Janka Oertel
Ende der China-Illusion
Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen
Piper, 2023
What's inside?
Es ist Zeit, China realistisch zu sehen und die eigenen Interessen und Werte energischer zu vertreten.
Rezension
Viele Menschen leben in der bequemen Illusion einer Win-win-Kooperation mit China. Janka Oertel will davon nichts wissen und zerpflückt jedes Argument, das dafür sprechen könnte. Bei Themen wie wirtschaftlicher Stabilität, militärischer Abenteuer oder Klimaschutz sieht sie China vor allem als Risikofaktor. In ihrer Analyse beklagt sie die Kurzsichtigkeit, Naivität und Profitgier westlicher Akteure im Umgang mit China. Sie fordert die Verantwortlichen auf, sich von der Illusion einer friedlichen Partnerschaft mit China zu verabschieden und für die eigenen Interessen und Werte zu kämpfen.
Take-aways
- Unser Bild von China muss auf den Prüfstand.
- Die Kommunistische Partei handelt willkürlich und ohne wirtschaftliche Vernunft.
- Xi Jinping will China unabhängiger von der Welt und die Welt abhängiger von China machen.
- Chinas Führung versucht, Europäer und Amerikaner gegeneinander auszuspielen.
- China strebt nach militärischer Vorherrschaft und rüstet sich für einen Krieg gegen die USA.
- Die Chinesen verstehen Klimaschutz als Kampf um Macht und Ressourcen.
- China will den globalen Süden zu einem antiwestlichen „China-Block“ zusammenschweißen.
- Wir müssen die Abhängigkeit von China reduzieren, einen Dialog auf Augenhöhe einfordern und eine neue, regelbasierte internationale Ordnung schaffen.
Zusammenfassung
Unser Bild von China muss auf den Prüfstand.
China und Deutschland haben in den vergangenen 30 Jahren enorm voneinander profitiert: Kapital, Technologien und Innovationen made in Germany befeuerten das chinesische Wirtschaftswunder, während deutsche Unternehmen günstig in China produzieren und neue Märkte erobern konnten.
„Wenn die Grundlage der Modernisierung Chinas der Aufbau einer eigenen Industriebasis war, dann lieferte Deutschland dafür die Bauteile.“
Unbequeme Tatsachen wurden dabei gern verdrängt und Bedenken mit Sprüchen wie „China ist eben anders“ abgetan. Inzwischen benennen viele die Probleme und stellen den Mythos vom friedlichen Giganten China infrage. Dennoch gilt ein weicher, wirtschaftsfreundlicher Kurs den meisten Akteuren immer noch als alternativlos. Das wirft Fragen auf: Alternativlos für wen? Wem nutzt der fortgesetzte Kuschelkurs gegenüber der chinesischen Führung? Wem schadet er und wie sähe eine Alternative dazu aus?
Die Kommunistische Partei handelt willkürlich und ohne wirtschaftliche Vernunft.
Die Kommunistische Partei Chinas behauptet gern von sich, nur sie sei in der Lage, das potenziell chaotische Riesenland zusammenzuhalten und unbegrenztes Wirtschaftswachstum zu garantieren. Viele im Westen glauben diese Erzählung. Deutsche Vorstandsvorsitzende preisen die pragmatische Wirtschaftspolitik, die tadellose Infrastruktur und die motivierten Arbeitskräfte in China. Und sie hoffen immer noch, dass die wirtschaftliche Entwicklung eines Tages auch politische Reformen nach sich ziehen wird.
Tatsächlich ist die Partei längst zu einem unberechenbaren Risiko geworden. Als Xi Jinping 2012 an die Macht kam, war das System im Innern fragil und von Korruption zerfressen. Xi ließ Tausende Beamte verhaften und Unternehmer enteignen, er förderte den Aufbau mächtiger Staatskonzerne und nahm die Privatwirtschaft an die kurze Leine. Jack Ma, Gründer der Alibaba Group und reichster Mann Chinas, musste erleben, wie Xi 2021 den Börsengang des mit 300 Milliarden Dollar bewerteten Tochterunternehmens Ant Financial kurzerhand absagte. Ma hatte es gewagt, die Partei zu kritisieren.
„Die Partei vernichtet Kapital, zerstört Wachstum, das nicht zu kontrollieren ist, und verschreckt ausländische Investoren.“
Ein anderes Beispiel: Während der Coronapandemie setzte Xi den absoluten Machtanspruch der Partei ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Verluste durch. Erst als der Unmut und der wirtschaftliche Schaden durch die Null-Covid-Strategie zu groß wurden, vollzog er über Nacht eine 180-Grad-Wende: Das Virus wurde auf eine schlecht geschützte Bevölkerung losgelassen, Protestierende wurden identifiziert, eingeschüchtert und verhaftet.
Xi Jinping will China unabhängiger von der Welt und die Welt abhängiger von China machen.
Xi sieht China von Feinden umgeben. Wie sein Vorbild Mao begegnet er ihnen mit Kampfgeist und einem Bekenntnis zur Autarkie: Er will sein Land von westlichen Staaten, die ihm Ärger bereiten und die er nicht umfassend kontrollieren kann – allen voran die USA –, entkoppeln. Gleichzeitig will er sie von China abhängig machen. Neu ankoppeln möchte er sein Land an wohlgesonnene Rohstofflieferanten wie Russland, Iran und Saudi-Arabien, aber auch an Staaten in Lateinamerika, Afrika und Südostasien. Das Ziel seiner Wirtschaftspolitik ist, ausländische Wettbewerber in China zu marginalisieren und die Märkte im Ausland zu dominieren.
„Die Zeit, in der China Europa so sehr brauchte, dass es zu Zugeständnissen und zur Einhaltung verabredeter Regeln bereit war, ist vorbei.“
Das Projekt der sogenannten Neuen Seidenstraße galt lange als wichtiger Pfeiler dieser Strategie. Westliche Beobachter sprachen ehrfürchtig vom perfekten Plan der Chinesen, die globale Herrschaft zu übernehmen, und erklärten im selben Atemzug, dass Widerstand dagegen zwecklos sei. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. China hat Kredite im Wert von rund 1 Billion Dollar an 150 Länder weltweit vergeben. Vielerorts sind die Kosten explodiert, Straßen enden im Nirgendwo, Staaten stehen vor dem Bankrott. Zwar hat sich die chinesische Wirtschaft weltweit stärker aufstellen können. Aber als Heilsbringer für den sogenannten globalen Süden hat sich China mit dieser Initiative nicht erwiesen.
Chinas Führung versucht, Europäer und Amerikaner gegeneinander auszuspielen.
Für deutsche Unternehmen bleibt der chinesische Markt unwiderstehlich. Allein zwischen 2010 und 2020 haben sich die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in China verdreifacht. Knapp ein Drittel davon entfällt auf die Autoindustrie. Ein solch einseitiges Engagement birgt Risiken, eine Tatsache, die die USA längst erkannt haben. Zwar wächst auch der Handel zwischen den USA und China weiter. Doch die Amerikaner akzeptieren nicht, dass die Chinesen mit ihrer aggressiven Handelspolitik amerikanische Sicherheitsinteressen unterwandern, und beschränken inzwischen den Export kritischer Technologien.
„Wenn Europa eine eigenständige Politik gegenüber China verfolgen will, sollte der Fokus nicht auf der Abgrenzung zu den USA, sondern auf der Positionierung der EU zu Peking liegen.“
Die wachsenden Spannungen zwischen den rivalisierenden Großmächten stellen die Europäer vor ein Dilemma: Einerseits möchten sie es sich nicht mit den USA verderben. Andererseits wollen sie nicht auf die erhofften Traumrenditen in China verzichten. Manche Staats- und Unternehmenslenker wünschen sich deshalb mehr Unabhängigkeit von den USA, und die Chinesen tun alles, um die transatlantischen Uneinigkeiten für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Letztlich müssen Europa und damit auch Deutschland sich entscheiden: zwischen kurzfristigen Profiten oder langfristiger Wettbewerbsfähigkeit. Eine Abkopplung Europas von den USA wäre eine Bankrotterklärung – und würde in Peking auch so verstanden.
China strebt nach militärischer Vorherrschaft und rüstet sich für einen Krieg gegen die USA.
China präsentiert sich gern als harmloser, friedlicher Riese, der aus eigener Kraft einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg geschafft hat und nun andere Nationen an seinem Erfolg teilhaben lassen will. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Seit 25 Jahren rüsten die Chinesen massiv auf und modernisieren ihre Streitkräfte im Eiltempo. Im Innern schlägt die chinesische Volksbefreiungsarmee Protestbewegungen nieder und sichert so die Macht der Partei. Gegenüber Indien und im Südchinesischen Meer setzt die chinesische Führung ihre Territorialansprüche aggressiv durch. Unter anderem, indem sie zivile Fischerboote als verlängerten Arm der Marine einsetzt und so die Ozeane militarisiert.
„Die fast 24 Millionen Einwohner Taiwans sind technologisch hochinnovativ, wirtschaftlich erfolgreich und haben unter Beweis gestellt, dass Demokratie und chinesische Kultur ganz hervorragend zusammen funktionieren können – wenn man sie denn lässt.“
Oberste Priorität hat jedoch die Einverleibung Taiwans: Der wohlhabende, demokratisch geführte Inselstaat ist für die chinesische Regierung eine Provokation, die es zu beseitigen gilt. Noch stellen sich die USA als De-facto-Schutzmacht dagegen. Doch die Weltgemeinschaft sollte sich besser heute als morgen auf eine Eskalation einstellen, deren wirtschaftliche Folgen die Coronapandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in den Schatten stellen könnten.
Die Chinesen werden sich nicht mit der Rolle einer starken Regionalmacht begnügen. Sie haben Militärbasen am Horn von Afrika und in Tadschikistan nahe der afghanischen Grenze errichtet. Sie verstärken ihre militärische Präsenz und liefern Rüstungsgüter in alle Welt, mit dem Ziel, sich auf einen möglichen Krieg gegen die USA vorzubereiten.
Die Chinesen verstehen Klimaschutz als Kampf um Macht und Ressourcen.
Beim Klimaschutz inszeniert Peking sich gern als verantwortungsbewusster Vorreiter, der sich uneigennützig für die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer einsetzt.„Wir brauchen China als Partner für den Klimaschutz“, tönt es aus Brüssel. Aber braucht China dafür Europa? Eher nicht. Die chinesische Führung torpediert die internationalen Klimaverhandlungen und setzt nicht auf Partnerschaft, sondern auf Wettbewerb.
„Der Klimawandel wird einige Gewinner und viele Verlierer hervorbringen. Es geht also auch um die (Neu-)Verteilung von Wohlstand, Zugang zu Lebensmitteln, Energie und eben letzten Endes politische Macht.“
Schon heute liegen die Pro-Kopf-Emissionen in China knapp über dem europäischen Durchschnitt, und die chinesische Führung ist sich des Problems durchaus bewusst. Nirgendwo auf der Welt schreitet die Nutzung erneuerbarer Energien so rasch voran wie in China. Das Land ist zur grünen Energie-Supermacht aufgestiegen. Die Chinesen produzieren 97 Prozent der Solarpaneele weltweit, sie haben den europäischen Markt für Wind- und Solarenergie fast vollständig übernommen und sind gerade dabei, ihre „Partner“ mit Elektroautos made in China zu überholen.
Europa und vor allem Deutschland müssen reagieren und beim Klimaschutz in den Kampfmodus schalten, statt immer nur die Moralkeule zu schwingen. Es geht darum, besser, schneller, innovativer und nachhaltiger zu werden, den Export neuer Technologien voranzutreiben und eine Führungsrolle zu übernehmen. Nur so hat das deutsche Wirtschaftsmodell langfristig eine Chance.
China will den globalen Süden zu einem antiwestlichen „China-Block“ zusammenschweißen.
Die chinesische Führung hat zum offenen Systemwettbewerb aufgerufen. Westlichen Demokratien stellt sie ihre Vision einer marxistisch-leninistischen Gesellschaftsordnung gegenüber, die den Menschen stabiles Wachstum und steigenden Wohlstand bringen soll – um den Preis eingeschränkter Freiheitsrechte und totaler Überwachung. In Chinas Städten kommen auf 1000 Einwohner fast 373 Kameras. Zum Vergleich: In London, der Stadt mit der höchsten Kameradichte in Europa, sind es 13.
„Der staatlich gelenkte Kapitalismus marxistisch-leninistischer Prägung ist eine riesige Herausforderung für das existierende internationale Handelssystem, weil er erfolgreicher und innovativer ist, als jemals für möglich gehalten wurde.“
Die intensive Annäherung an Russland – immerhin der größte Flächenstaat der Welt, Atommacht und ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat – ist ein wichtiger Schritt, um den globalen Süden zu einem „China-Block“ zusammenzuschweißen. Darüber hinaus sichern sich die Chinesen seit Jahren Schlüsselfunktionen in strategisch wichtigen internationalen Organisationen. Sie versorgen die Berichterstatter in Entwicklungs- und Schwellenländern mit kostenlosen, chinafreundlichen Inhalten und vermarkten ihr Entwicklungsmodell auf der ganzen Welt als die ehrlichere und damit bessere Alternative. Dass sie dabei viel von Armutsbekämpfung und grüner Entwicklung reden, aber wenig liefern, geht im Propagandagewitter oft unter.
Wir müssen die Abhängigkeit von China reduzieren, einen Dialog auf Augenhöhe einfordern und eine neue, regelbasierte internationale Ordnung schaffen.
Als Bundeskanzler Olaf Scholz Ende 2022 nach Peking reiste, um der chinesischen Regierung ein Bekenntnis gegen den Einsatz von Atomwaffen abzuringen, ließ er sich von einer großen Wirtschaftsdelegation begleiten. Deutlicher hätte er seine Prioritäten nicht zum Ausdruck bringen können. Offenbar glauben einige Menschen auf höchster Regierungsebene immer noch, China beschwichtigen, überzeugen und auf ihre Seite ziehen zu können. Aber das ist eine gefährliche Illusion.
Xi Jinping und Wladimir Putin sind Verbündete, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Beide sind besessen von der Idee, den Systemwettbewerb gegen den Westen zu gewinnen – koste es, was es wolle. Statt uns selbst weiter Märchen zu erzählen, müssen wir das Narrativ ändern und mit dem ewigen Wegschauen, Wegdiskutieren und Wegducken aufhören. Notwendig ist Folgendes:
- Diversifizierung und De-Risking: Unternehmen müssen ihre Lieferketten und Geschäftsmodelle auf zu große Abhängigkeiten von China überprüfen und diese reduzieren. Die Politik sollte dafür den Rahmen setzen und der Öffentlichkeit erklären, warum sich kurzfristige Kostensteigerungen langfristig auszahlen.
- Rückbesinnung auf eigene Stärken: Freiheitlich-demokratische Staaten leben von offenen Debatten. Bei aller Kritik sollten wir uns aber nicht kleiner machen, als wir sind. Deutschland hat die Grundlagen für die Energiewende entwickelt und kann sie weiter mitgestalten, wenn die Regierung dem wettbewerbsfeindlichen Staatskapitalismus Chinas beherzte staatliche Investitionen entgegensetzt.
- Dialog auf Augenhöhe: Die chinesische Regierung schreckt nicht davor zurück, ein in Deutschland tätiges, privates chinesisches Forschungsinstitut zu sanktionieren, und sie erdreistete sich, auf einer Pressekonferenz in Berlin Nachfragen zu verbieten. Damit muss Schluss sein. Es ist höchste Zeit, klare Grenzen zu ziehen und für jedes Zugeständnis eine Gegenleistung einzufordern.
- Eine neue, regelbasierte Ordnung schaffen: Die alte liberale Weltordnung ist tot. China hat die heilige Kuh des Westens geschlachtet, und was noch übrig ist, wird im Systemwettbewerb zerrieben. Wir müssen daher neue, attraktive Strukturen mit klaren Spielregeln schaffen für alle, die bereit sind, sich daran zu halten.
Über die Autorin
Janka Oertel ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin und leitet das Asienprogramm des European Council of Foreign Relations.
Dieses Dokument ist für den persönlichen Gebrauch bestimmt.
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