als amerikanischer Rousseau.
- In Walden beschreibt er die Erfahrungen, die er während zweier Jahre in einer einsamen Blockhütte am Waldenteich in Massachusetts macht.
- Thoreau lässt sich auf den Aufenthalt in der Wildnis ein, um seine geistige Wachheit wiederzufinden und im Einklang mit der Natur zu leben.
- Er glaubt, dass die Mehrheit der Menschen ein Leben in stiller Verzweiflung führt und sich mit nutzloser Arbeit abrackert.
- Wer seine Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert, so Thoreau, gewinnt Freiraum, um das Leben zu genießen.
- Wahrheit lässt sich nur in radikaler Besinnung auf sich selbst finden.
- Die vielfältige Schönheit der Natur erkennt erst, wer unmittelbaren Kontakt zu ihr pflegt.
- Wer ein einfaches Leben in der Natur führt, braucht wenig Geld und verstrickt sich nicht in Schulden.
- Walden sprengt die Grenzen zwischen den Genres. Das Buch verbindet Elemente des Abenteuerromans mit erkenntnistheoretischen Abhandlungen und Naturpoesie mit Ökonomie.
- Die Hütte, in der Thoreau Walden schrieb, lag auf einem Grundstück seines Schriftsteller-Freundes Ralph Waldo Emerson.
- Emerson und Thoreau gehörten zu den amerikanischen Transzendentalisten, die sich für ein freiheitliches, selbstverantwortliches, naturnahes Leben aussprachen.
Zusammenfassung
Etwas wagen statt verzweifeln
Die Mehrheit der Menschen führt ein Leben in stiller Verzweiflung. Viele mühen sich tagaus, tagein ab, um als Lohn für viel Arbeit ein kümmerliches Dasein zu fristen. Sie wollen sich durch ihre Arbeit befreien, werden dabei aber zu Sklaven ihrer Zukunftsangst und lassen sich unterjochen von der ständigen Furcht, zu verarmen. Sie glauben, die freie Wahl zu haben, aber in Wirklichkeit stehen sie unter dem Diktat ihres eigenen Ichs und ihrer Bedürfnisse. Die Erfahrungen anderer Menschen helfen ihnen nicht weiter: Die Erkenntnisse sind zu stark auf ein individuelles Leben beschränkt, als dass sie sich auch nur im Geringsten auf das Dasein eines anderen anwenden ließen. Mit dieser Wirklichkeit konfrontiert, hat sich Thoreau entschlossen, ein Experiment zu wagen: Er will versuchen, im Einklang mit der Natur zu leben, und feststellen, was der Mensch tatsächlich zum Leben braucht.
Vom Schuldner zum freien Mann
Um ein solches Experiment durchzustehen, bedarf es umfangreicher praktischer Vorbereitungen. Dabei kann man freilich pragmatisch vorgehen: So zeigt sich z. B. recht schnell, welche Kleidung bequem und gut geeignet ist, um den Wechsel der Jahreszeiten zu überdauern – man muss ja in der freien Natur nicht mehr auf sein Äußeres achten, um etwa seinen gesellschaftlichen Rang zu unterstreichen. Im Leben der meisten Menschen ist es anders: Oft dient auch das eigene Haus Repräsentationszwecken. Für viele Menschen hat sich der Bau oder der Kauf einer Immobilie zu einer Last entwickelt, die sie ihr ganzes Leben lang drückt. Man nimmt Schulden auf und bezahlt sie über mehrere Jahrzehnte hinweg ab, nur um sicherzustellen, dass man seine Unterkunft behalten kann. Dabei reichen schon einfachste Mittel, um sich ein Haus zu bauen, das die notwendigen Bedürfnisse eines Menschen befriedigt.
Funktionales Design
Im Frühling 1845 baut sich Thoreau sein Haus am Rande des Waldenteichs. Er schlägt ein paar Weißtannen für die Grundbalken, kauft für 4,25 $ eine alte Hütte und baut aus ihren Bestandteilen eine neue in der Nähe des Ufers auf. Sämtliche Baumaterialien für die Einrichtung belaufen sich auf 28 $ – ein Betrag, der etwa der Jahresmiete für ein Einzelzimmer entspricht. Luxuriöse Details sind in diesem Preis natürlich nicht enthalten, aber die sind ohnehin unnütz. Wahre architektonische Schönheit kommt von innen; sie ergibt sich aus den Bedürfnissen des Bewohners, der das Haus für seine Zwecke erbaut. Welche Häuser werden denn am liebsten gemalt, weil sie so pittoresk sind? – Die Hütten der Armen.
„Als ich die folgenden Seiten, oder jedenfalls den größten Teil davon schrieb, wohnte ich eine Meile weit von meinem nächsten Nachbarn entfernt, in einem Haus, das ich mir selbst am Ufer des Waldenteiches in Concord, Massachusetts, gebaut hatte, allein im Walde und verdiente meinen Lebensunterhalt einzig mit meiner Hände Arbeit.“ (S. 16)
Auch die Anschaffung von Hausrat und Mobiliar ist einfach. Viele von Thoreaus Nachbarn in der Gegend von Concord lagern in irgendeinem Abstellraum alte Möbel. Gegen Abholung bekommt man sie meistens geschenkt.
Kosten und Einnahmen
Wenn es darum geht, sich selbst mit Nahrung zu versorgen, kommt man mit erstaunlich wenig Arbeit und Mitteln aus. Thoreau reicht eine Fläche von nicht einmal 1400 Quadratmetern, um das Nötige anzubauen. Seine Gesamtausgaben im ersten Jahr belaufen sich auf rund 62 $. Diesem Betrag stehen Einnahmen von knapp 37 $ gegenüber, generiert aus dem Verkauf von Früchten und Gemüse. Das ergibt zwar ein Minus von 25 $, aber dafür ist Thoreau jetzt Hausbesitzer und kann so leben, wie er es will. Das selbst gebackene, mit Kürbissirup gesüßte Brot schmeckt ihm gut und scheint überaus gesund zu sein – obwohl es keine Hefe enthält, was ganz schlimm sei, wie einige Hausfrauen dem Einsiedler versichern.
„Es ist hart, unter einem südlichen Sklavenaufseher, härter, unter einem nördlichen zu stehen, am schlimmsten aber, wenn wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind.“ (S. 20)
Thoreau muss sich Vorwürfe wegen seiner neuen Lebensweise gefallen lassen. Man beschuldigt ihn etwa, seine einsame, enthaltsame Lebensführung sei eigennützig und er kümmere sich nicht um das Wohl seiner Mitmenschen. Aber Philanthropie gibt es auf der Welt schon zur Genüge, und die meisten Philanthropen kümmern sich im Grunde wenig darum, was ihre Nächsten tatsächlich brauchen. Was sie dazu treibt, die Welt verbessern zu wollen, ist nicht Mitgefühl mit anderen, sondern ihr eigenes Unglück. Grundsätzlich soll jeder tun, was er aus Überzeugung tun kann. Auch wenn es die Gesellschaft als schlecht erachtet.
Klassiker statt Zeitungen
Es liegt ein bestimmter Reiz darin, auszuprobieren, mit wie wenig materiellen Mitteln ein Mensch leben kann. Aber im Grunde geht es vielmehr darum, durch den Rückzug in die Wildnis zu geistiger Wachheit und zu einem natürlichen Leben zurückzufinden. Dabei hilft die innere Ruhe, die man in der Einsamkeit erlangt. Oberste Prinzipien sind die Vereinfachung der Gewohnheiten und die Verlangsamung des Lebensrhythmus. Nur dadurch kann es gelingen, das eigene Bewusstsein zu schärfen. Moden oder Neuigkeiten hinterherzujagen, zerstreut die Menschen nur. Sie glauben, es entgehe ihnen etwas, wenn sie beispielsweise keine Zeitung lesen. Dem ist nicht so. Wer eine Nachricht gelesen hat, etwa über ein Eisenbahnunglück, kann sich die Berichte über alle künftigen Eisenbahnunglücke sparen: Wenn das Gesetz des Unglücks bekannt ist, dann braucht man nichts mehr über die vielen Einzelfälle zu lesen. Wenn sich die Menschen stattdessen darum bemühen würden, das wirklich Bedeutsame im Strom der Zeit zu erkennen, gewänne ihr Leben einen ganz anderen Sinn. Wichtiger jedenfalls als die Zeitungslektüre ist die Lektüre guter Bücher. Sie gehört zu den größten Vergnügen überhaupt und bietet die Möglichkeit, den Geist zu erweitern. Natürlich ist die Wahl der richtigen Bücher entscheidend: Nur wer die Klassiker studiert, erfährt etwas über das wahre Leben.
Klangerlebnisse und Konversation
Thoreau staunt über die Vielfalt der Töne und Klänge, die man in der Natur wahrnimmt. Sie gleicht einem wunderbaren Konzert. Nicht nur die Laute der Eulen und Ochsenfrösche zählen dazu, sondern auch die Töne, welche die menschliche Zivilisation erzeugt: Kirchenglocken, das Geschrei der Händler oder das Kreischen der Güterzüge, wenn sie in den Bahnhof einfahren. Die Einsamkeit in der Natur schärft das Bewusstsein für das, was um uns herum passiert. Zahlreicher Besuch, selbst der besten Freunde, wirkt hingegen zerstreuend und stumpft die Sinne ab. Gute, nicht zu häufige Gesellschaft wiederum kann sehr belebend und inspirierend sein. Als Gastgeber sollte man sich vor allem auf die Konversation konzentrieren. Wenn man zu sehr auf das leibliche Wohl seiner Gäste achtet, ist das der Geselligkeit eher ab- als zuträglich. Obwohl er in einfachen, ärmlichen Verhältnissen lebt, erhält Thoreau während seines zweijährigen Experiments reichlich Besuch. Weil er sich aus Protest gegen die Sklaverei weigert, Steuern zu zahlen, wird er im Sommer verhaftet, allerdings lässt man ihn schon am nächsten Tag wieder frei.
Kampf und Harmonie mit der Natur
Thoreau wird u. a. zum Experten für Bohnenpflanzen. Im steten Kampf mit den Widrigkeiten der Natur – Unkraut! – und unter halb zivilisierten Bedingungen gelingt es ihm dennoch, einen Überschuss von mehr als zwölf Scheffeln zu erzielen, die er schließlich für 17 $ verkaufen kann. Thoreau beschließt, im nächsten Sommer weniger Bohnen, dafür mehr Aufrichtigkeit, Wahrheit, Einfachheit, Vertrauen und Unschuld zu säen. Er will schauen, wie dies gedeiht. Den Vormittag widmet Thoreau stets der Arbeit. Am Nachmittag macht er gern einen Spaziergang in die Stadt, um den Gesprächen der Leute zu lauschen. In kleinen Portionen genossen, macht das ebenso viel Freude wie das Quaken der Frösche. Spannend ist dann die Heimkehr bei Dunkelheit: Sie lässt die sonst so vertraute Umgebung vollkommen anders erscheinen.
„Man muss einige der Lebensrätsel nicht theoretisch, sondern praktisch lösen.“ (S. 27)
Besonderes Vergnügen bietet der Teich. Nicht nur das Fischen an sich, auch das Beobachten der Wasserspiegelungen und der verschiedenen Farbnuancen, die sie hervorzaubern, genießt Thoreau sehr. Obwohl der See nicht besonders fischreich ist, tummelt sich doch eine ganze Reihe ausgefallener Tierarten darin. Auch die Fauna und Flora rund ums Wasser offenbart eine ungeahnte Fülle verschiedener Lebensformen, die es zu studieren lohnt.
„Wenn aber dann die Sonne emporstieg und er seine nebelwallenden Nachtgewänder abwarf, wurde hier und dort seine leicht gekräuselte oder klar spiegelnde Oberfläche sichtbar, während die Nebel sich nach allen Seiten in den Wald zurückzogen wie von einer nächtlichen Zusammenkunft heimkehrende Gespenster.“ (über den Waldenteich, S. 94)
Wie schade für die Menschen, die daran keinen Gefallen finden können. Stellvertretend für jene sei eine irischstämmige Nachbarsfamilie genannt, die sich auf ihrer kleinen Farm redlich um ein besseres Auskommen bemüht, einem Traum von Luxus hinterherjagt und diesen doch nie verwirklichen kann. Damit nicht genug: Hinzu kommt, dass das Familienoberhaupt auch noch ein Pechvogel ist, dem von Natur aus vieles misslingt.
Jäger oder Vegetarier?
Es gibt im Leben eines jeden Menschen wilde, animalische Bedürfnisse auf der einen Seite und den Wunsch nach etwas Höherem, rein Geistigem auf der anderen. Dieser Gegensatz zeigt sich in so einfachen Dingen wie der Frage, ob man auf die Jagd oder zum Fischen gehen soll, um sich von tierischen Produkten zu ernähren, oder ob man lieber vegetarisch leben will. Natürlich erscheint ein vegetarisches Leben aus Gründen der Tierliebe sinnvoller, aber nicht jeder ist dafür geschaffen. Die dahin gehenden Argumente sprechen eher Thoreaus Intellekt an, als dass sie ihn gefühlsmäßig überzeugen würden. Im Übrigen ist die Jagd sehr wichtig für die Erziehung von Jugendlichen. Erst durch sie lernt ein junger Mann den Wald kennen und wird aufgrund dieser Erfahrung vielleicht Naturforscher oder Philosoph. Ob er dann später die Jagd noch betreiben will, soll er selbst entscheiden.
Die Nachbarn
Wer inmitten der Wildnis lebt, lernt rasch eine ganze Vielzahl von Nachbarn kennen. Sie spazieren von sich aus vorbei, wenn man nur ruhig an einer Stelle sitzen bleibt und die Geduld hat, alles auf sich zukommen zu lassen. Am Waldenteich sind es vor allem Mäuse, Eichhörnchen, Otter, verschiedenste Arten von Vögeln und natürlich Ameisen. Nachbarn, zu denen man im Lauf der Zeit recht unterschiedliche Einstellungen entwickelt. Nicht jeder ist gleichermaßen willkommen, und so versucht man sein Haus vor bestimmten Eindringlingen zu schützen. Vor Winterbeginn ist es außerdem nötig, sich rechtzeitig um den Bau und die Einrichtung einer Heizung sowie um die Dämmung seiner Hauswände zu kümmern. Thoreau befasst sich dafür mit dem Maurerhandwerk und baut einen Kamin aus Backsteinen. Um den Herd heiß zu halten, muss für permanenten Holznachschub gesorgt sein. Der Aufwand lohnt sich. Während des Winters brechen einige ordentliche Schneestürme über Concord herein, gegen die das Haus hervorragenden Schutz bietet. Viel gefährlicher als der Schnee ist allerdings die zerstörerische Macht des Feuers. Eine Hütte in der Nähe des Waldenteichs wird von Brandstiftern angezündet, aber glücklicherweise springt das Feuer nicht auf den umliegenden Wald über.
Wintergäste
Der Winter bringt andere Tiere an den Waldenteich. Thoreau hört jetzt den melancholischen Gesang der Heuleule, das laute, klare Bellen der Füchse oder auch das leichtfüßige Trippeln des roten Eichhörnchens auf dem Dach. Als weiterer Besuch folgen Häher, Meisen und Rebhühner. Der vertrauteste Nachbar Thoreaus ist hingegen ein Hase, der unter den Hüttendielen sein Lager aufgeschlagen hat.
„Dem Philosophen sind alle Neuigkeiten Geschwätz, und die es herausgeben und lesen, sind alte Teetanten.“ (S. 101)
Zu den interessanten Ereignissen des Winters zählt das Eisstechen. Rund 100 Leute kommen an den Waldenteich und brechen große Eisstücke aus dem zugefrorenen See. Das Eis führt ein sehr lebendiges Dasein. Es dehnt und streckt sich und gibt spezielle Töne von sich. Das Schönste am Winter ist aber die Ankunft des Frühlings und das damit verbundene Gefühl von überschäumender Freude, die verschiedenen Klänge und Töne und die Farben, in denen die Natur ihn ankündigt.
Frühling und Fazit
Thoreau hat das Gefühl, als würde der Kosmos neu geschaffen. Die Wiederkehr des Frühlings erscheint ihm wie der Anbruch des Goldenen Zeitalters. Er liest in der Bhagawadgita und fragt sich, ob diese erhabene Philosophie nicht auf eine Lebenswelt zurückgeht, die dem modernen Menschen verschlossen bleiben muss.
„Im ersten Sommer las ich keine Bücher; ich pflanzte Bohnen.“ (S. 117)
Am 6. September 1847 verlässt Thoreau Walden und zieht ein Fazit: Man kann in einer Hütte genauso glücklich leben wie in einem Palast. Dem Geld hinterherzuhetzen, lenkt nur davon ab, die Wahrheit und sich selbst zu erkennen. Man könnte zu Expeditionen in unbekannte Gebiete aufbrechen, Tausende Kilometer von der Heimat entfernt. Ein solches Abenteuer ist aber im Grunde nicht mehr wert, als die Landschaften der unmittelbaren Umgebung und das eigene Ich zu erforschen. Thoreaus Experiment zeigt ihm, dass man, egal welches Leben man lebt, damit zufrieden sein soll und kann. Vorausgesetzt, man weiß sich zu bescheiden und nimmt an, was einem die Natur in ihrer Pracht zu bieten hat.
Zum Text
Aufbau und Stil
Walden oder Leben in den Wäldern folgt keinem strengen, an bestimmten Themen orientierten Aufbau. Auf das umfangreiche erste Kapitel mit dem Titel „Ökonomie“ folgen eine Reihe deutlich kürzerer Abschnitte, in denen es vor allem um die Darstellung des Lebens in der Natur geht („Das Bohnenfeld“, „Meine Nachbarn, die Tiere“) oder um moralisch-philosophische Themen („Einsamkeit“, „Höhere Gesetze“). Den roten Faden des Werks bildet die Chronologie der Jahreszeiten. Thoreau beschränkt sich auf die Beschreibung des ersten Jahres, mit der Begründung, das zweite sei diesem „sehr ähnlich“ gewesen. Die zahlreichen Abschweifungen machen den ganz besonderen Reiz des Werks aus: In einer kraft- und humorvollen, spielerischen Sprache verbindet Thoreau Praktisches mit Philosophischem, emphatische Naturbeschreibung mit kaufmännisch-nüchterner Zahlenwirtschaft und Elemente des Abenteuerromans à la Robinson Crusoe mit sarkastischen Seitenhieben auf seine Zeitgenossen. Die damit einhergehenden Stilwechsel tragen zum authentischen Charakter des Berichts bei, darüber hinaus wird Thoreau als Mensch sehr greifbar.
Interpretationsansätze
- Walden oder Leben in den Wäldern ist nicht nur Literatur, sondern auch ein authentisches Stück Geschichtsschreibung, das tiefe Einblicke in das amerikanische Leben Mitte des 19. Jahrhunderts erlaubt. Die großen Themen der Zeit – die Anfänge der Industrialisierung, die Indianerkriege und nicht zuletzt die Sklavenproblematik – greift Thoreau direkt oder indirekt auf.
- In erste Linie ist das Werk Dokument einer neuen philosophischen Grundströmung, die bei Thoreaus Zeitgenossen großen Anklang fand: der „Zurück zur Natur“-Bewegung. Sie lässt sich als direkte Reaktion auf den enorm raschen Industrialisierungsprozess lesen, der Amerika überrollte.
- Das Waldgrundstück, auf dem Thoreau seine Hütte zimmerte, gehörte einem Freund, dem Dichter und Philosophen Ralph Waldo Emerson. Wie dieser wird Thoreau den amerikanischen Transzendentalisten zugerechnet. Die Anhänger dieser von Emerson ins Leben gerufenen Bewegung forderten ein selbstverantwortliches, naturnahes Leben, wandten sich gegen den Materialismus und machten sich um die Rechte der Sklaven und der Frauen verdient.
- In der Beschreibung der Natur im Wechsel der Jahreszeiten schimmert Thoreaus Beschäftigung mit indischer Philosophie und Religion durch. Die halb wissenschaftlichen Abhandlungen über das Verhalten bestimmter Tierarten bieten ihm mehrfach Anlass zu poetischen Passagen, die von einem pantheistischen (= Gott ist in allem) Geist durchweht sind.
- Zu den Stärken des Buches gehört, dass der romantische Überschwang durch nüchternen Pragmatismus konterkariert wird. Eine eigentliche Heiligsprechung der Natur sucht man vergebens.
- Bei aller eindringlichen Betrachtung und „Umarmung“ der Natur geht es Thoreau vor allem um die Suche nach Wahrheit, wie er selbst mehrfach betont. Zu dieser kann seiner Meinung nach nur gelangen, wer sich von der Umtriebigkeit städtischen Lebens zurückzieht.
Historischer Hintergrund
Sklaven, Indianer und ziviler Ungehorsam
Nachdem sie sich im Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) von der britischen Kolonialmacht befreit hatten, standen die Vereinigten Staaten von Amerika um 1850 mitten in der ersten Phase der Industrialisierung. Außenpolitisch hatte sich der junge Staat bis dahin weitgehend emanzipiert, indem er die engen Verflechtungen zum Mutterkontinent Europa gelöst hatte. Die von Präsident James Monroe aufgestellte Monroe-Doktrin (1823) legte fest, dass sich Europa aus amerikanischen Angelegenheiten heraushalten sollte, umgekehrt sollten sich die Amerikaner nicht in europäische Belange einmischen.
Auf dem eigenen Kontinent verhielten sich die USA allerdings alles andere als passiv. Davon zeugt der Krieg gegen Mexiko (1846–1848): Durch den Sieg gegen die Mexikaner konnten die USA ihr Territorium in südwestlicher Richtung ausdehnen. Texas, New Mexico und Kalifornien kamen hinzu. Diese Aggression beeinflusste unter anderem Thoreaus Entscheidung, keine Steuern zu zahlen, denn sie finanzierten seiner Meinung nach diesen Krieg. Ebenfalls offensiv war die Innenpolitik der USA, vor allem was das Vorgehen gegen die indianischen Ureinwohner betraf. Ausgehend vom „Indian Removal Act“ wurden Landnahme und Besiedlung immer öfter gewaltsam durchgesetzt, die Indianer größtenteils in Reservate abgeschoben. Noch brisanter als die Indianer- war im Amerika des mittleren 19. Jahrhunderts die Sklavenfrage. Sie spaltete die Nation in den zunehmend industrialisierten Norden und einen Süden, der ganze Heere von Sklaven auf seinen Baumwollplantagen beschäftigte. Der Nord-Süd-Konflikt spitzte sich in der Folgezeit zu und gipfelte im blutigen Sezessionskrieg (Bürgerkrieg) von 1861–1865.
Entstehung
Thoreaus „Walden-Experiment“ begann am 4. Juli 1845 – am Jubiläumstag der amerikanischen Unabhängigkeit. Er zog in ein kleines, selbst gebautes Haus auf einem Grundstück, das seinem Freund und Mentor, dem Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, gehörte und unmittelbar am Waldenteich lag. Die Hütte befand sich nicht etwa in der Wildnis, sondern in der Nähe des Stadtrandes von Concord, etwa zweieinhalb Kilometer von Thoreaus Geburtshaus entfernt. Während Thoreaus Aufenthalt im Wald entstanden neben Walden auch erste Entwürfe von Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat; diese Schrift hatte ihren Ursprung in Thoreaus Weigerung, Steuern zu bezahlen, wegen der er sogar eine Nacht im Gefängnis verbringen musste. Mit dem Ziel, seinen Geist zu befreien und sich mit der Natur auszusöhnen, führte Thoreau ein Leben ohne jeglichen Luxus. In seinen Tagebüchern, die er mit großer Leidenschaft und Akribie führte, sammelte er Naturbeobachtungen und -impressionen, die er mit Einsichten in sein eigenes Wesen und philosophischen Betrachtungen verknüpfte.
Nach einem Aufenthalt von genau zwei Jahren, zwei Monaten und zwei Tagen verließ Thoreau den Waldenteich am 6. September 1847. Die folgenden Jahre verbrachte er mit der Überarbeitung seiner Aufzeichnungen, indem er Auszüge seiner Tagebücher zu Essays verarbeitete. Schließlich veröffentlichte er im Jahr 1854 das Ergebnis unter dem Titel Walden oder das Leben in den Wäldern. In der finalen Version zog er die Dauer seines Aufenthalts zu einem Zeitraum eines Jahres zusammen – nicht zuletzt in der Absicht, die Symbolik der vier Jahreszeiten zu nutzen.
Wirkungsgeschichte
Der Einfluss von Walden auf die Kultur und die Philosophie, aber auch auf die Politik des amerikanischen Kontinents ist von immenser, kaum zu überschätzender Bedeutung. Da es sich um ein genreübergreifendes, gleichermaßen literarisches wie philosophisches, naturkundliches und politisches Werk handelt, lässt sich sein Wirken in entsprechend vielen Lebensbereichen feststellen. Während Thoreaus freiheitliche, antiautoritäre Äußerungen vor allem von linksgerichteten Politikern, Pazifisten und Menschenrechtsaktivisten aufgenommen wurden, inspirierten die emphatischen Naturbeschreibungen von Walden die „Zurück zur Natur“-Mode des 19. und die Naturschutzbewegung des 20. Jahrhunderts. Die Liste Prominenter aus Kultur und Politik, die sich auf Thoreau und sein Werk beziehen, ist lang. Mahatma Gandhi las Walden bereits in jüngeren Jahren und bekannte einem amerikanischen Reporter gegenüber, dass ihn das Studium dieses Buchs enorm beeinflusst habe. Auch John F. Kennedy, Martin Luther King und die amerikanische Feministin Emma Goldman, die Thoreau als einen „der größten amerikanischen Anarchisten“ feierte, fühlten sich ihm gedanklich verwandt. Nicht weniger beeindruckend ist Thoreaus Einfluss auf literarischem Gebiet: Zu seinen berühmtesten Bewunderern zählen hier Leo Tolstoi, Marcel Proust, William Butler Yeats, Ernest Hemingway und der amerikanische Naturalist John Burroughs, der ebenfalls im Wald lebte und schrieb. Bis heute ist Thoreau in den Vereinigten Staaten omnipräsent. So ist etwa der Filmklassiker Der Club der toten Dichter (Peter Weir, 1989) von Thoreau-Zitaten durchsetzt.
Über den Autor
Henry David Thoreau wird am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren. Er studiert von 1833 bis 1837 an der Harvard University und fällt bereits während dieser Zeit durch seine Sparsamkeit auf. So lehnt er es angeblich ab, die Gebühren von 5 Dollar für den Erhalt seines Diploms zu bezahlen. Nach dem Studium gründet er mit seinem Bruder John in seiner Heimatstadt eine Schule, zu deren Lehrplan so progressive Fächer wie „Spaziergänge durch die Natur“ und „Besuche der heimischen Unternehmen“ gehören. Die Schule muss schließen, als John an Tuberkulose erkrankt, woran er bald darauf stirbt. 1841 lernt Thoreau den Schriftsteller Ralph Waldo Emerson kennen. Die beiden freunden sich an und Emerson führt Thoreau in einen Kreis von Autoren und Philosophen ein, dem u. a. Margaret Fuller und Nathaniel Hawthorne angehören. Zwischen 1841 und 1844 arbeitet Thoreau bei Emerson als Hauslehrer. In einem Experiment, das er „Einfaches Leben“ nennt, bewohnt Thoreau zwischen 1845 und 1847 eine einsame Hütte am Ufer des Waldsees Walden Pond. In dieser Zeit erhält er Besuch vom Steuereintreiber. Aus der Weigerung, Steuern zu zahlen, in Verbindung mit einer im Gefängnis verbrachten Nacht, geht der Essay The Resistance to Civil Government (Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat) hervor, der unter dem späteren Titel Civil Disobedience zum Klassiker des zivilen Ungehorsams avanciert und später Mahatma Gandhi und Martin Luther King beeinflussen wird. 1854 publiziert Thoreau Walden; or, Life in the Woods (Walden oder Leben in den Wäldern). Bereits in dieser Zeit ist er von abenteuerlichen Expeditionen fasziniert. Ab 1849 arbeitet er als Landvermesser und macht sich detaillierte Notizen zu seinen Naturbeobachtungen. Er unternimmt Vortragsreisen und bleibt zeitlebens ein Verfechter des zivilen Ungehorsams sowie ein Gegner der Sklaverei und der Prügelstrafe an den Schulen. Thoreau, der bereits seit 1835 an Tuberkulose leidet, stirbt am 6. Mai 1862 in seiner Heimatstadt an den Folgen einer starken Bronchitis.
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