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Die Politik der Gesellschaft

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Die Politik der Gesellschaft

Suhrkamp,

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12 take-aways
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What's inside?

Politiker halten sich nicht an ihre Versprechen, sind heuchlerisch und machtbesessen – aber das muss so sein, meinte Deutschlands berühmtester Soziologe Niklas Luhmann.


Literatur­klassiker

  • Soziologie
  • Moderne

Worum es geht

Politik als System

Politik gilt als schmutziges Geschäft. Politiker sind nur an ihrer persönlichen Macht interessiert, kümmern sich nicht um die Anliegen ihrer Wähler und erst recht nicht um die Versprechen, die sie vor der Wahl abgegeben haben, lautet die weit verbreitete Kritik. Schnell verurteilt man das scheinbar unmoralische Verhalten der Volksvertreter und fordert grundlegende Änderungen. Doch das geht gar nicht, hält der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann dagegen: Wenn man die Politik als System betrachtet, das sich - wie alle anderen Systeme auch - selbst erhält und steuert, werden viele Phänomene schlüssig, die von außen betrachtet merkwürdig oder gar unmoralisch erscheinen. Niklas Luhmanns Systemtheorie hat gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft entscheidend beeinflusst. In dem Buch Die Politik der Gesellschaft, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, wendet er diese Theorie auf das politische System an. Seine Analyse ist gewollt wertfrei; Luhmann will nicht kritisieren oder verändern, sondern lediglich die Funktionsweise des politischen Systems beschreiben. Aber gerade dadurch eröffnet er neue, spannende Perspektiven auf ein immer aktuelles Thema.

Take-aways

  • Niklas Luhmann ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts.
  • In Die Politik der Gesellschaft wendet er die von ihm entwickelte Systemtheorie auf die Politik an.
  • Das politische System kommt ohne Macht und Gewalt nicht aus: Indem der Staat Gewalt ausübt, kann er andere Formen von Gewalt unterdrücken.
  • Politik bedeutet vor allem die Möglichkeit, bindende Entscheidungen zu treffen.
  • Wie Menschen sich entscheiden, hängt immer von den jeweiligen Umständen ab.
  • In unserer schnelllebigen Zeit müssen Politiker auf immer neue Situationen reagieren; deshalb fallen auch ihre Entscheidungen immer wieder anders aus.
  • Obwohl die Politik es ständig versucht, kann sie die Wirtschaft praktisch nicht beeinflussen, weil diese ein eigenes System darstellt.
  • Parteien und Verbände spielen im politischen System eine wichtige Rolle: Hier werden die Themen vorbereitet, zu denen die Politik dann Entscheidungen fällt.
  • Eine ähnliche Funktion im System haben Massenmedien und die öffentliche Meinung.
  • Die öffentliche Meinung kann zwar selbst keine Probleme lösen, erleichtert aber die individuelle Meinungsfindung und ist deshalb in Demokratien notwendig.
  • Luhmanns Werk ist nicht einfach zu lesen: Sein Stil ist kompliziert und die Theorie selbst recht abstrakt.
  • Die Systemtheorie, die Phänomene nur beschreibt, ohne sie zu bewerten, eröffnet jedoch eine ganz neue Perspektive auf das Thema Politik.

Zusammenfassung

Politik und Gesellschaft

Traditionell wurden Politik und Gesellschaft als Gegensätze angesehen. Diese Trennung liegt schon im Ursprung des Wortes "Politik" begründet: Im antiken Griechenland wurde mit "pólis" die Stadt bezeichnet, bald auch das öffentliche Zusammenleben in der Stadt, im Unterschied zur häuslichen Gemeinschaft. Die Unterscheidung Politik vs. Gesellschaft wurde im Kern über Jahrhunderte hinweg beibehalten. Fruchtbarer ist es jedoch, Politik und Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht zu betrachten: Die Gesellschaft als Ganzes ist ein soziales System, in dem sich weitere Teilsysteme ausgebildet haben. Das politische System ist eines davon. Systeme erhalten sich selbst, indem sie ihre eigenen Elemente immer wieder neu erschaffen. Soziale Systeme, also auch das politische System, bestehen aus Kommunikation.

Politik und Macht

Macht ist eine Art Rückkopplungsschleife, d. h. sie entsteht dort, wo Gehorsam vorausgesetzt werden kann. Das System der Voraussetzung und Anwendung von Macht erzeugt sich selbst und erhält sich selbst aufrecht, es ist ein autopoietisches System. Dazu muss die Macht dauernd demonstriert werden, sowohl durch Symbole als auch durch tatsächliche Machtausübung. Denn Macht ist nicht stabil, sondern vergänglich; sie zerfällt rasch, wenn sie nicht gezeigt wird. Macht, auch politische Macht, ist Einfluss auf das Handeln anderer. Sie kann z. B. durch die Androhung von Sanktionen ausgeübt werden. Drei Arten von Einflussnahme lassen sich unterscheiden:

  1. Unsicherheitsabsorption: Wer Macht hat, entbindet andere von der Pflicht, selbst Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen zu müssen.
  2. Positive Sanktionen: Die Aussicht auf positive Folgen erhöht die Bereitschaft zum Gehorsam. Dazu gehören z. B. Geldzahlungen, aber auch so abstrakte Dinge wie Dankbarkeit oder ein höheres Ansehen.
  3. Negative Sanktionen: Sie sind typisch für das Medium Macht. Im Gegensatz zu positiven Sanktionen müssen negative normalerweise nicht ausgeführt werden - die Androhung allein reicht als Druckmittel aus.
„Macht beruht auf Antizipation von Gehorsam und auf Antizipation ihrer tatsächlichen Anwendung.“ (S. 28)

Macht funktioniert also u. a. auf der Basis angedrohter negativer Sanktionen. Daraus lässt sich auch erklären, warum sie immer wieder demonstriert werden muss und legitimationsbedürftig ist. Das beste Machtmittel ist physische Gewalt - auch im Staat. Dabei übt der Machthaber in der Regel diese physische Gewalt nicht selbst aus. Er trifft nur die Entscheidung, wann und wie Gewalt angewendet wird; die Ausführenden sind z. B. Polizei oder Militär. Normalerweise besitzt nur der Staat das Recht, Gewalt auszuüben; alle anderen Formen der Gewaltanwendung gelten als nicht legitim. Das hat einen positiven Effekt auf andere gesellschaftliche Systeme: Sie können sich unter diesen Umständen ganz auf ihre eigentliche Funktion konzentrieren und kommen im Wesentlichen ohne Gewalt aus. Wenn z. B. die Polizei für Sicherheit sorgt, braucht sich ein Unternehmen nicht darum zu kümmern. Es kann sich auf seine wirtschaftlichen Aktivitäten beschränken und im Falle von Störungen auf die Polizei zurückgreifen. Politische Macht und Gewalt ermöglicht also erst die Ausbildung eines differenzierten Gesellschaftssystems.

Das politische System

Wie unterscheidet sich nun das politische System von anderen sozialen Systemen? Oder anders gefragt: Was unterscheidet politische Kommunikation von anderer Kommunikation? Aus systemtheoretischer Sicht lässt sich Politik so definieren, dass sie die Kapazität zu kollektiv bindendem Handeln bereitstellt. Das heißt: Kommunikation in der Politik ist letztlich Entscheidung. Entscheidungen werden kollektiv getroffen; auch die Entscheidenden sind Teil des Systems. Entscheidungen sind bindend in dem Sinne, dass sie zur Basis für weitere Entscheidungen werden. Zugleich geht es ausdrücklich um das Bereitstellen von Kapazität: Wichtig ist nicht, dass tatsächlich entschieden wird, sondern dass grundsätzlich die Möglichkeit dazu besteht. So lässt sich erklären, wie politische Systeme entstehen: Entscheidungen müssen in jeder Gemeinschaft getroffen werden, weil diese trotz unterschiedlicher Meinungen verbindliche Regeln braucht.

„Aber andererseits gilt ebenso, dass unbenutzte Macht, also Macht, die nicht zu operativer Form gerinnt, eigentlich keine Macht ist.“ (S. 35)

Ein politisches System ist, wie alle Systeme, operativ geschlossen, d. h. es reproduziert sich selbst und kann sich auf sich selbst beziehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es von seiner Umwelt unabhängig wäre. Denn jedes gesellschaftliche System ist darauf angewiesen, dass die übrigen Systeme auch funktionieren. Die operative Geschlossenheit der Systeme lässt sich gut am Verhältnis von Politik und Wirtschaft zeigen: Politiker sind im Allgemeinen der Ansicht, dass ihre Leistung nach der wirtschaftlichen Lage beurteilt wird. Deshalb versuchen sie, die Wirtschaft zu fördern und zugleich zu kontrollieren. Das kann aber nicht funktionieren, weil die Wirtschaft - als eigenes System - ihren eigenen Gesetzen gehorcht und nicht staatlich kontrolliert werden kann. Darum kreisen Politiker permanent um einen Problembereich, auf den sie nur sehr begrenzt Einfluss haben.

Politische Entscheidungen

Politische Systeme müssen sich heutzutage mit sehr instabilen Bedingungen auseinander setzen: Die Wirtschaft verändert sich rasant, die Medien bringen immer schneller neue Informationen. Dementsprechend ist auch die Politik gezwungen, auf immer neue Gegebenheiten rasch zu reagieren. Rationale, durchdachte Entscheidungsprozesse sind immer weniger möglich. Stattdessen müssen schnelle Lösungen gefunden werden - in der Regel sind das Kompromisse. Folglich sind auch Entscheidungen kurzlebig und können sich schnell wieder ändern. Auf die ständigen Veränderungen reagiert das politische System mit immer mehr Regulierungsversuchen, die aber ihrerseits wieder neue Probleme und Veränderungen auslösen. Der fortwährende Wandel beeinflusst Entscheidungsprozesse auch auf andere Weise: Entscheidungen richten sich nach den Präferenzen der Entscheidenden. Diese Präferenzen sind jedoch nicht statisch, sondern können sich jederzeit ändern, z. B. wenn die äußeren Bedingungen sich ändern. Genau das ist in der Politik, wo auf ständig wechselnde Situationen reagiert werden muss, immer der Fall. Das ist der Grund, weshalb Politiker so oft ihre Meinung ändern und Versprechen nicht einhalten. Es handelt sich hier also um eine Eigenschaft des Systems, nicht um eine moralische Schwäche der Akteure.

„Macht ist also nicht etwas, was in der Politik auch vorkommt, sie ist die Quintessenz von Politik schlechthin.“ (S. 75)

Bei der Frage, wie Entscheidungen getroffen werden, spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Denn Entscheiden bedeutet, dass die Zukunft anders aussehen soll als die Vergangenheit. Ein Thema - etwa die Ladenöffnungszeiten - wird dann zum Entscheidungsthema, sobald es als kontingent begriffen wird. Kontingent heißt, dass etwas auch anders sein könnte, als es ist: Die Ladenöffnungszeiten sind gesetzlich festgelegt, man könnte sie aber auch ändern. Kontingenz selbst sagt nichts darüber aus, welche Entscheidung schließlich getroffen wird. Sie führt jedoch dazu, dass man sich nicht unwiderlegbar rechtfertigen kann, denn man hätte sich eben auch anders entscheiden können. Um Entscheidungen zu treffen, greifen Systeme auf Skripts und Schemata zurück. Das können Vorgänge sein, die sich immer wiederholen - etwa Sitzungen -, aber auch bestimmte Begriffe oder Grundannahmen, die im System nicht in Frage gestellt werden. Dabei müssen sich diese Skripts nicht an der Realität orientieren. Sie legen grundsätzliche Präferenzen und Urteile des Systems fest und helfen so bei der Entscheidungsfindung.

„Die Ausdifferenzierung eines politischen Systems kann nur gelingen, wenn innerhalb dieses Systems Konflikte zugelassen werden.“ (S. 94)

Über festgelegte Grundannahmen funktioniert auch das Gedächtnis des politischen Systems: Es wird über Werte und Interessen gesteuert. Abstrakte Werte, wie etwa Freiheit oder Gleichheit, lassen sich leichter im Gedächtnis abspeichern und weitergeben als konkrete Erfahrungen. Deshalb orientieren sich die Handlungen und Entscheidungen des Systems an solchen allgemein gültigen Werten. Welche Werte eine Gesellschaft realisiert, wird davon bestimmt, welche Gruppen in der Gesellschaft ihre Interessen vertreten.

Staat und politische Organisationen

Ein Staat wird im Wesentlichen durch drei Merkmale definiert: Erstens umfasst er ein bestimmtes Gebiet. Zweitens muss dieses Gebiet von Menschen bewohnt sein, d. h. es muss ein Staatsvolk geben. Das dritte Merkmal ist das Vorhandensein einer Staatsgewalt. Sinn dieser Gewalt - die durch Militär und Polizei ausgeübt werden kann - ist es, andere Gewalt, d. h. Verbrechen, zu verhindern. Von außen betrachtet, repräsentiert der Staat ein Territorium. Innerhalb dieses Territoriums ist er jedoch nicht mehr als eine Organisation, an der sich alle anderen Organisationen orientieren können. Der Staat bildet sozusagen eine Art Zentrum, und die politischen Organisationen (z. B. Parteien) befinden sich an der Peripherie. Ihre Aufgabe im System ist es, dem Staat in gewissem Sinne vorzuarbeiten: In Parteien und Interessenverbänden werden politische Themen aufgegriffen und diskutiert, ohne dass schon Entscheidungen fallen müssen. Nach dieser Vorarbeit liegt die endgültige Entscheidungsfindung beim Staat. Dieses System hat auch Nachteile: Wenn die Aufgabe der politischen Organisationen vorrangig darin besteht, Probleme zu diskutieren, und die der Politiker darin, Probleme zu lösen, dann laufen die Organisationen Gefahr, Probleme zu erfinden und zugleich Lösungen aus dem Blickfeld zu verlieren. Politiker hingegen neigen dann dazu, so zu tun, als wären alle Probleme lösbar und als wollte man sie auch lösen. Dies trifft aber oft nicht zu - die Politiker werden auf diese Weise leicht zur Heuchelei verführt.

„Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, dass etwas getan wird und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber wenden.“ (S. 113)

Das politische System braucht Organisationen wie etwa Parteien und Verbände. Sie entstehen innerhalb des Gesellschaftssystems, dürfen jedoch diesem nicht einfach zugerechnet werden, sondern bilden eigene Systeme. Wenn in einem sozialen System Entscheidungen in Bezug auf andere Entscheidungen desselben Systems getroffen werden, dann handelt es sich bei diesem System um eine Organisation. Entscheidungsprozesse in Organisationen dienen u. a. dazu, Unsicherheiten zu absorbieren, denn dadurch zementiert die Organisation ihre eigene Sichtweise. Das kann so weit gehen, dass sie für abweichende Meinungen unempfänglich wird und die Notwendigkeit zur Veränderung selbst nicht mehr sieht.

Massenmedien und öffentliche Meinung

Ein modernes politisches System ist auf Beobachtungen zweiter Ordnung angewiesen, d. h. es muss beobachten, wie es von anderen beobachtet bzw. bewertet wird. Nur so kann es die Wirkungen seines Handelns abschätzen. Wenn diese mittelbare Selbstbeobachtung fehlt, wird Politik zur bloßen Durchsetzung von Macht. Ein Medium für Beobachtungen zweiter Ordnung ist die öffentliche Meinung. Sie zeigt sich z. B. in Wahlergebnissen, an denen die Politik Trends ablesen kann.

„Wenn das Volk sich selbst regiert: was wäre dann gegen Willkür zu sagen?“ (S. 141)

Die öffentliche Meinung besteht aber nicht einfach aus einer Ansammlung vieler individueller Meinungen. Dazu sind individuelle Meinungen zu veränderlich und zu sehr an den Augenblick gebunden. Auch ist die öffentliche Meinung nicht einheitlich, sondern gliedert sich in verschiedene Ansichten auf. Wie die Öffentlichkeit auf ein Thema reagiert, kann man nicht vorhersehen: Manchmal bleiben wichtige Themen weitgehend unbeachtet, während Unwichtiges viel Resonanz findet. Wie bereits erwähnt, stützen sich politische Entscheidungen auf bestimmte Schemata: Grundaussagen, die als allgemein gültig angesehen werden, Muster für Vorgehensweisen oder bestimmte Begriffe. Diese Schemata stellt die öffentliche Meinung bereit. Ein solches Schema kann z. B. die Krise sein: Wird in der Öffentlichkeit etwas als Krise bezeichnet, dann ist klar, dass es sich um ein größeres Problem handelt.

„Die Nichteinlösung von Wahlversprechungen ist gleichsam strukturell vorgesehen - allein deshalb schon, weil die Situation vor der Wahl eine andere ist als die nach der Wahl.“ (S. 143)

Die öffentliche Meinung bietet keine abschließenden Lösungen an, das ist und bleibt die Aufgabe der Politik. Aber sie lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen und bietet die Möglichkeit, dazu Meinungen zu bilden. Deshalb ist die öffentliche Meinung für die Demokratie unerlässlich. In der heutigen Zeit bildet sie sich vor allem mit Hilfe der Massenmedien. Diese sind ein System, das Beschreibungen der Welt produziert und sie dem Gesellschaftssystem zur Verfügung stellt. Es liefert die Themen, mit denen sich öffentliche Meinung und Politik befassen. Jedoch bildet sich die öffentliche Meinung nicht allein aus den Massenmedien. Da sich das politische System über die Massenmedien selbst beobachtet, erhalten auch die Medien von der Politik immer schon entsprechend aufbereitete Informationen. Die Politik produziert also die öffentliche Meinung mit. Deshalb kann man die öffentliche Meinung auch als eine Form struktureller Kopplung von Politik und Massenmedien definieren, denn diese beiden Systeme sind voneinander abhängig: Das gegenwärtige politische System könnte ohne Massenmedien so nicht bestehen, und zugleich ist es für die Massenmedien lebenswichtig, dass ihnen die Politik Themen zur Verfügung stellt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Politik der Gesellschaft ist keine einfache Lektüre. Luhmann betrachtet die Politik aus der Sicht der von ihm entwickelten Systemtheorie und verwendet auch die dazugehörige Terminologie ("operative Schließung", "strukturelle Kopplung", "autopoietisch" etc.), geht aber nur am Rand auf die Theorie selbst ein. Für Leser ohne systemtheoretische Vorkenntnisse ist das eine hohe Hürde. Luhmanns Schreibstil erschwert das Verständnis zusätzlich: Der Autor legt offenbar wenig Wert auf eine klare Sprache, schreibt weitschweifig und verwendet häufig Fremdwörter, auch recht ungebräuchliche, deren Sinn sich nicht immer auf den ersten Blick erschließt. Erschwerend kommt hinzu, dass er manche Begriffe von Anfang an gebraucht, die aber erst gegen Ende des Buches erklärt werden. Die zahlreichen Fußnoten, in denen Luhmann Quellen zitiert und weitere Gedankengänge ausführt, sind dem Lesefluss auch nicht gerade förderlich. Das Werk ist in elf Kapitel gegliedert, von denen sich jedes nochmals in mehrere Unterkapitel aufteilt. Aber auch diese Gliederung trägt kaum zur Orientierung bei: Die Kapitelüberschriften sind wenig aussagekräftig, die einzelnen Unterkapitel gar nur mit römischen Ziffern bezeichnet. Wer als Leser jedoch mit der Systemtheorie schon etwas vertraut ist, findet in diesem Buch Luhmanns Thesen zum politischen System in dichter Zusammenstellung.

Interpretationsansätze

  • Die Politik der Gesellschaft ist die Anwendung der Systemtheorie auf die Politik. Aus dieser Perspektive sieht er die Politik als System, das sich, wie andere Systeme, evolutionär entwickelt hat, sich selbst erhält und steuert. Es ist ein Teilsystem des Systems der Gesellschaft. Diese besteht für Luhmann nicht in erster Linie aus einer Ansammlung von Menschen, sondern aus Kommunikation.
  • Luhmann stößt die Politik vom Thron: Er räumt mit der Vorstellung auf, die Politik könne grundsätzlich alle gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflussen. Das politische System ist nur eines unter vielen Systemen innerhalb der Gesellschaft und hat deshalb auf andere Systeme nur einen sehr begrenzten Einfluss. Politiker können z. B. gar keine Arbeitsplätze schaffen, da sie das Wirtschaftssystem nicht beeinflussen können.
  • Die verbreitete Kritik am unmoralischen Verhalten der Politiker hat aus Luhmanns Sicht keinen Sinn: Innerhalb des Systems hat dieses Verhalten seine Funktion und ist deshalb gar nicht anders möglich.
  • Selbst negativ besetzte Begriffe wie Macht und Gewalt gehören für Luhmann selbstverständlich zur Politik dazu: Nur mit Hilfe von Gewalt kann der Staat andere, unerwünschte Formen von Gewalt begrenzen und zugleich anderen Systemen, wie z. B. der Wirtschaft, ein reibungsloses Funktionieren ermöglichen.
  • Generell ist der systemtheoretische Ansatz bewusst wertfrei. Luhmann kritisiert nichts und niemanden, er beschreibt lediglich die Abläufe in Systemen und weist nach, dass jedes Phänomen im System einen Zweck erfüllt. Diese Wertfreiheit der Luhmann’schen Theorie ist auch kritisiert worden; so wurde ihm z. B. vorgeworfen, seine Theorie sei rein deskriptiv und letztlich tautologisch, sie bringe keine neuen Erkenntnisse über die Welt.

Historischer Hintergrund

Politische Ideologien im Nachkriegsdeutschland

Nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs hatte die Bundesrepublik Deutschland spätestens seit dem Ende der 1970er und dann in den 80er Jahren mit wachsenden Schwierigkeiten zu kämpfen. Eine stagnierende Wirtschaft ließ die Arbeitslosenzahlen steigen. Die Politik machte es sich immer wieder zur Aufgabe, dieses Problem zu lösen und Arbeitsplätze zu schaffen, was jedoch - allen Versprechungen zum Trotz - nicht gelang. Dazu kamen weitere Schwierigkeiten, die als Bedrohung empfunden wurden: die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und die militärische Aufrüstung, Terrorismus, zunehmende Umweltzerstörung. Viele Bürger waren mit den herrschenden politischen Verhältnissen und den Entscheidungen der Politiker unzufrieden und engagierten sich selbst politisch. Mit Bürgerinitiativen, Interessengruppen und Demonstrationen versuchten sie, ihre Anliegen deutlich zu machen und Einfluss auf die Politik zu nehmen. Damit verbunden war der Wunsch, die Gesellschaft insgesamt zu verändern, sie positiv zu beeinflussen. Viele politisch engagierte Menschen waren in dieser Zeit mehr oder weniger marxistisch orientiert. Die Marktwirtschaft erschien ihnen als unmenschlich und zerstörerisch. In dieser Situation bot der Kommunismus ein scheinbar positives Gegenmodell. Dies änderte sich jedoch ab 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Damit wurde deutlich, dass der real existierende Sozialismus kein tragfähiges politisches Modell darstellte. Die Kombination aus Demokratie und Marktwirtschaft erwies sich als die bessere Staatsform. Vor diesem Hintergrund galt die politische Ideologie allgemein als nicht überlebensfähig.

Entstehung

Niklas Luhmann konzipierte alle seine Werke mit Hilfe eines Zettelkastens, den er bereits im Alter von 25 Jahren anzulegen begann. Auf Karteikarten sammelte er hier über Jahrzehnte hinweg eigene Gedanken und Aussagen aus den Büchern, die er las. Mit Hilfe eines Nummerierungssystems verknüpfte er diese Informationen miteinander.

Großen Einfluss auf Luhmanns Denken hatten die Arbeiten von Ludwig von Bertalanffy und Talcott Parsons, bei dem Luhmann in Harvard studierte. Seine Systemtheorie entwickelte er jedoch eigenständig und verarbeitete darin auch Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsgebieten, wie der Evolutionstheorie oder der Kybernetik. Die Grundlagen seiner Systemtheorie legte Luhmann 1984 in Soziale Systeme, seinem ersten Hauptwerk, dar. Danach veröffentlichte er eine Reihe von Büchern, in denen er die Systemtheorie auf die einzelnen Systeme innerhalb der Gesellschaft anwandte, so z. B. auf das Wirtschafts- und Wissenschaftssystem oder die Kunst. Mit Die Politik der Gesellschaft beschrieb Luhmann einen weiteren wichtigen Bereich der menschlichen Gesellschaft aus systemtheoretischer Sicht. Mit ersten Vorarbeiten zu diesem Werk hatte Luhmann bereits Anfang der 1990er Jahre begonnen, da er jedoch immer an mehreren Büchern gleichzeitig schrieb, wurde das Manuskript über Jahre hinweg nicht fertig gestellt.

Als sich mit zunehmendem Alter Luhmanns Gesundheit deutlich verschlechterte, konzentrierte er sich auf die Fertigstellung seines zweiten Hauptwerks, Die Gesellschaft der Gesellschaft, das schließlich 1997 erschien. Als der Autor ein Jahr später verstarb, existierte Die Politik der Gesellschaft als Manuskript, das von seiner inhaltlichen Struktur her abgeschlossen war, auch wenn es sicher noch hätte erweitert werden sollen. Zusammen mit Die Religion der Gesellschaft wurde das Werk posthum im Jahr 2000 veröffentlicht.

Wirkungsgeschichte

Niklas Luhmann ist der Begründer der soziologischen Systemtheorie und gilt heute als der bekannteste deutsche Soziologe. Es war sein Anspruch, eine Theorie auszuarbeiten, die alle Bereiche der Gesellschaft einschloss, und seine Systemtheorie war so umfassend, dass sie diesen Anspruch auch erfüllte. Zugleich öffnete sie neue und ungewohnte Perspektiven auf scheinbar altbekannte Phänomene. Deshalb waren Luhmanns Arbeiten ein Anstoß für weitere Forschungen in unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten. Besonders die Psychotherapie und die Managementlehre haben sich - vielleicht aus akutem Mangel an eigenen brauchbaren Theorien - großzügig aus ihrem Fundus bedient.

Dass die Systemtheorie bewusst wertfrei gehalten ist, brachte Luhmann aber auch viel Kritik ein. Vor allem die Soziologen der neomarxistisch geprägten "Frankfurter Schule" wandten sich gegen ihn. Ihrer Ansicht nach war es die Aufgabe der Soziologie, auf Missstände hinzuweisen und auf diese Weise die Gesellschaft zu verbessern. Aus dieser Sicht galt Luhmanns Theorie als reaktionär. Vor allem Jürgen Habermas, der wichtigste Vertreter dieser Richtung, kritisierte Luhmann scharf. Doch diese Kritik konnte den Erfolg der Systemtheorie nicht schmälern - und inzwischen gilt der angebliche Reaktionär Luhmann als ein Revolutionär der Soziologie.

Über den Autor

Niklas Luhmann ist einer der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Geboren wird er am 8. Dezember 1927 in Lüneburg. Mit 17 Jahren nimmt er als Luftwaffenhelfer am Zweiten Weltkrieg teil und gerät anschließend kurz in amerikanische Gefangenschaft. 1946 beginnt er ein Jurastudium in Freiburg und ist nach dem Referendariat zunächst von 1954 bis 1962 als Verwaltungsjurist tätig. Hier lernt er eine Arbeitsmethode kennen, die sein ganzes Werk prägen wird: der Ablage von Informationen in Zettelkästen. So legt sich Luhmann mit 25 Jahren auch privat einen Zettelkasten an, um eigene Gedanken und wichtige Ideen anderer Autoren zu sammeln. 1960–1961 erhält er ein Stipendium für ein Studium der Soziologie in Harvard, kommt also erst mit über 30 Jahren mit der Wissenschaft in Berührung, die er später wesentlich beeinflussen wird. Ab 1962 ist er Referent an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, drei Jahre später wechselt er zur Sozialforschungsstelle Dortmund. Erst 1966 promoviert er in Soziologie an der Universität Münster, die Habilitation folgt nur wenige Monate später. Von 1968 bis zu seiner Emeritierung 1993 ist Luhmann Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Er veröffentlicht zahlreiche Werke, in denen er seine Systemtheorie entwickelt. Als Soziale Systeme erscheint, das erste Hauptwerk und die Grundlage seiner Theorie, ist Luhmann bereits 57 Jahre alt. Die in den folgenden Jahren verfassten Bücher – unter ihnen Titel wie Die Wirtschaft der Gesellschaft (1988), Die Wissen-schaft der Gesellschaft (1990), Das Recht der Gesellschaft (1993) oder Die Realität der Massenmedien (1996) – beziehen diese Theorie auf einzelne Gesellschaftsbereiche. Mit Die Gesellschaft der Gesellschaft erscheint 1997 ein weiteres Hauptwerk Luhmanns. Als 70-Jähriger plant er noch 20 weitere Bücher. Dazu kommt es aber nicht mehr – am 6. November 1998 stirbt Niklas Luhmann in Oerlinghausen bei Bielefeld.

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