Immanuel Kant
Kritik der Urteilskraft
Suhrkamp, 1974
What's inside?
Kants dritte Kritik: ein Brückenschlag zwischen Natur und Freiheit und ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst.
- Philosophie
- Aufklärung
Worum es geht
Die letzte Kritik als Brückenschlag
Zur Zeit Kants hatten sich mit dem Rationalismus auf der einen und dem Empirismus auf der anderen Seite zwei philosophische Extrempositionen verfestigt. Mit seinen Kritiken versuchte Kant diese Spaltung zu überwinden und die Grundlage für ein einheitliches philosophisches System zu legen. Gleichzeitig wollte er auch eine Verbindung zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie herstellen. Die Kritik der Urteilskraft sollte eine Lücke schließen zwischen Kants Kritik der reinen Vernunft und seiner Kritik der praktischen Vernunft, sie sollte die Sinneserfahrung und das Moralgesetz miteinander verknüpfen. Nach Meinung vieler Kritiker ist ihm das aber nicht überzeugend gelungen: Durch die Fokussierung auf das Schöne und Erhabene wirkt das Werk etwas konstruiert und nicht frei von subjektiver Motivation. Trotzdem lieferte es der Philosophie interessante Denkanstöße und untermauerte noch einmal Kants Vorstellung von der letztendlichen Bestimmung des Menschen als freiem Wesen. Vor allem der erste Teil über die ästhetische Urteilskraft hatte für die Ästhetik eine epochale Wirkung: Kant setzte buchstäblich neue Maßstäbe, die für das Verständnis der (zweck)freien Kunst bis heute von Bedeutung sind.
Take-aways
- Die Kritik der Urteilskraft ist das dritte und letzte Werk aus Kants Reihe der Kritiken. Mit ihr schloss er sein „kritisches Geschäft“ ab.
- Kant will eine Lücke zwischen seinen ersten beiden Kritiken schließen und begibt sich auf die Suche nach der Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie.
- „Urteilskraft“ ist im Grunde ein ungeschicktes Wort, weil es den Anschein erweckt, es handle sich hier um rationale Beurteilungen – dabei geht es Kant um das unmittelbare Gefühl.
- Es gibt eine ästhetische und eine teleologische Urteilskraft.
- Die ästhetische Urteilskraft richtet sich auf das Schöne und Erhabene und basiert auf dem Prinzip der subjektiven Zweckmäßigkeit.
- Die teleologische Urteilskraft richtet sich auf die Natur und basiert auf dem Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit.
- Das ästhetische Geschmacksurteil ist subjektiver und doch auch allgemeiner Natur.
- Das Schöne ist „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“.
- Das Erhabene wird von unfassbarer Größe und überwältigender Naturgewalt hervorgerufen.
- Das Schöne und das Erhabene haben einen kultivierenden Einfluss auf den Menschen und weisen auf das Moralgesetz hin.
- Im Endzweck der Glückseligkeit des Menschen werden Natur und Freiheit zusammengeführt.
- Mit seiner Ästhetik schuf Kant die Grundlage für die Vorstellung der Freiheit der Kunst, die bis heute Gültigkeit hat.
Zusammenfassung
Die Kritik der Urteilskraft
Zwischen unserem Verstand und unserer Vernunft, zwischen unserem theoretischen Zugang zum Sinnlichen und unserem praktischen Zugang zum Übersinnlichen klafft eine Lücke, die nur durch ein verbindendes Element, durch ein Mittelglied überwunden werden kann. Dieses verbindende Element stellt die Urteilskraft des Menschen dar, sein Vermögen, ein Urteil unabhängig von jeglicher Erfahrung zu fällen. Die Urteilskraft ist gleichzeitig auch das Bindeglied zwischen dem menschlichen Erkenntnisvermögen und dem Willen. Sie schlägt eine Brücke zwischen dem Prinzip der Natur, dem wir nur über unseren Verstand nahekommen können, und dem Prinzip der Freiheit, das direkt unserer Vernunft zugänglich ist.
„Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als Enthalten unter dem Allgemeinen zu denken.“ (S. 87)
Dabei gilt es, zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft zu unterscheiden. Die bestimmende Urteilskraft ordnet das Besondere einem bekannten Allgemeinen unter, etwa einem Gesetz. Der reflektierenden Urteilskraft liegt dagegen nur der Sonderfall vor, aus ihm muss das Allgemeine abgeleitet werden.
„Um zu entscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben.“ (S. 115)
Gemäß den beiden Grundausprägungen des menschlichen Geistes – der Empfänglichkeit für Sinneseindrücke und der Fähigkeit, Begriffe zu bilden und Sinnzusammenhänge zu konstruieren – zeigt sich die reflektierende Urteilskraft in den beiden Bereichen Ästhetik und Teleologie. Ästhetik bedeutet in diesem Zusammenhang die menschliche Wahrnehmung, Teleologie das Erkennen von Zielen und Zwecken. Damit über die Urteilskraft eine gesicherte Aussage gemacht werden kann, darf sich die Untersuchung nur auf Urteile beziehen, die a priori, d. h. vor jeder Erfahrung zutreffen. Das grundlegende Prinzip für solche Urteile ist die Zweckmäßigkeit.
Das Schöne
Im Bereich der Ästhetik können wir a priori das Schöne und das Erhabene identifizieren. Noch vor der konkreten Verarbeitung der Sinneseindrücke zu einer Erkenntnis drängt sich uns das Urteil auf, ob etwas schön ist oder nicht. Wichtig ist, das Schöne von dem Angenehmen und dem Guten zu unterscheiden. Um zu beurteilen, ob etwas angenehm ist oder nicht, müssen wir ja erst die entsprechenden Sinneseindrücke verarbeiten. Das Gleiche gilt für unsere Beurteilung des Guten.
„Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“ (S. 124)
Das Urteil über das Schöne entsteht dagegen aus dem freien Spiel unserer Einbildungskraft und unseres Verstandes, aber noch bevor eine entsprechende begriffliche Bearbeitung des Sinneseindrucks stattgefunden hat. Unser Empfinden für Schönheit ist deshalb unmittelbar und zweckfrei. Wir urteilen, bevor wir ein persönliches Interesse entwickelt haben, wir empfinden Schönheit spontan und unabhängig von unseren eigenen Zwecken. Das Kriterium ist das spontane Gefühl der Lust. Der Anblick oder das Hören von etwas Schönem weckt in uns unmittelbar ein zweckfreies Gefühl der Lust.
„Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“ (S. 155)
Die Zweckmäßigkeit des Schönen liegt allenfalls darin, dass es zu einer Harmonie unseres Erkenntnisapparates führt, dass es zu unserem Empfinden in positiver Weise passt und daher im Hinblick auf unsere eigene Strukturiertheit zweckmäßig ist, weil es den Zweck, ein Lustgefühl auszulösen, spontan erfüllt. Da dies das einzige Kriterium des Schönen ist, kann das Schöne auch als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ gesehen werden. Wenn wir das Schöne beurteilen, handelt es sich um ein Geschmacksurteil. Ein solches Urteil lässt sich auf viererlei Weise analysieren:
- Von der Qualität her ist das Geschmacksurteil von den Erkenntnisurteilen zu unterscheiden. Ein Geschmacksurteil ist rein durch uns selbst als Subjekt begründet. Wir beurteilen etwas als schön, weil es in uns spontan ein Lustgefühl auslöst. Sobald wir einen Bezug zum Objekt herstellen und unser Urteil von dessen Eigenschaften abhängig machen, gehen wir in den Bereich der Erkenntnisurteile über. Diese sind nicht a priori, denn sie folgen ja unserer Analyse des jeweiligen Objektes. In diesem Sinn ist das Schöne vom Angenehmen, Vollkommenen und Guten zu unterscheiden. Denn die letzteren drei Urteile bedingen ein Eingehen auf das jeweilige Objekt und sind keine spontane subjektive Reaktion allein auf die Erscheinung.
- Von der Quantität her ist das Geschmacksurteil zwar subjektiv, beinhaltet aber trotzdem einen Hinweis auf ein allgemeines Wohlgefallen. Da wir unsere Beurteilung der Schönheit nicht von der Nützlichkeit, die ein Betrachtungsgegenstand für uns hat, abhängig machen, können wir davon ausgehen, dass jeder Betrachter ähnlich empfinden muss wie wir selbst, wenn er den gleichen Gegenstand ebenfalls interessefrei betrachtet. Denn alle Menschen – als Vernunftwesen – sind in ihrem Erkenntnisvermögen gleichartig orientiert und müssen daher auch subjektiv zu einer vergleichbaren Beurteilung des Schönen kommen.
- Von der Relation her ist das Schöne zweckfrei. Es erzeugt in uns ein Gefühl des Wohlgefallens, das nicht von der Nützlichkeit des Wahrgenommenen für uns abhängt. Stattdessen ist es das Wohlgefallen allein, das in uns ein Bedürfnis nach Andauern, also Lust, weckt. Der Anblick von etwas Schönem ist für uns so positiv, dass wir darin verweilen möchten. Dieses positive Gefühl ist für sich allein der erfüllte Zweck.
- Von der Modalität her ist unsere Fähigkeit, das Schöne zu beurteilen, auf einem subjektiven Prinzip gegründet. Dieses Prinzip aber gibt dem Subjektiven zugleich den Anspruch des Allgemeingültigen. Das Prinzip ist bei allen Menschen vorhanden, denn wir alle können Schönheit identifizieren, und wir erwarten in der Regel auch, dass andere unsere Urteile in dieser Hinsicht teilen. Daher liegt der Urteilskraft für Schönheit eine Art Gemeinsinn zugrunde, sie ist also subjektiv-allgemeiner Natur.
Das Erhabene
Das Erhabene hat mit dem Schönen gemeinsam, dass es für sich selbst unmittelbares, interesseloses Wohlgefallen auslöst und auf einem Reflexionsurteil beruht. Dieses ist nicht von vorhergehenden Empfindungen oder von der Bildung bestimmter Begriffe abhängig. Der Unterschied zum Schönen: Das Erhabene ist etwas Gigantisches und damit zuerst einmal etwas, was Angst einflößen kann.
„Diese unbestimmte Norm eines Gemeinsinns wird von uns wirklich vorausgesetzt: Das beweist unsere Anmaßung, Geschmacksurteile zu fällen.“ (S. 159)
Im Bereich des Mathematisch-Erhabenen stoßen wir angesichts der Größe und Enormität des zu beurteilenden Gegenstandes an die Grenzen unserer Einbildungskraft. Der Gegenstand übersteigt unser Vorstellungsvermögen und löst damit in uns ein Gefühl der Erhabenheit und der Achtung aus. Dabei erleben wir zuerst eine Unlust, weil der zu beurteilende Gegenstand in seiner Größe für unsere Sinnlichkeit unzweckmäßig und damit auch unangenehm erscheint. Danach aber schlägt das Gefühl der Ablehnung in Wohlgefallen um, weil wir mithilfe unserer Vernunft die Begrenzung der Sinne überwinden und uns auf die Totalität der jeweiligen Erscheinung einlassen können. Entsprechend erwächst in uns ein Gefühl der Erhabenheit als Achtung für die höhere Bestimmung des Menschen, der als Vernunftwesen auch dort in der Lage ist, Unendlichkeit und Totalität zu denken, wo seine Sinne versagen und kein Gesamtbild mehr zustande bringen können. Die überlegenen Möglichkeiten unserer Vernunft sind ein Indiz für unsere höhere Bestimmung.
„Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.“ (S. 169)
Noch deutlicher tritt diese Erhabenheit beim Dynamisch-Erhabenen, das wir in der Natur erleben, in den Vordergrund. Angesichts eines wilden Sturmes, eines brausenden Meeres oder eines gewaltigen Vulkanausbruchs verspüren wir zuerst Unlust, weil wir uns bedroht fühlen. Danach aber folgt die Einsicht, dass wir als Vernunftwesen auch der Gewalt der Natur überlegen sind. Wir fühlen uns in unserem Sein als freie, vernünftige Wesen bestätigt und gelangen zu einer erhabenen Art von begeistertem Selbstgefühl. Wir fühlen den Mut, uns in unserer Bedeutung mit der Allgewalt der Natur messen zu können.
Die Wirkung des Schönen und Erhabenen
Die Erfahrung von Schönheit und Erhabenheit hat einen kultivierenden Einfluss auf die menschliche Natur, in der das Vermögen zu diesen Gefühlen angelegt ist. Gleichzeitig ermutigen uns diese Erfahrungen auch, unsere Veranlagung zu praktischen, moralischen Ideen weiterzuentwickeln. Auf diese Weise entsteht eine Wechselwirkung zwischen dem ästhetischen Urteil über das Schöne und Erhabene und der moralischen Einstellung.
„Man sieht hieraus auch, dass die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlasst, müsse gesucht werden.“ (S. 179)
Neben dem kultivierenden Einfluss dieser Urteile tritt die Fähigkeit, moralische Handlungen aus Pflicht in ihrer Schönheit und Erhabenheit schätzen zu lernen. So entsteht eine Kultur des moralischen Gefühls und das Schöne wird zum Symbol des Guten. An der Wertschätzung des Schönen und Erhabenen können wir die Wertschätzung des Guten üben.
Die Teleologie in der Natur
Beim Beurteilen des Schönen und Erhabenen tritt eine subjektive Zweckmäßigkeit zutage: Jeder Mensch erfährt diese Zweckmäßigkeit dort, wo das Schöne ein Gefühl der Lust und das Unendliche, Gigantische ein Gefühl der lustvollen Erhabenheit auslöst.
„Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zur Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann.“ (S. 186)
Wir sind aber auch von unserer Natur aus daraufhin orientiert, eine objektive Zweckmäßigkeit zu erkennen. Die Stimme der Vernunft in uns bewegt uns dazu, das große System der Zwecke in der Natur zu erkennen. Die Schönheit der Natur wird als solche beurteilt, weil sie mit dem freien Spiel unseres Erkenntnisvermögens in positiver Weise harmoniert. Dadurch wird ein Lustgefühl ausgelöst und wir werden gleichzeitig auf die umfassende Zweckmäßigkeit in der Natur hingewiesen. Diese Zweckmäßigkeit ist aber ein von der Natur unabhängiges Phänomen: Wir sind es, die dazu veranlagt sind, die Zwecke in der Natur zu sehen. Die Frage, ob die Natur tatsächlich solchen Zwecken gemäß funktioniert, bleibt davon unberührt.
„Nun sage ich: Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten.“ (S. 297)
Damit wir aber überhaupt in der Lage sind, zu einer systematischen Erkenntnis der Natur zu gelangen, sind wir gezwungen, in dieser eine objektive Zweckmäßigkeit zu identifizieren. Dies führt unweigerlich zu der Annahme eines Endzwecks. Damit stoßen wir in den Bereich der Begriffe der praktischen Vernunft vor. Unsere Vernunft lehnt rein mechanistische Erklärungen von Naturvorgängen dort ab, wo lebendige Organismen betroffen sind. Ausgehend von der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen gelangen wir zu der Frage, welcher Zweck der Natur als Ganzes zugrunde liegt. Was die reflektierende Urteilskraft anbelangt, ist der letzte Zweck der Natur niemand anders als der Mensch. Für den einzelnen Menschen ist der Endzweck die eigene Glückseligkeit. Die Glückseligkeit wird zum einen durch Befolgung des moralischen Gesetzes ermöglicht („Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“). Zum anderen können wir mit unserer Urteilskraft auch in der Natur die Glückseligkeit des Menschen als Endzweck erkennen. Am Ende fällt beides zusammen: Das moralische Gesetz zeigt uns, wie wir zu leben haben, damit wir Glückseligkeit erreichen können. Und unsere Vernunft drängt darauf, die Natur als so ausgerichtet zu erkennen, dass wir bei der Befolgung des Moralgesetzes tatsächlich Glückseligkeit erreichen.
„Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.“ (S. 324)
Damit die Natur die Glückseligkeit des Menschen fördern kann, bedarf es aus praktischer Sicht der Notwendigkeit, die Existenz Gottes anzunehmen, der die Natur entsprechend geschaffen und ausgerichtet hat. Auch müssen wir einen Zeitrahmen zur Erreichung der Glückseligkeit annehmen, der in unserer Erfahrung über den menschlichen Tod hinausreicht. Das führt uns zu den beiden Vernunftideen Gott und Unsterblichkeit. Über deren Existenz können wir jedoch keine Gewissheit erlangen, sondern es handelt sich um regulative Elemente des Vernunftglaubens. Allein die Freiheit des Menschen kann in praktischer Hinsicht als bestimmt vorausgesetzt werden. Letztendlich bleibt uns daher vor allem die Aufgabe, unsere Möglichkeiten als Wesen, die zwar teilweise der Natur unterworfen sind, die aber durch ihre Freiheit weitgehend ihre Selbstbestimmung verwirklichen können, in positiver und verantwortungsvoller Weise zu nutzen.
„Es ist dem menschlichen Verstande unumgänglich notwendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden. Der Grund davon liegt im Subjekte und der Natur seiner Erkenntnisvermögen.“ (S. 354)
Das ästhetische und das teleologische Urteil schärfen unsere Sinne für diese Zusammenhänge. Sie wirken erzieherisch und schlagen eine Brücke zwischen unserem Erkenntnisvermögen und unserem Willen, zwischen Natur und Freiheit, zwischen theoretischer und praktischer Philosophie.
Zum Text
Aufbau und Stil
Auch in seiner dritten Kritik hält sich Kant an eine strenge Systematik. Da die Urteilskraft nach Kant auf zweifache Weise existiert, nämlich als ästhetische und als teleologische, muss auch die Kritik der Urteilskraft in zwei Schritten erfolgen: Die „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ und die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ bilden die beiden Hauptteile des Buches. Im ersten Teil wird das erfahrungsunabhängige Beurteilungsvermögen im Bereich der Sinneswahrnehmung untersucht. Dieser Abschnitt ist unterteilt in eine „Analytik der ästhetischen Urteilskraft“, eine „Analytik des Schönen“ und eine „Analytik des Erhabenen“. Zum Abschluss des ersten Teils folgt die entsprechende „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“.
Im zweiten Teil werden Analytik und Dialektik der teleologischen Urteilskraft behandelt, die sich auf die von Kant so gedachte objektive Zweckmäßigkeit der Natur richtet. Den Abschluss des Werks bildet ein Anhang über die „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“. Der Stil ist wie bei Kant üblich durchweg trocken und akademisch. Durch die vielen Schachtelsätze mit zahlreichen eingeflochtenen Erklärungen und Relativierungen wird auch dieses Werk Kants zu einer Mammutaufgabe für den Leser. Letztendlich hat sich Kant, wenn es ihm um Klarheit ging, mit seinem Stil keinen Dienst erwiesen, denn seine Schreibweise ist mit ein Grund für viele Missverständnisse und lässt auch unter Experten Raum für einen Gelehrtenstreit darüber, was Kant an gewissen Stellen nun wirklich aussagen wollte.
Interpretationsansätze
- Die Kritik der Urteilskraft bildet den Schlussstein in Kants „kritischem Geschäft“. Ohne sie kann man Kants kritische Philosophie nicht verstehen, denn die Urteilskraft ist das entscheidende Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (den Gegenständen der ersten beiden Kritiken), zwischen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie. Die drei Kritiken könnten vereinfachend auch mit Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik überschrieben werden.
- In der Kritik der Urteilskraft entwickelte Kant mit der Idee der „zweckfreien Schönheit“ einen neuen Kunstmaßstab, der in seiner Konsequenz die bis heute nachwirkende Freiheit und Autonomie der Kunst begründete.
- Indem Kant grundsätzlich jedem Menschen die Fähigkeit zu einem allgemeinen Geschmacksurteil zugesteht, betont er den Wert subjektiver Urteile und ermutigt dazu, Vertrauen in die eigene ästhetische Urteilsfähigkeit zu haben.
- Mit seiner Herausarbeitung des kultivierenden und moralfördernden Effektes von Schönheit und Erhabenheit weist Kant den schönen Künsten und indirekt auch dem Erhalt der natürlichen Umwelt einen erhöhten Stellenwert zu. Allerdings zeigt die Kunstbegeisterung z. B. der Führungsgarde des Dritten Reichs, dass Schönheit und Kultiviertheit nicht zwingend moralfördernd wirken.
- Kants Versuch, die ersten beiden Kritiken durch die Kritik der Urteilskraft miteinander zu verbinden, überzeugt nicht. Dies dürfte daran liegen, dass die Gebiete Erkenntnis (Denken) und Ethik (Moral) voneinander unabhängig zu sein scheinen.
Historischer Hintergrund
Der Königsberger Vermittler
Die Philosophie zur Zeit Immanuel Kants war von der Aufklärung und dem mit ihr einhergehenden bewussten Bruch mit traditionellen Überlieferungen geprägt. Durch einen radikalen Neuanfang wollte man die autoritäre Vergangenheit überwinden und zu einer neuen Freiheit finden. An die Stelle der mittelalterlichen Scholastik traten nun zwei extrem entgegengesetzte philosophische Richtungen: In England begründeten Francis Bacon, John Locke und David Hume den Empirismus, der das sinnlich Erfassbare und die Erfahrung als Basis für die Erkenntnis betrachtete. Dem gegenüber standen in Frankreich René Descartes und in Deutschland Gottfried Wilhelm Leibniz sowie Christian Wolff, die als Rationalisten einen unerschütterlichen Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft zur letztendlichen Klärung aller Erkenntnisfragen hatten. Kant erkannte Schwächen in beiden Positionen: Die Empiristen verbauten sich den Weg zu tiefer gehender Erkenntnis, weil sie sich allein auf die Sinneserfahrungen beschränkten; die Rationalisten verloren sich gerne in Vernünftelei und realitätsferner Schwärmerei, weil sie losgelöst von den realen Erfahrungen philosophierten. Kant versuchte in seinen kritischen Schriften, zwischen beiden Positionen zu vermitteln, und wollte „die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen glücklich durchbringen“. Die Ästhetik zu Kants Zeit war maßgeblich von Alexander Gottlieb Baumgarten geprägt, der sie mit seinen Meditationes (1735) als eigenständige philosophische Disziplin in Deutschland erst begründet hatte.
Entstehung
Mit seinen beiden ersten Kritiken, der Kritik der reinen Vernunft (1781) und der Kritik der praktischen Vernunft (1788), wollte Kant die Grenzen und Bedingungen des menschlichen Erkenntnisvermögens ausloten. Für die theoretische, reine Vernunft förderte er zutage, dass unser Erkenntnisvermögen sehr begrenzt sei: Unser Verstand verarbeite nach bestimmten vorgegebenen Anschauungsformen (Raum und Zeit) und Denkkategorien die von den Sinnen vermittelten Erfahrungen. Eine gesicherte Erkenntnis der „Dinge an sich“ lasse sich aber nicht gewinnen; nur die Welt der Phänomene, der Erscheinungen sei uns zugänglich. Im Bereich der praktischen Vernunft seien die Verhältnisse dagegen umgekehrt: Wir könnten – vor jeder Erfahrung – das Sittengesetz, wie es sich im kategorischen Imperativ ausdrückt, auf der Vernunftebene als absolut notwendig erkennen. Damit hätten wir eine feste Basis für eine Moral, die für alle Menschen unter allen Bedingungen gelte. Gleichzeitig lasse sich dieses Sittengesetz in seiner Gültigkeit aber nicht durch unsere alltägliche Lebenserfahrung bestätigen. Zwischen Theorie und Praxis klaffe eine unüberbrückbare Kluft.
Kant erkannte, dass ein weiteres Element notwendig war, um diese Lücke zu schließen und die menschliche Lebenserfahrung zu vereinheitlichen. Mit seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft (1790), versuchte er, die Kluft zu überbrücken und eine Verbindung zwischen dem auf dem Verstand und der Erfahrung basierenden Erkenntnisvermögen und dem auf der reinen praktischen Vernunft basierenden Willen zu finden. Im Bereich des Schönen und der Teleologie knüpfte Kant an ältere philosophische Traditionen an, interpretierte diese aber um. Mit seinem Konzept des Erhabenen folgte er weitgehend der angelsächsischen Tradition, vor allem Edmund Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757).
Wirkungsgeschichte
Die Wirkung der Kritik der Urteilskraft auf die Bereiche von Wissenschaft und Kultur war sehr unterschiedlich. Im Gebiet der Biowissenschaften, die ja in besonderer Weise von den Ausführungen Kants zur teleologischen Urteilskraft hätten profitieren können, setzte sich spätestens seit Charles Darwin das evolutionäre Erklärungsprinzip endgültig durch (Die Entstehung der Arten, 1859). Kants teleologische Konzepte gewannen daher nur wenig Bedeutung. Einen positiven Einfluss hatte Kants Kritik der Urteilskraft auf die beiden großen Dichter der deutschen Klassik, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Goethe, der ja gleichzeitig künstlerisch und naturwissenschaftlich tätig war, schrieb, er habe Kants dritter Kritik „eine höchst frohe Lebensepoche“ zu verdanken. Noch stärker machte sich Schiller die Kant’sche Philosophie zu eigen. Vor allem in seinen ästhetischen Schriften wie Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793) oder Über das Erhabene (1793) ist die Beeinflussung Kants deutlich zu erkennen. Den weitestgehenden Einfluss hatten Kants Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft auf die philosophische Disziplin der Ästhetik und auf das Kunstverständnis. Mit seinen Thesen begründete Kant die heute noch gültige Vorstellung von der Zweckfreiheit und Autonomie der Kunst. Noch Theodor W. Adorno setzte sich in seiner Ästhetischen Theorie (1970) ausführlich mit Kant auseinander. Während sich „das Schöne“ am Ende des 19. Jahrhunderts als Kunstbegriff verbrauchte, setzte „das Erhabene“ durch die postmoderne Kunsttheorie zu einem Revival an (Jean-François Lyotard: Das Erhabene, 1985).
Über den Autor
Immanuel Kant wird am 22. April 1724 in Königsberg (dem heutigen Kaliningrad) geboren und wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Erziehung ist stark von den Überzeugungen seiner tiefreligiösen Eltern geprägt. Nach seiner Gymnasialzeit an einer pietistischen Schule studiert Kant u. a. Mathematik, Naturwissenschaften, Theologie und Philosophie in Königsberg. 1746 verlässt er nach dem Tod seines Vaters die Universität und wird, auch um seine Geschwister ernähren zu können, Hauslehrer bei wohlhabenden Familien in der Umgebung von Königsberg. Durch seine Kontakte zum Adel erlernt er gehobene Umgangsformen. Nach seiner Rückkehr an die Universität promoviert und habilitiert er mit Veröffentlichungen aus dem Bereich der Astronomie und Philosophie. Seine Vorlesungen an der Universität erfreuen sich großer Beliebtheit. Trotzdem bewirbt er sich 1758 vergeblich um die vakant gewordene Stelle eines Professors für Logik und Metaphysik in Königsberg. Angebote einer Professur aus Jena und Erlangen lehnt er aus Verbundenheit zu seiner Heimatstadt ab. Erst 1770 wird er in seinem Wunschbereich Professor in Königsberg, später auch zeitweise Rektor der Universität. Während der knapp 30 Jahre an der Universität führt Kant ein streng geregeltes Leben. Seine Tagesabläufe sind exakt durchgeplant, die Königsberger können die Uhr nach Kants Tagesprogramm stellen. 1781 veröffentlicht er die Kritik der reinen Vernunft, die erste seiner drei Kritiken. Weil seine Thesen weitgehend auf Unverständnis stoßen oder gar nicht erst beachtet werden, veröffentlicht er 1787 eine zweite, veränderte Fassung dieser ersten Kritik. 1788 folgt die Kritik der praktischen Vernunft und 1790 die Kritik der Urteilskraft. In der Zwischenzeit setzen sich Kants Ideen durch: Zu seinen Lebzeiten gibt es bereits über 200 Schriften zu seinen Werken, und selbst Normalbürger diskutieren seine Ideen beim Friseurbesuch. Am 12. Februar 1804 stirbt Kant, inzwischen weltberühmt, in seiner Heimatstadt Königsberg, angeblich mit den Worten: „Es ist gut.“
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