José Ortega y Gasset
Der Aufstand der Massen
DVA, 2012
¿De qué se trata?
Eine hellsichtige Prophezeiung des Totalitarismus.
- Soziologie
- Moderne
Worum es geht
Unbehagen am Massenmenschen
José Ortega y Gassets Der Aufstand der Massen ruft bis heute unterschiedliche Reaktionen hervor. Den einen gilt der Spanier als feinsinniger Philosoph, der in seiner 1929 erschienenen Schrift das Aufkommen totalitärer Regimes prophezeite. Die anderen ordnen ihn der rechten Kulturkritik in die Tradition Oswald Spenglers zu. Ein Antidemokrat aber war Ortega nicht, eher ein enttäuschter Idealist. Verbittert registrierte er den Niedergang der liberalen Demokratie in seiner Zeit: Das im 19. Jahrhundert verkündete Ideal von Freiheit und Gleichheit sei im 20. Jahrhundert zu einer reinen Selbstverständlichkeit geworden. Ob Wahlrecht oder Autos, ob technischer oder medizinischer Fortschritt: Alle Errungenschaften der Zivilisation nehme der moderne Mensch wie ein verwöhntes Kind hin, ohne sich für ihre Grundlagen oder Fortentwicklung zu interessieren – eine Kritik, die bis heute aktuell geblieben ist. In immer neuen Bildern und teilweise drastischen Formulierungen prangert Ortega Oberflächlichkeit, Konformismus und die Missachtung Andersdenkender an. Mitunter allerdings rückt seine scharfsinnige Zeitdiagnose in die Nähe von Stammtischparolen: Masse – das sind eben immer bloß die anderen.
Take-aways
- José Ortega y Gassets 1929 erschienenes Buch Der Aufstand der Massen ist ein Standardwerk der Massensoziologie.
- Inhalt: Während sich früher breite Schichten der Gesellschaft dem Urteil der politischen Eliten unterwarfen, so will die Masse inzwischen selbst herrschen. Dazu fehlen den trägen und verwöhnten Durchschnittsmenschen allerdings die Fähigkeiten. Wenn die Masse weiter an Macht und Einfluss gewinnt, wird das zivilisierte Europa zurück in die Barbarei fallen.
- Ortegas Bild des „Massenmenschen“ ist von Friedrich Nietzsches „Herdenmensch“ inspiriert.
- Das Phänomen der Masse wurde zuvor u. a. von Gustave Le Bon und Sigmund Freud behandelt.
- Viele Sätze des Werks eignen sich als politische Parolen. So griff etwa Konrad Adenauer auf Ortegas Fundus zurück.
- Anders als Oswald Spengler prophezeite Ortega nicht den Untergang des Abendlandes, er erhoffte sogar eine Stärkung Europas durch dessen Einigung.
- Ortegas Stil ist sehr lebendig, reich an Metaphern und scheut auch vor drastischen Formulierungen nicht zurück.
- Das Werk zählte im Deutschland der 50er Jahre zu den meistgelesenen ausländischen Büchern.
- In der philosophischen Fachwelt blieb Ortegas Einfluss relativ unbedeutend.
- Zitat: „Wir leben unter einer brutalen Herrschaft der Massen.“
Zusammenfassung
Masse ist nicht gleich Menge
Unsere Städte und Züge, Hotels und Gaststätten, Theater und Kinos sind mit Menschen überfüllt. Dabei hat es seit Jahren keinen Bevölkerungszuwachs gegeben. Die vielen Individuen existierten auch schon vorher, aber sie lebten unbemerkt als Einzelne oder in kleinen Gruppen. Dass sie als Masse auftreten und die besten Plätze der Gesellschaft einnehmen, ist neu. Masse ist also nicht unbedingt ein zahlenmäßiges Phänomen: Selbst ein Einzelner kann Masse sein, wenn er sich mit Durchschnitt und Mittelmaß identifiziert und keinen Drang verspürt, etwas Besonderes zu leisten.
„Es gibt eine Tatsache, die das öffentliche Leben Europas in der gegenwärtigen Stunde – sei es zum Guten, sei es zum Bösen – entscheidend bestimmt: das Heraufkommen der Massen zur vollen sozialen Macht.“ (S. 5)
Während die Masse sich früher im Hintergrund hielt und die Vorherrschaft derjenigen anerkannte, die aufgrund ihrer Fähigkeiten zur Regierung und Wahrnehmung öffentlicher Funktionen bestimmt waren, drängt sie nun in den Vordergrund der Gesellschaft. Sie besetzt Orte, benutzt Gegenstände und genießt Vergnügungen, die einst der Elite vorbehalten waren. Sie verweigert der Elite ihre Gefolgschaft und ihren Respekt. Sie drängt der Gesellschaft ihren Geschmack und ihre Wünsche auf und will ihre Stammtischweisheiten zum Gesetz machen. Dabei ist sie sich durchaus ihrer Gewöhnlichkeit bewusst, beansprucht aber dennoch Allgemeingültigkeit. Sie zerstört Persönlichkeit und Talent. Wer nicht denkt wie alle, wird ausgeschaltet. Es droht eine regelrechte Herrschaft der Massen.
Der Mythos vom Niedergang des Abendlandes
Das Unheil nahm im 18. Jahrhundert seinen Lauf, als eine elitäre Bewegung die Behauptung aufstellte, alle Menschen seien durch Geburt gleich und hätten daher die gleichen politischen Rechte, die so genannten Menschen- und Bürgerrechte. Alle anderen Rechte, die sich aus besonderen Fähigkeiten herleiteten, wurden als Privilegien verurteilt. Die Menschen begeisterten sich für dieses Ideal, in der Praxis aber machten sie von ihrem Gesetzgebungsanspruch lange keinen Gebrauch. Ihr Leben in der Demokratie glich dem unter dem alten Regime. Theoretisch war das Volk nun zwar Souverän, aber es war selbst nicht davon überzeugt. Erst in jüngster Zeit beginnt man in Europa, dieses politische Ideal in die Tat umzusetzen. Zugleich steigt der durchschnittliche Lebensstandard und nähert sich amerikanischen Verhältnissen an. Die Tendenz zur Nivellierung ist in vielen Bereichen zu beobachten: die Vermögen, die Kultur der verschiedenen Klassen, die Geschlechter und die Unterschiede zwischen den Kontinenten gleichen sich an. Die Anhebung des Lebensstandards in Europa ist aber kein Zeichen des Niedergangs, sondern zeugt vielmehr von der Vitalität des alten Kontinents.
„Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht ‚wie alle‘ ist, wer nicht ‚wie alle‘ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.“ (S. 13)
Ohnehin ist die beliebte Diagnose, wir lebten in Zeiten der Dekadenz, höchst fragwürdig. Zu Beginn der Moderne im späten 19. Jahrhundert sahen die Menschen ihre Hoffnungen auf eine bessere Zeit endlich erfüllt. Aus dieser Perspektive erscheint die Gegenwart zunächst als Phase des Niedergangs. Doch die historischen Epochen, die auf den ersten Blick einen Idealzustand erreicht haben, sind tatsächlich kraftlos, melancholisch und gesättigt, denn in ihnen werden keine Ziele mehr verfolgt. In der Gegenwart dagegen herrscht die befreiende Einsicht vor, dass nichts endgültig und alles möglich ist. Erstmals erscheinen vergangene Epochen nicht mehr als Vorbild. Selbst die Renaissance, die stets als nachahmenswert galt, wirkt aus heutiger Sicht muffig und verstaubt. Alte Normen und eine Rückbesinnung auf die Tradition sind nutzlos beim Versuch, gegenwärtige Probleme zu bewältigen. Diese Erkenntnis erzeugt Aufbruchsstimmung und ein Lebensgefühl fröhlicher Ausgelassenheit, aber auch Furcht.
Die Intensivierung des Lebens
Gegenwärtig erleben wir das rasante Zusammenwachsen von Nahem und Fernem – räumlich wie auch zeitlich. Durch Zeitungen und Film bekommen wir hautnah mit, was am anderen Ende der Welt passiert. Archäologen lenken unseren Blick auf längst vergangene Epochen und Reiche. Liberale Demokratie und technischer Fortschritt haben im letzten Jahrhundert zu einem enormen Bevölkerungswachstum geführt. Gleichzeitig erfahren wir in allen Lebensbereichen einen ungeheuren Zuwachs an Möglichkeiten. Allein schon beim Kauf eines einfachen Produkts stehen wir vor vielen Alternativen. Ob auf materiellem oder geistigem Gebiet, bei der Berufswahl oder bei Freizeitvergnügungen – der durchschnittliche Großstadtbewohner muss sich stets zwischen vielen Möglichkeiten entscheiden.
„Wir leben unter der brutalen Herrschaft der Massen.“ (S. 14)
Immer neue wissenschaftliche Entdeckungen und sportliche Rekorde zeugen von der steigenden Leistungsfähigkeit des Menschen. Das bedeutet nicht, dass das Leben heute besser ist als früher, nur schneller und intensiver. Mag man mit Blick auf die Kultur oder die Politik auch von einem Niedergang sprechen – hinsichtlich seines Selbstbewusstseins und Lebensgefühls aber strotzt unser Zeitalter nur so vor Kraft. Doch was sollen wir mit all unserem Wissen und dem technischen Fortschritt anfangen? Auch das Gefühl der Unsicherheit und Unruhe ist für diese Generation typisch.
Der Typ des Massenmenschen
In der Anfangszeit der Demokratie herrschte die Masse nicht selbst. Sie hatte sich nur zwischen verschiedenen Programmen der Eliten zu entscheiden. Heute erleben wir in Europa, vor allem in den Mittelmeerländern, den öffentlichen Triumph der Masse. Ihre Vertreter sind Produkte des 19. Jahrhunderts, das dem Durchschnittsmenschen in nie gekannter Weise Freiheit, Wohlstand und unerschütterlichen Fortschrittsglauben brachte. Er wurde in diese technisch, sozial und materiell vollkommene Welt hineingeboren und glaubt nun, alles müsse immer besser und billiger werden. Tatsächlich gleicht der Massenmensch einem verwöhnten Kind, das weder Grenzen noch Pflichten kennt. Anders als vorangegangene Generationen, die sich ihr Glück hart erarbeiten und gegen Widerstände kämpfen mussten, nimmt er die Annehmlichkeiten der Zivilisation als gegeben hin und kümmert sich nicht um ihren Erhalt.
„Eine Zeit, die ihrem Verlangen, ihrem Ideal genuggetan hat, begehrt nichts mehr; ihr ist die Quelle des Wünschens versiegt.“ (S. 28)
Im Unterschied zum edlen Menschen ist der Massenmensch träge und kennt keine höheren Normen, denen er freiwillig, aus einer inneren Notwendigkeit heraus, dient. Entgegen verbreiteten Vorurteilen beruhte Adel ursprünglich auf Leistung und Anstrengung, allein das Prinzip der Erblichkeit hat zu seiner Entartung geführt. Während der alte Adel sich seine Vorrechte erkämpfen musste, wurden dem Massenmenschen die allgemeinen Bürger- und Menschenrechte einfach in den Schoß gelegt. Er leistet nichts, ist aber selbstzufrieden und stolz. Statt bescheiden die eigene Beschränktheit zu akzeptieren, vertritt er lautstark Ideen, die nichts anderes als eine Ansammlung von Gemeinplätzen sind. Ob in Politik oder Kultur, zu allem hat er eine Meinung, ohne dass er sich auf irgendwelche höheren Normen oder Grundwahrheiten berufen könnte. Wo aber Normen fehlen, gibt es keine Kultur.
„Der Massenmensch ist der Mensch, der ohne Ziel lebt und im Winde treibt. Darum baut er nichts auf, obgleich seine Möglichkeiten und Kräfte ungeheuer sind.“ (S. 48)
Faschismus, Bolschewismus und Syndikalismus sind neue, höchst beunruhigende Phänomene der Massenherrschaft. Ihre Vertreter beanspruchen eine politische Führungsrolle, ohne jedoch fähig zu sein, sie auszuüben. Sie wollen mit allen öffentlichen Debatten Schluss machen und direkt, unter Verzicht auf alle vermittelnden Instanzen und mit Gewalt handeln. Verhandlungen und Höflichkeit, Gerechtigkeit und Vernunft, die Grundlagen der Zivilisation und des bürgerlichen Zusammenlebens, sind ihnen fremd. Sie werfen alle Prinzipien des humanen Liberalismus, der Andersdenkenden und Minderheiten Rechte einräumt, über Bord und unterdrücken die Opposition. Sie hassen alles, was nicht zu ihnen gehört. Wenn dieser Typ Massenmensch in Europa die Macht ausübt, bedeutet das einen Rückfall in die Barbarei.
Der Einbruch des Primitiven in die Zivilisation
Die modernen Menschen lieben Autos, nutzen schmerzstillende Mittel und Impfstoffe, aber wie all dies hergestellt wird, interessiert sie nicht. Die Fortschritte der Technik gründen letztlich auf einer reinen, nicht auf Nutzen bedachten Wissenschaft, die nur dort existiert, wo Menschen sich für die Kultur einsetzen. Doch den jungen Leuten sind Experimentalwissenschaften egal, wie die rückläufigen Studentenzahlen zeigen. Sie wollen nur die fertigen Produkte genießen. Dabei bietet die empirische Wissenschaft in der heutigen Zeit, da Politik, Kunst und Moral fragwürdig geworden sind, die einzige Sicherheit. Ihre Missachtung zeigt sich auch in der schlechten Bezahlung von Physikern, Chemikern und Biologen – ganz zu schweigen von den Philosophen, deren Vertreter für den Inbegriff der reinen, interesselosen Wissenschaft stehen.
„Das ist neu: das Recht darauf, nicht Recht zu haben, Grundlosigkeit als Grund.“ (S. 74)
Die Durchschnittsmenschen glauben, die künstlich erschaffene Welt, in die sie hineingeboren wurden, erhalte sich von selbst. Das Gegenteil ist der Fall: Kultur und Zivilisation bedürfen der Pflege, sonst gehen sie ein. Während aber die Probleme immer verzwickter werden, schrumpft die Zahl derjenigen, die sie lösen könnten, unablässig. Der Mensch ist dem Fortschritt seiner Zivilisation nicht mehr gewachsen. Selbst unter den Gebildeten herrscht eine unglaubliche historische Unwissenheit, sodass wir nicht mehr die Lehren aus unserer Geschichte ziehen können. Die bolschewistische Revolution von 1917 etwa wiederholte alle Fehler vorangegangener Revolutionen, weil es den Kommunisten – ebenso wie den Faschisten – an historischem Sinn mangelt.
Masse kommt in allen Schichten vor
Der Massenmensch, dieser neue Barbar, ist ein Produkt unserer Zivilisation. Um deren Erbe kümmert er sich nicht. Wie das verwöhnte Kind oder der dekadente aristokratische junge Herr liebt er Spiel und Sport, widmet sich ausgiebig der Körperpflege und der Wahl seiner Kleidung. Er verachtet Gelehrte, hält wenig von Romantik in der Liebe und ordnet sich lieber einer absoluten Macht unter, als zu diskutieren. Aber wer genau gehört zur Masse? Masse bezeichnet nicht eine Gesellschaftsklasse, etwa die Arbeiter, sondern eine Menschenart, die in allen sozialen Schichten anzutreffen ist. Gerade Gebildete und Spezialisten, Ärzte, Ingenieure und Finanziers, äußern die dümmsten Ansichten, wenn es um Politik, Kunst oder Religion geht. Sie zählen zu den wichtigsten Stützen der Massenherrschaft.
„Das Imperium Romanum liquidierte mangels Technik. (...) Aber jetzt ist es der Mensch, der scheitert, weil er mit dem Fortschritt seiner eigenen Zivilisation nicht Schritt halten kann.“ (S. 93)
Eine der großen Errungenschaften der Zivilisation ist der moderne Staat. Dass der Mensch eine Autorität braucht und dass ein Staat von einer Elite geführt werden muss, ist eine unumstößliche Wahrheit. Der Massenmensch bewundert zwar die Staatsmaschine, zugleich aber weigert er sich, anzuerkennen, dass ihre Führer besondere Qualitäten aufweisen müssen. Im Gegenteil: Er betrachtet sie als sein Eigentum und glaubt, man müsse nur einen Knopf drücken, um sie in Gang zu setzen. Kaum gibt es ein Problem, ruft er nach dem Staat. In der Bürokratisierung und Einmischung des Staates in alle Lebensbereiche liegt jedoch eine große Gefahr für unsere Gesellschaft. Unter der Herrschaft anonymer Massen zerstört der Staat die unabhängigen Individuen.
Für ein einheitliches Europa
Viel wird derzeit über den Untergang Europas und seiner Sitten und Normen geredet. Frankreich, England und Deutschland, die europäischen Kernländer, haben die Welt, wie sie heute ist, geformt. Sollten sie sich wirklich im Niedergang befinden, sollten die sittlichen, politischen und rechtlichen Maßstäbe, die sie gesetzt haben, tatsächlich an Bedeutung verlieren, würde die Welt im Chaos versinken. Amerika und Russland haben keine neuen Ideen, und auch sie sind letztlich europäisch geprägt. Vielleicht ist die gegenwärtige, vor allem wirtschaftliche Krise Europas – eine von vielen in seiner Geschichte – ja sogar heilsam. Vielleicht ist der Verfall der einzelnen europäischen Nationen und Kleinstaaten nötig, damit die Vereinigten Staaten von Europa daraus hervorgehen können. Denn die innereuropäischen Grenzen beschränken die wirtschaftliche, aber auch die intellektuelle und politische Kraft des alten Kontinents und beschneiden seine Möglichkeiten. Die Geschichte zeigt: Nationalstaaten beruhen weder auf Bluts- oder Sprachverwandtschaft noch auf gemeinsamer Vergangenheit.
„Dies ist das Zeitalter der Strömungen und des Mitgerissenseins. Es ist so gut wie niemand da, der den oberflächlichen Wirbeln, die sich in Kunst, Wissenschaft, Politik, gesellschaftlichen Sitten bilden, Widerstand entgegensetzte.“ (S. 110)
Statt weiter einem provinziellen Nationalismus nachzuhängen, müssen die Europäer sich endlich auf ihre Gemeinsamkeiten besinnen. Es fehlt vor allem an einem gesamteuropäischen Programm und an Zukunftsvisionen. Jeder Mensch braucht eine Aufgabe, der er sich mit Hingabe widmet. Ohne diesen äußeren Druck verliert er sich in sich selbst, sein Leben wird leer und zwecklos. Ebenso ergeht es den Völkern. Wenn Europa seinen globalen Führungsanspruch aufgibt und nur noch für sich selbst existiert, wird das zu einer allgemeinen Lockerung der Moral und schließlich zum Niedergang der ganzen Welt führen. Wissenschaft, Kunst und Technik, die nur unter strenger Führung gedeihen, werden verkümmern. Ein falscher, oberflächlicher Lebens- und Politikstil wird sich durchsetzen. Die Gefahr, dass ein erschlafftes Europa vom russischen Kommunismus angesteckt würde, ist groß. Nur ein mächtiger europäischer Nationalstaat kann das Abendland vor dem Untergang bewahren.
Zum Text
Aufbau und Stil
José Ortega y Gassets Buch Der Aufstand der Massen ist in 15 etwa gleich lange Abschnitte unterteilt, die thematisch nicht streng voneinander abgegrenzt sind. Stilistisch verfügt der Autor über eine große Variationsbreite. Mal analysiert er nüchtern und sachlich die seinerzeitige politische Lage Spaniens und Italiens, mal legt er in geradezu poetischer Weise sein Geschichtsbild dar, dann wieder entrüstet er sich in polemischem Tonfall über ganz Alltägliches wie etwa die Sport- und Autobegeisterung seiner Zeitgenossen. Seine Sprache ist reich an Analogien und Metaphern, die bevorzugt aus dem Bereich der Technik und der Naturwissenschaften, besonders der Biologie, stammen. Zwar wiederholt Ortega unablässig seine Hauptthese von der Herrschaft des Massenmenschen, doch vermeidet er Eintönigkeit, indem er immer wieder neue prägnante und teilweise witzige Formulierungen und Bilder findet. Viele seiner Sätze würden sich gut als politische Kampfparolen eignen. Der Autor scheut auch nicht vor Schlagworten und drastischen Vergleichen zurück, etwa wenn er die Durchschnittsmenschen mit Insekten gleichsetzt, die es auszuräuchern gelte, oder wenn er von der „geistigen Plebs“ spricht.
Interpretationsansätze
- Der Aufstand der Massen beschränkt sich überwiegend auf eine Zeitdiagnose. Ein Mittel gegen die Herrschaft der Massen, die Ortega allein schon in den Forderungen von Faschisten und Kommunisten nach direkter Aktion verwirklicht sieht, bietet er nicht.
- Trotz seiner Hochschätzung der historischen Leistungen des Adels verlangt Ortega keineswegs eine Rückkehr zur Aristokratie. Sein politisches Ideal ist die liberale Demokratie des 19. Jahrhunderts, in der die Staatsmacht sich selbst begrenzt und politischen Minderheiten Schutz und Raum gewährt.
- Ein wahrer Demokrat war Ortega dennoch nicht, ebenso wenig wie ein waschechter Antidemokrat. Sein Demokratieverständnis knüpft sich an die Voraussetzung, dass nicht die Massen selbst den Staat lenken, sondern dass sie Entscheidungen der Elite gutheißen.
- Die Klage über die Oberflächlichkeit der Masse und ihren Mangel an Urteilsfähigkeit ist ein verbreiteter Topos konservativen Denkens, von Alexis de Tocqueville über Gustave Le Bon bis zu Oswald Spengler. Dessen Überzeugung vom Untergang des Abendlandes teilte Ortega indes nicht. Vielmehr betonte er die Vitalität Europas, wenn es auch allgemeine Ignoranz und Mangel an historischem Bewusstsein zu überwinden hatte.
- Ortegas Kritik der Masse ist deutlich von Friedrich Nietzsches Auffassung vom faulen und dummen Pöbel inspiriert, der nur seinem Herdeninstinkt folge, die Ausnahmemenschen tyrannisiere und anfällig für Phrasen und Parolen sei.
- Seine Lebensphilosophie, die er unter dem Einfluss Martin Heideggers und Friedrich Wilhelm Diltheys entwickelte, fasste Ortega einmal in dem berühmt gewordenen Satz „Ich bin ich und meine Umstände“ zusammen. Die Persönlichkeit ist nur ein Teil des Ichs. Den anderen Teil bilden die Umstände, die von den Vorfahren geprägte faktische Welt, in die man geboren wird.
- Ortega war Anhänger einer idealistischen Ästhetik, wonach Kunst – ebenso wie Philosophie – zweckfrei und losgelöst von praktischen Alltagsdingen sein muss. Die seiner Ansicht nach oberflächlichen Surrealisten, Dadaisten und Futuristen zählte er nicht zur künstlerischen Avantgarde, sondern wertete sie als typisches Produkt der Masse.
Historischer Hintergrund
Krisenstimmung und das Phänomen der Masse
Bereits im späten 19. Jahrhundert führten medizinischer Fortschritt und eine verbesserte Hygiene in Westeuropa zu einem allgemeinen Anstieg der Lebenserwartung und einem dramatischen Bevölkerungswachstum. Rund um die industrialisierten Großstädte, die auf die verarmte Landbevölkerung eine ungeheure Sogwirkung hatten, entstanden Arbeitersiedlungen, die bald aus allen Nähten platzten. Die Proletarier wurden vom alteingesessenen städtischen Bürgertum oftmals als anonyme, bedrohliche Masse wahrgenommen. „Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein“, schrieb etwa der französische Sozialwissenschaftler Gustave Le Bon in seiner 1895 erschienenen, einflussreichen Psychologie der Massen. Auch Sigmund Freud beschäftigte sich mit dem Phänomen der Masse, die er als impulsiv, irrational und ausschließlich vom Unbewussten geleitet beschrieb.
Im frühen 20. Jahrhundert gewannen breitere Bevölkerungsschichten auch politisch an Gewicht. Das 1918 in vielen Ländern eingeführte allgemeine und gleiche Wahlrecht bedeutete faktisch die endgültige Abschaffung des abgestuften Stimmrechts, mit dem das Besitz- und Bildungsbürgertum automatisch die Mehrheit behalten hatte. Angesichts dieser wachsenden gesellschaftlichen und öffentlichen Präsenz der unteren Schichten machte sich unter vielen Intellektuellen eine kulturkritische Haltung breit, geprägt von Fatalismus und Geschichtspessimismus. Oswald Spenglers unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erschienenes Werk Der Untergang des Abendlandes, das jeden Fortschritt in der Geschichte negierte und die Dekadenz der westlichen Zivilisation beklagte, spiegelte ein weit verbreitetes Lebensgefühl jener Jahre wieder: Der Titel des Buches wurde zu einem Schlagwort der Zeit.
Den demokratischen Bestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg war in vielen Ländern indes keine lange Dauer beschieden. Mit dem Militärputsch von 1923 führte General Miguel Primo de Rivera Spanien mit Unterstützung von König Alfons dem XIII. in eine Militärdiktatur. In Italien bauten die Faschisten unter Benito Mussolini ab Mitte der 20er Jahre ihre Einparteiherrschaft konsequent aus, und auch in Deutschland gewannen die Nationalsozialisten zunehmend an Bedeutung. Die weltweite Wirtschaftskrise von 1929, die zu einer rasenden Inflation und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führte, ließ das Vertrauen der Bürger in die jungen europäischen Demokratien schwinden und leistete totalitären Tendenzen weiter Vorschub.
Das allgemeine Krisengefühl wurde durch außenpolitische Faktoren noch verstärkt. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren in Europa Zweifel an der Zukunft der eigenen globalen Vormachtstellung verbreitet. Die Zeit der europäischen Hegemonie und Kolonialherrschaft ging sichtbar ihrem Ende entgegen. Spanien hatte im späten 19. Jahrhundert bereits die Philippinischen Inseln und Puerto Rico an die USA verloren, Kuba in eine faktisch von den USA kontrollierte Unabhängigkeit entlassen und damit endgültig seine Stellung als einstige Weltmacht eingebüßt. Deutschland musste dem Versailler Friedensvertrag zufolge alle seine Kolonien in Afrika an die Briten und Franzosen abtreten. Obgleich selbst Kolonialmacht, befürwortete die amerikanische Regierung unter Präsident Woodrow Wilson 1918 ausdrücklich die Freiheitsbestrebungen der Kolonialvölker. Auch der 1919 gegründete Völkerbund verpflichtete die Kolonialmächte, die als unselbstständig geltenden kolonisierten Völker nach und nach in die Unabhängigkeit zu geleiten.
Entstehung
Seit seinem Studienaufenthalt in Deutschland, das er stets als Inbegriff der Modernität sah, beschäftigte sich Ortega intensiv mit deutscher Philosophie und Politik. Mit großem Interesse beobachtete er die Entwicklung der Weimarer Republik, in der sich das politische Gewicht ab den späten 20er Jahren von Parteien und Parlament immer stärker auf den Reichspräsidenten verlagerte. In der zweiten Hälfte des Jahres 1928 hielt sich Ortega in Argentinien auf, wo er mit der Niederschrift von Der Aufstand der Massen begann. Nach seiner Rückkehr aus Buenos Aires begann er im Oktober 1929, die ersten Essays daraus in der Zeitung El Sol zu veröffentlichen. Im November 1930 erschien der Text in Buchform.
Wirkungsgeschichte
Mit seinem Aufstand der Massen erreichte José Ortega Berühmtheit über die Grenzen seiner spanischen Heimat hinaus. Sein Werk erregte viel Aufsehen und war bald in zehn Sprachen übersetzt, u. a. 1931 ins Deutsche. Trotz der frühen Übersetzung erreichte das Buch in Deutschland aber erst in den 50er Jahren den Höhepunkt seiner Rezeption. Die 1956 erschienene Taschenbuchausgabe verkaufte sich schon im ersten Jahr fast 100 000 Mal. Ortega zählte nach dem Krieg wohl zu den meistgelesenen und meistzitierten ausländischen Autoren in Deutschland. Hermann Hesse empfahl das Buch in einer Rezension, und Konrad Adenauer übernahm in seinen Reden Wendungen daraus. In der philosophischen Fachwelt blieb Ortegas Einfluss jedoch relativ unbedeutend.
Über den Autor
José Ortega y Gasset wird am 9. Mai 1883 in Madrid als Sohn eines Journalisten und als Enkel eines Zeitungsverlegers geboren. Er besucht ein Jesuitengymnasium in Málaga und studiert anschließend Philosophie in Bilbao und Madrid. Nach seiner Promotion 1905 zieht er nach Deutschland, wo er in Berlin, Leipzig und Marburg studiert und mit dem Neukantianismus in Berührung kommt. Zurück in Spanien heiratet er 1910 Rosa Spottorno, mit der er drei Kinder haben wird. Im selben Jahr erhält er einen Lehrstuhl für Metaphysik an der Universität Madrid, der schon bald zu einem intellektuellen Zentrum des Landes avanciert. Durch sein Buch Meditaciones del Quijote (1914) wird Ortega auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Zugleich engagiert er sich politisch und ist journalistisch tätig. Er schreibt für die Zeitung El Sol und gründet zwei Zeitschriften, España und Revista de Occidente. Letztere verbreitet Übersetzungen der Werke von Gegenwartsphilosophen. Aufgrund politischer Differenzen mit General Miguel Primo de Rivera, der 1923 eine Militärdiktatur in Spanien errichtet, gibt Ortega seine Lehrtätigkeit an der Universität auf, führt seine Vorlesungen aber in Theatern der Stadt weiter. 1929 schreibt er sein bekanntestes Werk, La rebelión de las masas (Der Aufstand der Massen). 1931 wird er in die verfassunggebende Versammlung der neu gegründeten Zweiten Spanischen Republik gewählt, doch schon zwei Jahre darauf zieht er sich resigniert aus der Politik zurück. Mit Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs 1936 verlässt er freiwillig das Land und verbringt die nächsten Jahre in Holland, Frankreich und Argentinien. Erst 1943 kehrt er aus dem Exil zunächst nach Portugal, 1945 dann in seine spanische Heimat zurück. Das repressive Klima unter dem Franco-Regime, das ihm nur erlaubt, sich mit „kulturellen“ Dingen zu beschäftigen, bereitet ihm Schwierigkeiten und er bringt nur noch wenig zu Papier. José Ortega y Gasset stirbt am 18. Oktober 1955 in Madrid.
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