James Joyce
Ein Porträt des Künstlers als junger Mann
Suhrkamp, 1973
¿De qué se trata?
Auf dem Weg zur großen Kunst: Bereits in seinem Debütroman zeigt James Joyce die Meisterschaft seiner späteren Werke.
- Bildungsroman
- Moderne
Worum es geht
Der Wille zur großen Kunst
Einen Roman über ihre Jugendzeit haben viele Schriftsteller geschrieben, aber kaum einer ging so kompromisslos zu Werke wie James Joyce mit seinem Porträt des Künstlers als junger Mann. Mit geradezu seismografischer Genauigkeit verfolgt der Autor die Entwicklung seines literarischen Alter Egos Stephen Dedalus vom naiven Kleinkind hin zum selbstbewussten Künstler. Der Name der Figur erinnert nicht zufällig an den Dädalus der griechischen Mythologie, der mit selbst gebauten Flügeln seinem Gefängnis entkommt. Auch Stephen muss sich befreien: Er überwindet die Grenzen seiner Erziehung im katholischen Irland und macht weder vor Nuttenbesuchen Halt noch vor philosophischen Debatten. Joyce legte mit dem Porträt seinen ersten Roman vor und ließ bereits durchblicken, was später folgen sollte: Der Text war bei seiner Veröffentlichung 1914/15 stilistisch ausgesprochen fortschrittlich. Mit jeder Seite (und mit Stephens Entwicklung) wird er anspruchsvoller. Hohe Kunst, die vor Leben trieft – typisch Joyce.
Take-aways
- Ein Porträt des Künstlers als junger Mann ist James Joyce’ erster Roman und ein Meilenstein der literarischen Moderne.
- Beschrieben wird die emotionale und geistige Entwicklung der Hauptfigur auf dem Weg zu einer unabhängigen Künstlerpersönlichkeit.
- Inhalt: Stephen Dedalus wird streng katholisch erzogen. Die Priester in den irischen Internaten greifen zum Rohrstock, und ihre düsteren Beschreibungen der Hölle verstören den sensiblen Knaben. Seinen Freiheitswillen können Sie jedoch nicht unterdrücken: Stephen verlässt die Kirche, die Universität, seine Eltern und schließlich auch Irland, um sich selbst zu verwirklichen.
- Das Geschehen wird radikal aus Sicht des Protagonisten geschildert.
- Joyce experimentiert im Porträt erstmals mit der Technik des Bewusstseinsstroms (Stream of Consciousness), die er später in Ulysses perfektioniert.
- Das Werk trägt stark autobiografische Züge: Der Werdegang der Hauptfigur deckt sich über weite Strecken mit Joyce’ eigenen Erfahrungen.
- Der Roman entstand aus der Überarbeitung einer fragmentarischen Erzählung mit dem Titel Stephen der Held.
- Joyce etablierte sich mit dem Roman als eine der fortschrittlichsten literarischen Stimmen seiner Zeit.
- Nicht zu Unrecht gilt er als anspruchsvoller Autor: Der Roman ist wegen seiner stilistischen Kompromisslosigkeit und intellektuellen Tiefe nicht leicht zu lesen.
- Zitat: „Willkommen, Leben! Als Millionster zieh ich aus, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu finden und in der Schmiede meiner Seele das ungeschaffne Gewissen meines Volkes zu schmieden.“
Zusammenfassung
Ins kalte Wasser geworfen
Von seinem Vater bekommt Stephen Dedalus eine Geschichte erzählt, die von einer „Muhkuh“ und einem Knaben namens „Tuckuck“ handelt. Seine Mutter spielt Klavier, und Stephen tanzt dazu. Wenn er groß ist, möchte er das Nachbarsmädchen Eileen heiraten. Einmal versteckt er sich unter dem Tisch und seine Mutter verlangt, dass er sich für etwas entschuldigt; das Kindermädchen Dante droht, ein Adler werde ihm die Augen aushacken.
„Es war einmal vor langer Zeit und das war eine sehr gute Zeit da war eine Muhkuh die kam die Straße heruntergegangen und diese Muhkuh die da die Straße heruntergegangen kam die traf einen sönen tleinen Tnaben und der hieß Tuckuck-Baby ...“ (S. 7)
Jahre später besucht Stephen die Elementarklasse des Clongowes Wood College. Die anderen Jungen spielen Rugby, er steht unbeteiligt am Rand. Von seinem Mitschüler Wells ist er am Vortag in den Abtrittgraben gestoßen worden. Den Gedanken an das kalte und schleimige Wasser wird er nicht los. Im Unterricht bestimmt ihn Pater Arnall als Kandidaten für einen Mathematikwettkampf. Er kommt nicht auf das richtige Ergebnis, weshalb seine Mannschaft verliert. Stephen muss an das Weltall denken, an das Nichts, das ihn umgibt, und an Gott, der in verschiedenen Sprachen verschiedene Namen hat und doch immer derselbe Gott ist. Am nächsten Morgen ist er fiebrig, er hat sich im Abtrittgraben erkältet. Einen Tag lang muss er nicht zum Unterricht und kommt ins Infirmarium. Obwohl er von dem netten Bruder Michael umsorgt wird, sehnt er sich nach seinem Zuhause und stellt sich vor, dass er an der Erkältung sterben wird. Bruder Michael verkündet tatsächlich einen Tod – allerdings den des irischen Patrioten Parnell.
Stephen, der Held
Am Weihnachtsabend kommt es im Familienkreis zu einem heftigen Streit um Parnell. Der politische Führer hatte Ehebruch begangen und war daraufhin von der katholischen Kirche verurteilt worden. Stephens Vater und dessen Freund John Casey sind der Meinung, die Kirche solle sich aus politischen Angelegenheiten raushalten. Dante dagegen hält das für Ketzerei: Die Kirche sei wichtiger als alle weltlichen Dinge. John Casey meint, unter diesen Umständen solle sich ganz Irland von Gott lossagen, worauf Dante wutentbrannt den Esstisch verlässt. Die Trauer um Parnell treibt dem Vater und John Casey Tränen in die Augen.
„Dann keinen Gott für Irland!, schrie er. Wir haben zu viel Gott in Irland gehabt. Hinweg mit Gott!“ (John Casey, S. 42)
Im Internat sind zwei Jungen vom Schulgelände geflüchtet, um einer Strafe zu entgehen. Wells behauptet, die beiden hätten Messwein aus der Sakristei gestohlen. Ein anderer Junge weiß zu berichten, dass die Flüchtlinge auf dem Klo beim „Fummeln“ erwischt worden seien. Stephens Klassenkamerad Flemming befürchtet, dass sie alle wegen des Fehltritts bestraft werden könnten. Diese Angst bestätigt sich im Lateinunterricht: Pater Dolan schlägt zunächst Flemming, weil dieser eine Frage nicht beantworten kann. Dann wird auch Stephen gezüchtigt, als er sich nicht an einer Schreibaufgabe beteiligt. Zu Unrecht, denn er hat seine Brille zerbrochen und ist offiziell vom Schreiben befreit worden. Also nimmt er allen Mut zusammen und geht zum Rektor, um sich zu beschweren. Dieser gibt ihm Recht und erklärt, dass Pater Dolan sich geirrt habe und ihn nicht wieder schlagen dürfe. Als Stephen seinen Schulkameraden erzählt, dass er sich über Dolan beschwert hat, wird er als Held gefeiert.
Ein erstes Gedicht
Den Sommer verbringt Stephen im Haus der Familie in Blackrock. Zusammen mit seinem Onkel Charles unternimmt er ausgiebige Spaziergänge. Im Park wird er von einem Freund seines Vaters im Laufen trainiert; er glaubt aber nicht daran, dass er es in diesem Sport einmal weit bringen wird. An den Abenden liest er Der Graf von Monte Christo und stellt sich vor, er selbst wäre der Held und unglücklich verliebt. Seine Ausflüge in die Fantasiewelt lassen Stephen erkennen, dass er anders ist als andere Kinder. Er hofft, dass er eines Tages, in einem magischen Moment, seine Traumwelt mit der Wirklichkeit wird vereinen können.
„Die Stunde, da auch er am Leben jener Welt teilhaben würde, schien näher zu rücken, und im Geheimen begann er sich für die große Rolle zu bereiten, die er seiner harren fühlte, deren Natur er aber nur undeutlich erfasste.“ (über Stephen, S. 67)
Da sein Vater in finanzielle Schwierigkeiten gerät, muss die Familie nach Dublin ziehen. Stephen wird zu einem Kinderfest eingeladen, zieht sich dort aber freudlos zurück. Lediglich das Mädchen Emma interessiert ihn. Die beiden fahren zusammen in der Trambahn nach Hause, und Stephen hätte Gelegenheit, Emma zu küssen. Stattdessen aber schreibt er später, wieder allein, ein trauriges Gedicht über die Begegnung. Den Stil guckt er Lord Byron ab. Am Ende der Ferien erfährt Stephen von seinem Vater, dass er auf eine neue Schule gehen wird.
Einsam unter vielen
Stephen ist zum Teenager herangewachsen und besucht das jesuitische Belvedere-College. Eines Abends wird ein Theaterstück aufgeführt, in dem er die Hauptrolle spielt. Bevor er sich schminken lässt, spaziert er ins Freie, wo er auf seinen Schulfreund Heron und dessen dandyhaften Begleiter Wallis trifft. Die beiden ziehen ihn auf, weil sie Stephens Vater auf dem Weg zum Theater gesehen haben, in Begleitung eines Mädchens, das nach Stephen gefragt hat. Heron schlägt ihn scherzhaft mit einer Gerte; er soll gestehen, dass das Mädchen seine Liebste sei. Stephen erinnert sich, dass er schon einmal von Heron geschlagen wurde: Damals ging es darum, ob sein geliebter Lord Byron der beste Dichter sei oder nicht. Die Theateraufführung ist ein voller Erfolg, aber trotzdem kann Stephen den Abend nicht genießen. Er rennt in die Stadt, um den Duft der Kloake einzuatmen und sich zu beruhigen.
„Der Lärm von Kindern beim Spiel ärgerte ihn und ihre törichten Stimmen gaben ihm das Gefühl, stärker noch als er es in Clongowes gehabt hatte, dass er von anderen verschieden war. Er wollte nicht spielen. Er wollte in der wirklichen Welt dem unstofflichen Bild begegnen, das seine Seele so beständig erschaute.“ (über Stephen, S. 70)
Mit seinem Vater unternimmt Stephen einen Ausflug in dessen Heimatstadt Cork. Schon auf der Zugfahrt ist er gelangweilt von den sentimentalen Erinnerungen seines alten Herrn. Die beiden besuchen Mr. Dedalus’ ehemaliges College. Im Anatomiesaal liest Stephen das Wort „Foetus“, das in ein Pult eingeritzt ist. Die Erzählungen seines Vaters haben nichts bewirkt, dieses einzelne Wort aber lässt den früheren Seminarbetrieb bildhaft vor ihm auferstehen. Anschließend muss Stephen mit dem Vater von Bar zu Bar ziehen und zusehen, wie er sich mit alten Freunden betrinkt. Er fühlt keinerlei Gemeinsamkeit mit ihm.
„Das ist Pferdepisse und verfaultes Stroh, dachte er. Den Geruch zu atmen tut gut. Das wird mein Herz beruhigen. Mein Herz ist ganz ruhig. Ich kehre um.“ (über Stephen, S. 94)
Stephen gewinnt einen Preis für einen Aufsatz, verprasst das Geld jedoch schnell. Er wandert einsam durch die Straßen Dublins und geht schließlich mit einer Prostituierten mit, von der er sich widerstrebend verführen lässt.
Durch die Hölle
Stephen sitzt im Mathematikunterricht und träumt von den Huren, die er am Abend besuchen will. Als der Schulrektor vom heiligen Franz Xaver zu sprechen beginnt, bekommt er ein schlechtes Gewissen: Im Gegensatz zum Schulpatron benimmt Stephen sich in letzter Zeit ganz und gar nicht gottesfürchtig. Von Pater Arnall, den Stephen noch von seiner früheren Schule her kennt, werden die Jungen auf ihre Exerzitien vorbereitet. Der Geistliche unterrichtet sie über die vier letzten Dinge: Tod, Gericht, Hölle und Himmel. Stephen erinnert sich an die zwielichtigen Vergnügungen, denen er sich hingegeben hat, und ist überzeugt, dass die Hölle sein Schicksal ist. Er denkt an seinen Schwarm Emma und stellt sich vor, wie er ihre Hand halten und an ihrer Seite die Vergebung Gottes erfahren könnte.
„Das Messer des Predigers war tief in sein sieches Gewissen gedrungen und er spürte jetzt, dass seine Seele in Sünde schwärte.“ (über Stephen, S. 127)
Am nächsten Tag beschreibt Pater Arnall in gnadenloser Ausführlichkeit die Qualen der Hölle: wie stark die Schmerzen, wie unerträglich der Geruch und wie unvorstellbar die Ewigkeit der Verdammnis ist. Nach dem Vortrag ist Stephen am Boden zerstört. Er geht auf sein Zimmer und rechnet damit, dass Gott ihn auf der Stelle tot umfallen und in die Hölle fahren lassen wird. Er legt sich auf sein Bett, schließt die Augen und hat fürchterliche Teufelsvisionen. Am Abend irrt er durch die Straßen, findet schließlich eine kleine Kapelle und beichtet bei einem alten Priester. Dieser ist milde und leitet ihn an, zu bereuen und Buße zu tun. Stephen ist zutiefst erleichtert und nimmt sich vor, in Zukunft fromm zu leben. Tags drauf empfängt er mit den anderen Schülern die heilige Kommunion.
Religion und Kunst
Stephen lebt nun das Leben eines Büßers. Er betet mehrmals täglich und trägt immer einen Rosenkranz in der Hosentasche. Seine Sinne unterzieht er einer strengen Disziplin: Er wendet den Blick ab, sobald er einer Frau begegnet; er setzt sich bewusst unangenehmen Geräuschen und Gerüchen aus; er liegt nachts im Bett unbequem, um sein Körpergefühl abzutöten. Trotzdem ist er sich nicht sicher, ob seine Sünden nun für alle Zeit hinter ihm liegen. Nach den Ferien wird Stephen vom Schulrektor gefragt, ob er jemals die Berufung zum Priesteramt verspürt habe. Stephen fühlt sich geehrt und stellt sich vor, wie er als Priester von allen respektiert würde. Dann allerdings denkt er an das streng geregelte Leben, das ihn im Kirchendienst erwarten würde, und er spürt einen deutlichen Widerwillen. Auf dem Nachhauseweg kommt er an einem Marienschrein vorbei und empfindet nichts.
„Das war seine Hölle. Gott hatte ihn die Hölle schauen lassen, die seinen Sünden vorbestimmt war: stinkend, bestialisch, hämisch, eine Hölle geiler ziegenartiger Erzfeinde. Für ihn! Für ihn!“ (über Stephen, S. 154)
Stephens Vater erkundigt sich, ob sein Sohn zur Universität zugelassen wird. Da Stephen das Ergebnis nicht abwarten mag, läuft er zum Meer hinunter. Die Mutter, die sehr religiös ist, will nicht, dass er studiert. Als Stephen die Zusage hat, ist er euphorisch, weil er das Korsett der religiösen Erziehung endlich abgelegt glaubt. Er kommt an ein paar Klassenkameraden vorbei, die im Wasser herumtollen und seinen Namen rufen. Stephen denkt daraufhin an Dädalus aus der griechischen Mythologie, der sich Flügel gebaut hat und in die Freiheit geflogen ist. Dasselbe will er auch erreichen: Er will schreiben, will etwas schaffen, das Bestand hat für die Ewigkeit. Am Wasser sieht Stephen ein Mädchen. Die beiden haben Blickkontakt, und sie kommt ihm vor wie ein Engel.
Unabhängigkeit als Student
Die finanzielle Lage der Familie Dedalus verschlechtert sich. Auf dem Frühstückstisch steht eine Schachtel voller Pfandscheine. Die Mutter ist der Meinung, dass Stephen sich an der Universität zu seinen Ungunsten entwickelt. Der Vater schimpft ihn eine „faule Sau“. Als Stephen das Haus verlässt, ist er zu spät für seinen Englischkurs, was ihn aber nicht sonderlich stört. Auf dem Korridor trifft er auf den Schuldekan, der gerade ein Feuer im Kamin entzündet. Die beiden führen ein Gespräch über die Kunst des Feuermachens. Stephen benutzt das Wort „Seiger“ für „Trichter“, das der aus England stammende Dekan nicht versteht. Resigniert stellt er fest, dass für ihn als Iren das Englische immer nur eine angelernte Sprache sein wird.
„Ein wilder Engel war ihm erschienen, der Engel sterblicher Jugend und Schönheit, ein Gesandter von den lieblichen Residenzen des Lebens, um vor ihm in einem Augenblick der Ekstase die Tore zu allen Straßen des Irrtums und der Herrlichkeit aufzureißen.“ (über das Mädchen am Meer, S. 193)
Nach dem Unterricht albert Stephen mit seinen Freunden herum. MacCann beschimpft ihn, weil er sich weigert, eine Petition für den nationalen Frieden zu unterschreiben. Temple hingegen bewundert ihn für seine Unabhängigkeit. Cranly ist wütend auf alles und jeden. Davin will ihn überzeugen, Gälisch zu lernen. Stephen mag sich jedoch weder von nationalistischen noch von religiösen oder sprachlichen Grenzen einschränken lassen. Dem Studenten Lynch erklärt er seine ästhetische Theorie, der zufolge der Künstler in seine Werke eingehe wie der Gott in seine Schöpfung. Dann entdeckt Stephen seinen Schwarm Emma auf dem Universitätsgelände. Er bestaunt das Mädchen aus der Ferne, träumt nachts von ihr und fühlt sich am nächsten Morgen dermaßen inspiriert, dass er ihr ein Gedicht schreibt. Er erinnert sich, dass er vor zehn Jahren schon einmal ein Gedicht für Emma geschrieben hat, und fragt sich, ob sie seine Zuneigung wohl jemals bemerkt hat.
Aufbruch in die Einsamkeit
Stephen steht vor der Bibliothek und beobachtet einen Schwarm Vögel. Er findet, dass die Menschen viel zu vergeistigt sind, während die Vögel intuitiv ihre Flugbahn finden. Er trifft auf seine Freunde Cranly und Temple, die sich wie immer um Bildungsangelegenheiten streiten. Dann kommt Emma aus der Bibliothek – doch sie grüßt nicht ihn, sondern Cranly. Später lösen sich die beiden Freunde aus der Gruppe und Stephen erzählt von einem Streit mit seiner Mutter. Sie will, dass er zu Ostern den Gottesdienst besucht, er weigert sich jedoch, denn inzwischen hat er den Glauben verloren. Cranly argumentiert, dass die Mutterliebe wichtiger sei als persönliche religiöse Überzeugungen und er deshalb in die Kirche gehen solle. Daraufhin erklärt Stephen, dass er bald wohl völlig allein sein werde, dass er seine Familie, die Universität und seine Freunde verlassen werde, um sich ganz der Kunst zu widmen. Bei dem Gedanken an so viel Einsamkeit zeigt sich Cranly betroffen.
„,Wenn die Seele eines Menschen in diesem Land geboren wird, werden ihr Netze übergeworfen, um sie am Fliegen zu hindern. Du sprichst mir von Nationalität, Sprache, Religion. Ich werde versuchen, an diesen Netzen vorbeizufliegen.‘“ (Stephen zu Davin, S. 229)
Stephen schreibt in sein Tagebuch: über ein Gespräch mit seiner Mutter, die meint, er habe zu viel gelesen und deshalb den Glauben verloren; er werde bereuen und zur Kirche zurückfinden. Stephen denkt, dass sie sich irrt; er empfindet keine Reue. Ein anderer Tagebucheintrag erzählt, wie er Emma auf der Straße getroffen hat. Sie hat gehört, dass er Gedichte schreibt. Stephen deutet an, dass er über sie schreibt, worauf sie verwirrt geht. In einem weiteren Eintrag steht, dass Stephens Mutter seine Kleider flickt, denn er will Irland verlassen und seine Erfahrungen in der Welt machen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Obwohl Ein Porträt des Künstlers als junger Mann nicht aus der Ich-Perspektive, sondern in der dritten Person erzählt wird, folgt der Text ganz den Wahrnehmungen und Gedanken des Protagonisten Stephan Dedalus. Bereits hier, in seinem ersten Roman, verwendet Joyce die später perfektionierte Technik des Bewusstseinsstroms (Stream of Conciousness), der in Prosa das oftmals unlogische, sprunghafte und assoziative menschliche Denken abbildet. Stephens Alltagsbetrachtungen und Gespräche vermischen sich mit seinen Erinnerungen und Tagträumen, sodass der Leser das Gefühl bekommt, er könne bei der Lektüre des Romans direkt in den Kopf der Hauptfigur hineinschauen. Der Schreibstil passt sich im Lauf der Geschichte dem Erleben der Figur an: Während die Sprache zunächst sehr einfach ist und die Handlung aus der Sicht des Kindes beschreibt, wird der Stil mit zunehmender Buchlänge gehobener und akademischer. Typisch für Joyce ist überdies die von ihm selbst so benannte literarische Figur der „Epiphanie“ (griechisch: Erscheinung): Eigentlich alltägliche Erlebnisse werden als magische Erkenntnismomente dargestellt, die die Entwicklung der Hauptfigur erheblich beeinflussen.
Interpretationsansätze
- Der Roman ist eines der bekanntesten Beispiele für das Genre des Künstlerromans, der in der Regel als Unterkategorie des Entwicklungsromans gesehen wird. Erzählt wird von demjenigen Lebensabschnitt, in dem die Hauptfigur sich zum Künstler wandelt. Joyce’ Stephen muss sich von allerlei gesellschaftlichen Konventionen befreien und insbesondere die Vorgaben seiner religiösen Erziehung überwinden, um ein eigenständiges Denken entwickeln und sich ganz auf seine Kunst konzentrieren zu können.
- Stephen ist der Prototyp des Künstlers als Einzelgänger. Er hat kaum eine andere Wahl, als sich künstlerisch zu orientieren; zu sehr unterscheidet er sich von den anderen Jungen. Wenn etwa Pater Arnall die Qualen der Hölle beschreibt, meint er sie am eigenen Leib zu spüren und bricht vor Erschöpfung beinahe zusammen. Die anderen Jungen hingegen plaudern nach dem Vortrag, als wäre nichts gewesen.
- Stephen leidet an der Diskrepanz zwischen Kunst und Wirklichkeit. Er nimmt sich bekannte Figuren der Weltliteratur zum Vorbild, um nach ihnen seine Persönlichkeit zu formen: Er möchte so sein wie der Graf von Monte Christo und schreiben wie Byron. Erst später gelingt es ihm, die Traumwelt der Kunst mit den Anforderungen der Wirklichkeit zusammenzuführen.
- Stephens Frauenbeziehungen sind Projektionen, wirkliche Zuneigung empfindet er nicht. Sein erster Schwarm ist die schöne Mercedes aus dem Roman Der Graf von Monte Christo, bei seinem Besuch im Bordell verneigt er sich vor der Prostituierten, als wäre es die Jungfrau Maria, und selbst Emma kommt mehr in seinen Gedanken vor als in seinem wirklichen Leben.
- Joyce macht Anspielungen auf diverse literarische Werke. Die Beschreibungen der Hölle etwa erinnern an Dantes Göttliche Komödie, in der die Reise des Protagonisten durchs Purgatorium bis hin zum Paradies beschrieben wird. Der Name Stephen Dedalus verweist auf den griechischen Mythos, in dem die Figur des Dädalus mit selbst gebastelten Flügeln ihrem Gefängnis entkommt.
Historischer Hintergrund
Irlands Weg in die Unabhängigkeit
Der irische Politiker Charles Stewart Parnell (1846–1891) vereinigte die Nationalisten seines Landes 1882 erstmals in einer Partei: der Irish Parliamentary Party. Sie setzte sich insbesondere für die Irish Home Rule ein, d. h. für einen Verbleib Irlands im Vereinigten Königreich unter Bildung eines unabhängigen irischen Parlaments. Parnell selbst erlebte den Erfolg der Kampagne nicht mehr. Irland durchlitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts politisch turbulente Jahre, sodass es insgesamt vier Versuche und mehr als 20 Jahre brauchte, um die Home Rule Bill durchzusetzen. Der Preis der Unabhängigkeit war hoch: Zwischen der mehrheitlich katholischen Bevölkerung und der protestantischen Minderheit in der Provinz Ulster im Norden des Landes gärte seit Langem ein Konflikt. Während die Katholiken die Loslösung vom Vereinigten Königreich forcieren wollten, fühlten sich die Protestanten, die zumeist der Oberschicht des Landes angehörten, den englischen Nachbarn verbunden. Nachdem die dritte Home Rule Bill 1914 vom Parlament zwar genehmigt, aber wegen des Ersten Weltkriegs nicht umgesetzt worden war, kam es 1919 zum Irischen Unabhängigkeitskrieg. Das Ergebnis war 1921 die endgültige Spaltung des Landes, die bis heute für Spannungen sorgt.
Der Konflikt zwischen irischem Patriotismus und dem Einfluss der englischen Krone schlug sich auch auf das Verhältnis der Iren zu ihrer eigenen Sprache nieder. Nachdem infolge der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts Millionen von Iren in den ländlichen Gebieten gestorben oder ins Ausland emigriert waren, wurde das irische Gälisch nur noch wenig gesprochen. In den Städten war Englisch bald unabdingbar, wenn man sich einen Lebensunterhalt verdienen wollte. Joyce entwickelte – ebenso wie andere irische Autoren – vor diesem Hintergrund eine große sprachliche Sensibilität und thematisierte den Kampf um die irische Seele in nahezu jedem von seinen Romanen.
Entstehung
Ab 1900 begann Joyce „Epiphanien“ zu sammeln: kleine magische Alltagsbeobachtungen, in denen die Möglichkeit zur Erkenntnis eines größeren Zusammenhangs lag. Etwa 70 dieser Epiphanien hielt er schriftlich fest. Für einen literarischen Essay versuchte er 1904 einzelne dieser kurzen Szenen zu einem erzählerischen Ganzen zusammenzufügen. Der Essay wurde jedoch von einem Redakteur wegen seines unkonventionellen Stils als unverständlich beurteilt und abgelehnt. Trotzdem beschloss Joyce, weiter in diese Richtung zu arbeiten. Die daraufhin entstandene, fragmentarische Erzählung Stephen der Held, teils auf denselben Epiphanien beruhend und noch weitgehend der klassischen Romanstruktur verpflichtet, stellte ihn nicht zufrieden. Er unterbrach die Arbeit und veränderte den Stil der Erzählung, indem er die Perspektive der Hauptfigur Stephen Dedalus radikal in den Vordergrund rückte. 1914/15 veröffentlichte er das Resultat schließlich unter dem Titel Ein Porträt des Künstlers als junger Mann in der Londoner Literaturzeitschrift The Egoist. 1916 erschien der Roman auch in Buchform. Einige der frühen Epiphanien – etwa die zärtlich-distanzierte Begegnung zweier Kinder auf der Trambahn – finden sich in sämtlichen Versionen des Textes bis hin zu der endgültigen Romanfassung. Für den Roman Ulysses nahm Joyce die Figur des Stephen Dedalus erneut auf.
Das Porträt ist ein stark autobiografischer Text. Joyce selbst besuchte die christlichen Schulen Clongowes und Belvedere. Der große Familienstreit an der Weihnachtstafel und die Erfahrungen im Rotlichtmilieu dürften ebenfalls der eigenen Lebensgeschichte entnommen sein.
Wirkungsgeschichte
Die Offenheit und Detailliertheit, mit der Joyce die Höhen und Tiefen im Leben seines Protagonisten beschreibt, mussten dem zeitgenössischen Leser unerhört erscheinen: Ins Bett pinkelnde Kinder und Teenager auf Bordellbesuch kamen in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts eher selten vor. Entsprechend schockiert reagierte die konservative Kritik auf die Veröffentlichung des Porträts; der Ton vieler Rezensionen war zunächst entrüstet. Intellektuelle und Schriftstellerkollegen hingegen waren sich schnell einig: Das Buch war ein Meisterwerk. Ezra Pound prophezeite zutreffend, der Roman werde als bleibender Teil der englischen Literatur in die Geschichte eingehen. H. G. Wells diagnostizierte: „Stephen Dedalus ist so glaubwürdig wie kaum eine andere literarische Figur.“
Literarischen Weltruhm sollte Joyce zwar erst mit seinem nächsten Roman, Ulysses, erlangen, aber die Experimentierfreude und der stilistische Einfallsreichtum, der ihn zu einem der wichtigsten und einflussreichsten Autoren der literarischen Moderne werden ließen, finden sich ansatzweise schon in seinem Erstling.
Über den Autor
James Joyce wird am 2. Februar 1882 in Dublin geboren. Seine Ausbildung beginnt in der Jesuitenschule Clongowes Wood. Anschließend besucht er bis 1898 das Royal University College in Dublin. 1902 zieht er ins Ausland, weil er das konservative, katholische Irland nicht mehr erträgt. Seine antikatholische Haltung wird sich später auch in seinen Werken niederschlagen, was ihm herbe Kritik aus dem konservativen Lager einbringt. In Paris beginnt er ein Medizinstudium, beendet es aber nicht. Joyce’ sprachliches Talent tritt bereits in jungen Jahren zutage: So übersetzt er beispielsweise Gerhart Hauptmann und schreibt Briefe an den von ihm verehrten Henrik Ibsen – auf Norwegisch. 1904 versucht sich Joyce in Gedichten und Kurzgeschichten. Nach einer vorübergehenden Rückkehr nach Dublin zieht er nach Triest, wo er eine Stelle als Sprachlehrer annimmt. Im Jahr 1914 erscheint die Kurzgeschichtensammlung Dubliners (Dubliner). 1915 zieht Joyce weiter nach Zürich. Hier kommt er mit den Dadaisten und Expressionisten in Berührung. Ein Jahr später erscheint der Roman A Portrait of the Artist as a Young Man (Ein Porträt des Künstlers als junger Mann, 1916), der Joyce einem breiteren Publikum bekannt macht. Weltweiten Ruhm erlangt er mit dem Roman Ulysses, der erst 1922 in Buchform erscheint, weil der Abdruck in einer amerikanischen Zeitschrift von der Zensur untersagt wird. In den 20er Jahren zieht Joyce mit seiner Familie nach Paris. 1939 publiziert er mit Finnegans Wake sein vielleicht surrealstes und rätselhaftestes Werk. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Paris flieht Joyce erneut nach Zürich. Dort erleidet er 1941 einen Darmdurchbruch, von dem er sich nicht wieder erholt. Er stirbt am 13. Januar 1941.
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