Denis Diderot
Enzyklopädie
Die Andere Bibliothek, 2013
¿De qué se trata?
Das aufklärerische Großprojekt par excellence.
- Philosophie
- Aufklärung
Worum es geht
Das Wissen der Welt organisieren
Google und Wikipedia erheben im Internetzeitalter den Anspruch, das Wissen der Welt zu organisieren. Das gleiche Ziel setzten sich im 18. Jahrhundert auch Denis Diderot und seine Kollegen mit der Herausgabe der Enzyklopädie. Sie ist das aufklärerische Großprojekt schlechthin. Das 18. Jahrhundert war mit einer nie da gewesenen Wissensexplosion konfrontiert, die es zu verarbeiten galt. Der Anspruch der Enzyklopädie bestand darin, das Wissen der Welt zu verknüpfen, anstatt es wie in einem Wörterbuch einfach abzuhandeln – daher die zahlreichen Querverweise in den Artikeln. Eine riesige Zahl von Abbildungen sollte alles möglichst anschaulich machen. Die Autoren der Enzyklopädie, darunter Voltaire und Rousseau, scheuten nicht vor pointierten politischen Statements zurück. Ihr Freiheitsbegriff war antimonarchistisch und antikirchlich. So wurde die Enzyklopädie auch zum geistigen Zündstoff für die Revolution.
Take-aways
- Die Enzyklopädie ist das literarisch-philosophische Flaggschiff der Aufklärung.
- Inhalt: Innerhalb von rund 20 Jahren wagten Denis Diderot und seine Mitautoren den Versuch, das Wissen der Zeit lexikalisch zu erfassen. Die Handwerke und Gewerbe der Zeit und die Naturwissenschaften wurden ebenso berücksichtigt wie die wichtigen philosophischen Themen.
- Neben der allgemeinverständlichen Darstellung des Wissens war Diderots Hauptziel, die Artikel durch ein Verweissystem möglichst eng miteinander zu verknüpfen.
- Dank der Mitarbeit der prominentesten Intellektuellen Frankreichs entstand ein subversives Werk von erheblicher politischer Brisanz.
- Die Enzyklopädie ist alphabetisch nach Stichworten geordnet und enthält einen großen Abbildungsteil mit Kupferstichen.
- Diderot strebte zwar durchgehend mustergültige Artikel an; angesichts der vielen Autoren musste er jedoch Unterschiede in der Textqualität hinnehmen.
- Die Autoren, die sogenannten Enzyklopädisten, wenden sich vehement gegen Sklaverei, Aberglaube, religiösen Fanatismus und Heuchelei des Klerus.
- Die Enzyklopädie entstand unter dem Druck der damals herrschenden Zensur, erhielt aber auch große Unterstützung aus dem europäischen Hochadel.
- Der finanzielle Erfolg wie der geistige Ertrag waren groß: Die Enzyklopädie half, den Weg zur Französischen Revolution zu ebnen.
- Zitat: „Alle Wissenschaften greifen ineinander: Sie sind zusammenhängende, von ein & demselben Stamm ausgehende Zweige.“
Zusammenfassung
Aberglaube
Aberglaube entspringt der Fantasie; es handelt sich um eine Art fehlgeleitete Einbildungskraft. Zum Aberglauben gehört der Glaube an unsichtbare Geister und an glückliche oder unglückliche Tage. Aberglaube ist noch schlimmer als Atheismus, der wenigstens passiv bleibt und die Sitten und Gesetze nicht antastet. Im Unterschied dazu versucht der Aberglaube diese zu verdrängen. Kein Monarch vermag ihn wirklich zu bändigen.
Aguaxima
Dies ist der Name einer Pflanze in Brasilien. Mehr weiß man nicht von ihr. Dass sie in einer Enzyklopädie auftaucht, ist eigentlich nutzlos und nur für Leute von Interesse, die lieber eine Dummheit lesen als gar keinen Artikel.
Aufgeklärt und klarblickend
„Aufgeklärt“ und „klarblickend“ sind komplementäre Begriffe. „Aufgeklärt“ bezieht sich eher auf erworbene Kenntnisse und Bücherwissen, „klarblickend“ auf natürliche Kenntnis. „Aufgeklärt“ bezieht sich auf bereits Geschehenes, „klarblickend“ auf künftiges Geschehen. Nicht jeder Gebildete ist aufgeklärt, und nur wenige Klarblickende sind Genies.
Eklektizismus
Unter den selbstständig Denkenden sind die Eklektiker die wahren Philosophen, weil sie nicht einer bestimmten Denkschule anhängen wie etwa die Stoiker, Kyniker oder Platoniker, sondern sich vorurteilsfrei zu allem eine persönliche Meinung bilden. Unter der Herrschaft der christlichen Religion trat diese Denkart in den Hintergrund. Sie wurde erst Ende des 16. Jahrhunderts durch Männer wie Bruno, Bacon, Hobbes, Descartes, Leibniz und etliche andere wiederbelebt. Wo die Eklektiker im Korpus des überkommenen Wissens noch Lücken klaffen sahen, bauten sie auf Erfahrungen und das Studium der Natur. Diese Art von Forschung ist eine Angelegenheit besonders fleißiger Männer. Das Vergleichen und Kombinieren der gefundenen Tatsachen ist dagegen eine Sache der Männer von Genie. Beide Arten von Eklektizismus findet man nur in ganz wenigen Individuen wie Demokrit, Aristoteles und Francis Bacon vereint. Es steht zu erwarten, dass sich der Eklektizismus weiter verbreiten wird, und das sollte er auch. Zwar braucht die Philosophie in aller Regel Bedächtigkeit und systematisches Vorgehen, aber manchmal beschleunigt das Genie Fortschritte in der Philosophie.
Enzyklopädie
Das Wort „Enzyklopädie“ stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus „en“ (in), „kyklos“ (Kreis) und „paideia“ (Lehre, Kenntnis). Die Bedeutung ist: Verknüpfung der Wissenschaften. Das verstreute Wissen soll gesammelt, den Zeitgenossen systematisiert zugänglich gemacht und der Nachwelt überliefert werden. Die Erstellung eines alle Wissensgebiete umfassenden Wörterbuchs bedarf der Zusammenarbeit mehrerer Autoren. Diese Gesellschaft von Gelehrten, Künstlern und Fachleuten aller Art sollte von dem uneigennützigen Interesse getragen sein, zum Wohle der Menschheit zusammenzuarbeiten und sich im gegenseitigen Wettbewerb um die bestmöglichen Texte anzuspornen. Die Regierung sollte sich von dem Unternehmen völlig fernhalten. Herrscher werden in der Regel von ihren Repräsentationsbedürfnissen geleitet, nicht vom wirklichen Nutzen einer Sache. Wörterbücher bzw. Enzyklopädien veralten rasch, wie man am Vergleich älterer Werke mit dem modernen Wissensstand leicht erkennen kann. Der Bildungsstand und selbst die Sprache wandeln sich neuerdings rasch. Daher muss die Zeit der Arbeit an einer Enzyklopädie verkürzt werden, indem viele Autoren gleichzeitig daran schreiben.
„Tausend Gebildete kommen auf einen Aufgeklärten, hundert Aufgeklärte auf einen Klarblickenden & hundert Klarblickende auf ein Genie.“ (S. 60)
Der Sprache und der Schrift verdanken die Menschen den Erfahrungs- und Gedankenaustausch, die Kommunikation. Die Sprache ist das Werkzeug des Menschen zur Vermittlung von Kenntnissen. Der Wortschatz eines Volkes ist das getreue Abbild seiner Kenntnisse. Jeder Begriff, alles, was in der Natur vorkommt, und alles, was von Menschen erfunden worden ist, hat einen Namen. Die Enzyklopädie bringt all dies in eine allgemeine Ordnung. Sie gleicht einer Maschine, in der alle Einzelteile zusammenwirken. Ein besonders wichtiger Teil der Enzyklopädie sind die Verweise. Es gibt Sachverweise und Wortverweise. Die Sachverweise dienen der Erläuterung und der Verknüpfung mit näheren und ferneren Zusammenhängen. Die Wortverweise vermeiden insbesondere die stets erneute Erklärung von Fachausdrücken.
„Der Mensch ist dazu geboren, selbstständig zu denken.“ (S. 99)
Die Herausgeber dieser Enzyklopädie sind zwar um eine gleichmäßig hohe Qualität der Artikel bemüht, sind sich aber angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Autoren mit jeweils unterschiedlichem Darstellungsvermögen auch einer gewissen Uneinheitlichkeit bewusst. Sie nehmen das in Kauf, um stets Originalartikel von Fachleuten präsentieren zu können und nicht gleichförmig redigierte Abschriften aus älteren Wörterbüchern oder schlechte, fehlerbehaftete Übersetzungen bereits vorhandener Artikel. Für die Erstausgabe dieser Enzyklopädie wurden daher viele Mitarbeiter verpflichtet und eine große Zahl von Abbildungen erstellt. Forderungen, bestimmte Wissensgebiete, etwa die Theologie, auszuschließen, wurden zurückgewiesen. Mit beinahe den gleichen Argumenten hätte man auch Beiträge zur Mythologie ausschließen können, was niemand ernstlich wünschen kann. Auch Artikel über vermeintlich banale Alltagsgegenstände wie Kochkunst und Mode wurden nicht zurückgewiesen, da sie späteren Generationen von hohem historischem Wert sein können.
„Ein allumfassendes & wohldurchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften & Künste kann nicht das Werk eines einzigen Menschen sein.“ (S. 134)
Der Stil einer Enzyklopädie darf nicht zu trocken, sachlich und lakonisch sein, sondern sollte Abwechslung bieten – genauso wie die Dinge des Lebens auch völlig unterschiedlich sind und eine abwechslungsreiche Landschaft darstellen. Gerade schwierige oder abstrakte Begriffe sollten allgemeinverständlich erklärt werden. Der entscheidende Balanceakt besteht darin, einen Ausgleich zwischen banaler Unterhaltung und Anbiederung beim Publikum einerseits sowie trockener Belehrung andererseits zu finden. Das Ziel sollte Belehrung sein, die das Interesse des Lesers weckt, indem sie ihn berührt. Selbst ein Zensor kann sich für ein Werk als nützlich erweisen, sofern er sich nicht als eine Art Überredakteur oder Überherausgeber begreift. Man schickt ihm daher von vornherein nur die Druckbogen, nicht die Manuskripte. Es ist das Beste, wenn er gesunden Menschenverstand besitzt und etwas Verständnis für die Eigenart des jeweiligen Werks.
Fanatismus
Fanatismus ist im Grunde praktizierter Aberglaube. In ihrem blinden Eifer sind die Fanatiker unkontrollierbar. Sie sind völlig dogmatisch und ersetzen die vernünftige Urteilskraft durch eine missbräuchliche Einbildungskraft. Würden sie die Erkenntnis der Wahrheit anstreben, könnten sie niemals fanatisch werden, denn Wahrheit überzeugt von selbst. Die Moral der Fanatiker ist so pervertiert, dass sie nicht davor zurückschrecken, andere in den Tod zu schicken oder zu foltern. Sie erlassen unsinnige Vorschriften oder bauschen kleine Pflichtverletzungen zu Verbrechen auf. Ebenso wie sie die Wahrheit nicht kennen und nicht kennen wollen, sind die Fanatiker jeder anderen Religion gegenüber vollkommen intolerant. Wer nicht für sie ist, ist automatisch gegen sie. Daher verfolgen sie andere mit zelotischem Eifer. Als moderne Fanatismusvariante gibt es eine fehlgeleitete Form von Vaterlandsliebe, bei der sich Männer blind für ihr Land begeistern, nur weil sie darin geboren wurden.
Folter
Dieses in Strafprozessen angewandte Mittel, um Angeklagte zu einem Geständnis zu bringen, ist nicht nur unmenschlich, sondern auch völlig unzweckmäßig: Ein Unschuldiger, der von schwacher Konstitution ist, wird durch die Schmerzen leicht gestehen, während ein Schuldiger, der Schmerzen aushalten kann, durch hartnäckiges Leugnen dem gerechten Schuldspruch entgeht.
Genie
Das Genie ist eine besondere Fähigkeit der Seele, ganz offen zu sein und von überallher Sinneseindrücke zu erfahren. Das Genie ist spontan ergriffen oder kommt spontan zum Ausdruck. Dem Genie widerstrebt das Regelhafte und Geschliffene des Geschmacks, es sprengt die Regeln.
Glauben
Wer etwas glaubt, ist von dessen Wahrheit überzeugt, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, seine Vernunft zu gebrauchen. Darum geht Glauben immer mit schlechtem Gewissen einher. Etwas ungeprüft zu glauben, ist genauso verwerflich, wie etwas Bewiesenes nicht zu glauben.
Menschlichkeit
Die Menschlichkeit ist ein Gefühl des Wohlwollens gegenüber allen Menschen. Sie richtet sich gegen Aberglaube, Laster und Waffengewalt. Sie verbessert den Menschen in vieler Hinsicht. Meistens ist sie eher in den Köpfen als in den Herzen verankert.
Naturrecht
Das Naturrecht ist von überragender Wichtigkeit. Es wird viel darüber gesprochen, doch es ist schwer zu bestimmen. Die Entscheidung über Gut oder Böse, über das eigene Glück auf Kosten des Glücks anderer steht für den Einzelnen gar nicht zur Disposition. Denn dann müsste jeder bereit sein, jedes Opfer, auch das Selbstopfer, zu erbringen, um das Glück von anderen zu ermöglichen. Das Recht und das Naturrecht können also nicht vom Willen eines Einzelnen abhängig sein, sondern nur vom allgemeinen Willen. Nur er kann dem Menschen und dem Gesetzgeber Richtschnur sein für das Verhalten in der Gesellschaft, für die Pflichten ihr gegenüber und für die Grenzen, in denen sie sich bewegt. Demzufolge müssen auch die Gesetze für alle gemacht sein und nicht für den Einzelnen. Der allgemeine Wille ist in den Prinzipien des Rechts der gesitteten Nationen wie in den Rechtsbräuchen der Völker ausgedrückt. Das Naturrecht muss und kann nur mit dem Verstand begriffen werden.
Philosophie der Chaldäer
Die Geschichte des philosophischen Denkens beginnt bei den Chaldäern, die sozusagen die Priester der Babylonier waren. Wie die Priester aller alten Völker stellten sie die Religion in den Dienst der Regierenden und legten die Vernunft gleichsam in Ketten, indem sie Schutzgottheiten sowie gute und böse Geister vorgaukelten, denen die Menschen opferten und durch die die wahre göttliche Erkenntnis verschleiert wurde. Insofern verdienen die Chaldäer noch nicht die Bezeichnung „Philosophen“ im eigentlichen Wortsinn, weil sie das Denken der Menschen gängelten. Menschen haben die Fähigkeit, selbstständig zu denken, und erst die Griechen und Römer verwirklichten diese Fähigkeit. Sie waren die ersten, die nur das glaubten, was sie sahen, auch wenn für sie der Weg zur Wahrheit noch mit vielen Irrtümern gepflastert war.
Sklaverei
Sklaverei verletzt die Freiheit des Menschen. Sie ist rechtswidrig und verstößt gegen jede Moral, gegen Naturgesetze und gegen ein gutes Regierungssystem. Die Freiheit, unabhängig und niemandem untertan zu sein, ist schon seit Langem, war schon vor Christi Geburt ein hohes Gut. Weder haben afrikanische Häuptlinge das Recht, sich ihre Untertanen zu Eigentum zu machen, um sie zu verkaufen, noch haben die Käufer das Recht, sich zu deren Herrn zu machen. Die Freiheit ist ein unveräußerliches Naturrecht jedes Menschen. Sie beinhaltet letztlich auch das Recht auf Leben. Nur der Verbrecher wird zur Strafe durch die Gesetze, die auch ihn bis zu seiner Tat schützen, seiner Freiheit oder sogar seines Lebens beraubt.
Toleranz
Gäbe es nur Unduldsamkeit gegenüber den Anschauungen, Gesinnungen und Religionen anderer, so würden schnell überall Unruhe und Zwietracht herrschen – bis hin zum Krieg. Trotz der zu Milde und Nächstenliebe mahnenden Lehre ihres Religionsstifters dulden gerade die Christen keine anderen Ideen und peinigen und unterjochen die Menschheit unter dem Vorwand der Religion. Menschliches Zusammenleben kann aber nur unter Achtung der Toleranz möglich werden, die man anderen entgegenbringt. Solange die Gesellschaft nicht beunruhigt wird, hat man das Gewissen der anderen zu achten, insbesondere, wenn es sich um spekulative Inhalte handelt, die den Staat nichts angehen. Solange die Wahrheit für den unvollkommenen Menschen schwierig zu erkennen ist, wird es auch unterschiedliche Anschauungen geben. Gott hat keineswegs die sogenannten Verteidiger des Glaubens damit beauftragt, die vermeintlichen Ketzer mit Feuer und Schwert in den Schoß der Kirche zurückzuzwingen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Wie bei einem Lexikon üblich sind die Stichworte in der Enzyklopädie alphabetisch geordnet. Eine weitere Unterteilung, etwa nach Sachthemen oder Wissensgebieten, gibt es nicht. Die vorliegende Ausgabe enthält rund 400 Artikel – was nur einen Bruchteil der französischsprachigen Gesamtausgabe mit annähernd 72 000 Artikeln darstellt. Sowohl die Gesamtausgabe als auch die vorliegende Ausgabe enthält eine Fülle von Kupferstichen zu allen möglichen Themen. Der Umfang der Artikel reicht von wenigen Zeilen bis zu mehreren Spalten oder gar Seiten. Die Textqualität der Beiträge ist sehr unterschiedlich – ein Problem, dessen sich Diderot und seine Mitherausgeber bewusst waren und das sie in Kauf nahmen. Sie legten sich bei redaktionellen Eingriffen große Zurückhaltung auf, außer das Thema war völlig verfehlt. Der individuelle Stil des jeweiligen Autors – es gab mehr als 160, darunter Handwerker und Techniker, die über ihre Fachgebiete schrieben – sollte zur Geltung kommen und nicht zu anonymer Sachlichkeit vereinheitlicht werden, wie es in modernen Enzyklopädien der Fall ist. Die Mannigfaltigkeit der Stimmen sollte die Mannigfaltigkeit des Lebens widerspiegeln. Anders als in modernen Wörterbüchern sind viele Beiträge namentlich gezeichnet. Oftmals nehmen sie auch essayhafte Formen an, enthalten Ironie und Polemik und sind also keineswegs streng sachlich. Ebendarum sind sie auch heute noch lesenswert, selbst wenn der Wissensstand von damals überholt ist.
Interpretationsansätze
- Die Enzyklopädie ist von einem großen Systematisierungsstreben geprägt. Das steht in Übereinklang mit dem damals vorherrschenden Trend, die Naturdinge zu klassifizieren. Die botanische und zoologische Taxonomie des Schweden Carl von Linné ist dafür bahnbrechend und exemplarisch. Die wechselseitigen Verflechtungen aller Wissenselemente deutlich zu machen, war erklärtes Ziel der Enzyklopädisten; das Mittel dazu war das Verweissystem.
- Die Enzyklopädisten betonen die Bedeutung der Sprache als Medium des Gedankenaustauschs und der Kommunikation. Im enzyklopädischen Zusammenhang hat das Wort eine Schlüsselfunktion. Es repräsentiert geradezu die Sache. Die Enzyklopädisten glauben, durch verbale Erfassung und präzise Beschreibung von Merkmalen allen Dingen einen Ort und einen Stellenwert im Weltganzen zuordnen zu können. Es geht ihnen um mehr als bloß um Begriffs- oder Sacherklärung.
- Die Enzyklopädisten sind nicht durchgehend materialistisch oder nur der sichtbaren Welt verhaftet. Metaphysische Begriffe werden ernst genommen und umfassend abgehandelt. Die Existenz Gottes wird keineswegs geleugnet, er wird öfter als „höchstes Wesen“ oder „erstes Wesen“ bezeichnet. Scharfe Polemik richtet sich aber gegen alle Formen von Aberglauben, Wahrsagerei und Priesterbetrug.
- Die Enzyklopädisten sehen sich selbst als Philosophen, jedoch nicht als Angehörige oder gar Lehrmeister einer bestimmten Schule, sondern als freie Geister, die den bestehenden Lehrmeinungen ihr eigenständiges Denken entgegensetzen.
- Die Enzyklopädie ist das literarisch-philosophische Flaggschiff der Aufklärung. Viele Enzyklopädie-Artikel mit politischem oder antiklerikalem Inhalt bergen hohes subversives Potenzial. Mit großem Freiheitspathos wird gegen den damals herrschenden Absolutismus und gegen die Macht der Kirche angeschrieben. Die Enzyklopädie gilt darum als Wegbereiterin für die Französische Revolution.
Historischer Hintergrund
Eine kurze Geschichte der Enzyklopädien
Fast 2000 Jahre lang war das quasi enzyklopädische Gesamtwerk des antiken Universalgelehrten Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) ausschlaggebend für die Wissensbildung in Europa. Sein Einfluss erstreckte sich auch auf die blühende islamische Kultur im Mittelalter. Trotz zahlloser Irrtümer in seinen Naturanschauungen galt Aristoteles bis weit in die frühe Neuzeit als unumstrittene Autorität. Die bedeutendste enzyklopädische Zusammenstellung der Römer war die 77 n. Chr. entstandene Naturalis historia von Plinius dem Älteren. Sie liefert neben dem antiken Wissensschatz viele interessante Einblicke in das Alltagsleben der Römer.
Der erste Enzyklopädist des europäischen Mittelalters war Bischof Isidor von Sevilla, der in seinen Etymologiae (623 n. Chr.) nach der Völkerwanderung die noch vorhandenen Bruchstücke des antiken Wissens sammelte und unter Stichworten darstellte. Auf dieser Enzyklopädie fußten weitere mittelalterliche Wissenssammlungen, die alle noch in der aristotelischen Tradition standen. In der Renaissance wurde enzyklopädisches Wissen auch in der Form großformatiger, dickleibiger und stark bebilderter Weltchroniken zusammengestellt. Die Nürnberger Chronik von Hartmann Schedel etwa erschien 1493. Noch umfangreicher und erfolgreicher war die Cosmographia (1544) des Basler Universalgelehrten Sebastian Münster. In der islamischen Kulturwelt setzte der auch im Westen bekannte Arzt und Gelehrte Avicenna (980 bis 1037) die enzyklopädische Tradition fort.
In der europäischen Aufklärung änderte sich die Denkmethode grundlegend – durch die kritische und vorurteilslose Naturbeobachtung von Männern wie Galileo Galilei, Johannes Kepler und Isaac Newton sowie dank philosophischer Denker wie Francis Bacon und René Descartes. Ab etwa 1730 floss dieses neue Denken in die modernen Enzyklopädien ein. Die erste und umfassendste deutschsprachige war das Grosse vollständige Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste (ab 1732) von Johann Heinrich Zedler. Das Verdienst von Friedrich Arnold Brockhaus war es, die sehr umfangreichen Enzyklopädien jener Zeit als sogenannte Konversationslexika für den Hausgebrauch des Bildungsbürgertums des 19. und 20. Jahrhunderts herauszubringen. Diese Verlagstradition riss im 21. Jahrhundert durch das Aufkommen der Internet-Enzyklopädie Wikipedia unvermittelt ab. Revolutionär an Wikipedia ist vor allem die Offenheit gegenüber Laien als Autoren und ihre gegenseitige Kontrolle, die Schnelligkeit der Aktualisierung, die praktisch unbegrenzte Möglichkeit der Stichworte (ohne Auswahl durch eine Redaktion) und die weltweite Verbreitung in vielen Sprachen.
Entstehung
Die Initiative zur Enzyklopädie ging 1743 vom Verleger André Le Breton aus. Das Werk sollte ursprünglich nach dem Vorbild eines erfolgreichen englischen Wörterbuchs von Ephraim Chambers gestaltet werden. Le Breton verfügte über das damals erforderliche Druckprivileg des Königs. 1747 übernahm Denis Diderot, 1750 stieß der Naturwissenschaftler Jean-Baptiste le Rond d’Alembert dazu, auch als Geldgeber. Nach und nach erweiterte sich der Autorenkreis auf über 160 Enzyklopädisten, darunter die bekanntesten Namen der französischen Aufklärung wie Voltaire und Jean-Jacques Rousseau. Erstmals wurden auch mit Vorbedacht alle handwerklichen und technischen Berufe enzyklopädisch erfasst. Diese Artikel wurden von Fachleuten oder Ausübenden der jeweiligen Berufe selbst oder nach gründlicher Befragung derselben von anderen Autoren verfasst. Die Enzyklopädie entstand unter dem Druck von Zensur und Gegenmaßnahmen seitens der Kirche; das Werk kam auf den Index. Andererseits erhielten die Enzyklopädisten sowohl finanzielle als auch politische Unterstützung durch einflussreiche Adlige, allen voran Zarin Katharina II. und Madame de Pompadour. Der erste Band erschien 1751, der letzte 1772. Das reichhaltige Bildmaterial trug wesentlich zum Erfolg des Werks bei.
Wirkungsgeschichte
Die Bedeutung der Enzyklopädie für die Aufklärung und für den Lauf der Geschichte kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie war außerdem ein großer wirtschaftlicher Erfolg mit bis zu 4000 Subskribenten, also festen Vorbestellern, und Nachdrucken im Ausland. Eine Übersetzung war vorerst nicht nötig; die gebildete Welt Europas sprach Französisch. Für die Verleger war es ein Jahrhundertgeschäft. Die Enzyklopädie wandte sich im Grunde an die gesamte gebildete – und wohlhabende – Öffentlichkeit Europas. In einzelnen Artikeln mit harmlos klingenden Stichwörtern steckte antimonarchistische und antikirchliche Kritik; manche Artikel kursierten separat als Raubdrucke. Die Enzyklopädie unternahm es erstmals bewusst, der Kirche die Deutungshoheit über das Wissen zu entziehen, und sie enthält in vielen Teilen das geistige Programm der Revolutionen in Amerika und Frankreich mit ihren Freiheits- und Menschenrechtserklärungen.
Über den Autor
Denis Diderot wird am 5. Oktober 1713 als Sohn eines wohlhabenden Messerschmieds in Langres geboren. Nach seiner Schulzeit geht er nach Paris, wo er Philosophie und Naturwissenschaft studiert. Die vom Vater verlangte theologische Karriere schlägt er aus und er wird stattdessen für ein Jahr Anwaltsgehilfe. Danach lebt er von schlecht bezahlten Gelegenheitsarbeiten, geht häufig als Bohemien in die Pariser Cafés, wo er sich mit Intellektuellen wie Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Jean-Jacques Rousseau, Étienne Bonnot de Condillac und Melchior Grimm anfreundet. Als er den Vater bittet, in seine Heirat mit einer Wäscheverkäuferin einzuwilligen, lehnt dieser ab und schickt den Sohn ins Kloster von Troyes. Diderot gelingt bald die Flucht nach Paris, wo das Paar sich 1743 heimlich trauen lässt. Vier Jahre später wird Diderot Leiter eines berühmten verlegerischen Projekts: der 28-bändigen Enzyklopädie (Encyclopédie), dem Anspruch nach eine Zusammenstellung des gesamten Wissens der Zeit. 1749 wird Diderot wegen seines religionskritischen Briefes über die Blinden (Lettre sur les aveugles) von der Zensurbehörde für drei Monate in Vincennes eingesperrt. Viele seiner literarischen Werke lässt er daraufhin unveröffentlicht, darunter später berühmte Werke wie Die Nonne (La religieuse), Rameaus Neffe (Le neveu de Rameau) oder Jakob und sein Herr (Jacques le fataliste et son maître). Zu Lebzeiten tritt er vor allem als Philosoph, Naturwissenschaftler, Kunstkritiker und Dramatiker in Erscheinung. Seine Abhandlung Paradox über den Schauspieler (Le paradoxe sur le comédien, 1773) revolutioniert die Theaterszene. 1765 kann Diderot, der stets unter Geldnot leidet, die russische Zarin Katharina II. als Mäzenin gewinnen. Sie kauft ihm seine Bibliothek ab und besoldet ihn für 50 Jahre im Voraus als Bibliothekar. 1773 reist er auf ihre Einladung hin für ein halbes Jahr nach St. Petersburg. Am 31. Juli 1784 stirbt er in Paris an Herzversagen.
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