Jean-Jacques Rousseau
Emile oder Von der Erziehung
Artemis & Winkler, 1997
What's inside?
Rousseaus berühmter Erziehungsroman sagt der Vernunfterziehung den Kampf an und erklärt die Naturerziehung zur Retterin der Gesellschaft.
- Pädagogik
- Naturalismus
Worum es geht
Die natürliche Erziehung
Emile oder Von der Erziehung ist eine Mischung aus Roman und pädagogischer Abhandlung. Rousseau stellt die vernunftzentrierte Pädagogik seiner Zeit an den Pranger und entwirft das Vorbild einer an der Natur des Menschen orientierten Erziehung. Denn nur diese könne die moralisch verwahrloste Gesellschaft vor dem Verderben retten. Die am Beispiel des jungen Emile vorgeführte Naturpädagogik, die fern der Gesellschaft stattfindet, ist jedoch mehr Vision als praktikable Anleitung. Rousseau selbst war den Anforderungen der Vaterschaft nicht gewachsen und brachte alle seine fünf Kinder ins Findelhaus. Trotzdem war sein Buch sehr wirkmächtig: Während seine für die damalige Zeit kühnen und revolutionären Ideen bei den Zeitgenossen noch Wellen der Empörung auslösten, leiteten sie in der Pädagogik eine Revolution ein. Rousseau selbst bezeichnete den Emile als sein wichtigstes Werk. Als Erziehungsroman erfasst es alle Bereiche des menschlichen Daseins und stellt somit eine Verdichtung von Rousseaus Lebenswerk dar. Die wiederholten Gefühlsausbrüche des Erziehers sowie seine bissigen Seitenhiebe gegen die Vertreter der Vernunfterziehung erheitern bei der ansonsten bisweilen etwas langatmigen Lektüre.
Take-aways
- Emile oder Von der Erziehung ist eine Mischung aus Roman und pädagogischer Abhandlung.
- Die Entwicklung des Knaben Emile wird von seinem Erzieher erzählt.
- Eine an den natürlichen Anlagen des Jungen orientierte Erziehung soll einen rechtschaffenen Menschen aus ihm machen.
- Emile verbringt seine Kinderjahre auf dem Land, fern der Gesellschaft, wo sein Körper und seine Sinnesorgane trainiert und gestärkt werden.
- Der Zögling lernt nur durch eigene Erfahrungen, nicht durch theoretische Wissensvermittlung.
- Da die Freiheit das höchste Gut des Menschen ist, spricht der Erzieher niemals Vorschriften aus, sondern lenkt Emile unbemerkt nach seinem Willen.
- Die Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten vollzieht der Junge nicht durch Bücher, sondern mithilfe von Experimenten und Naturbeobachtung.
- Als Emile in die Pubertät kommt, führt der Erzieher ihn ins gesellschaftliche Leben ein und fördert sein sittliches und religiöses Bewusstsein.
- Vertraut mit den Pflichten eines Bürgers und Ehemanns heiratet Emile Sophie und wird aus der Obhut des Erzählers in die Gesellschaft entlassen.
- Was sich heute harmlos und fast langweilig anhört, war zu Rousseaus Zeit ein Skandal: Eine solche Erziehung widersprach den kirchlich-bürgerlichen Sitten total.
- Der Roman wurde nach seinem Erscheinen 1762 sofort verboten und sogar öffentlich verbrannt. Rousseau musste aus Frankreich fliehen.
- Rousseaus Erziehungsideen haben die Pädagogen des 19. Jahrhunderts wesentlich beeinflusst.
Zusammenfassung
Emiles Geburt und früheste Kindheit
Zu einem guten Menschen kann man sich nur entwickeln, wenn sich die Erziehung an der Natur orientiert. Die Erziehung gemäß der Vernunft dagegen verdirbt das Kind, das gut aus Gottes Händen gekommen ist. Das Streben nach Wissen mithilfe der Intelligenz macht aus dem Kind einen schlechten Menschen. Nur die Erziehung gemäß der Natur kann einen guten Menschen schaffen, dies zeigt das Beispiel von Emile. Dessen Erzieher will ihn von der Geburt bis zur Reife ununterbrochen begleiten und die praktische Anwendung seiner proklamierten Naturerziehung aufzeigen.
„Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (S. 9)
Eine gute Erziehung beginnt bereits mit der Geburt. So nimmt auch die Erziehung Emiles, abgeschottet von der Gesellschaft und ihren schlechten Einflüssen, mit seiner Geburt ihren Anfang. Der Junge wird nur durch Übung, niemals durch Vorschriften erzogen. Allein sein Erzieher, der alle Rechte und Pflichten von Emiles Eltern übernommen hat, darf sich um den Kleinen kümmern. Er ist das einzige Vorbild, an dem sich Emile orientieren soll. Da er das Kind nicht selbst stillen kann, muss er sich eine Amme suchen. Diese darf nur pflanzliche Kost zu sich nehmen und muss über ein gutes Gemüt sowie einen gesunden Körper verfügen. Der Zögling darf nur in breite Windeln gewickelt werden, die seine Glieder auf keinen Fall einengen, wie das sonst gang und gäbe ist. Emile soll sich frei bewegen können. Die Kleider dürfen nicht zu warm sein, sonst verweichlicht man den Körper, anstatt ihn abzuhärten. Nur ein starker Körper ist gesund: Er ist nicht auf Ärzte angewiesen, die wider die Natur ans Werk gehen. Schreit das Kind, darf man es nur beachten, wenn sein Verlangen einem echten Bedürfnis entspricht. Weint es aber nur aus Gewohnheit, so darf man ihm nicht nachgeben, sonst werden seine Schreie bald zu Befehlen, und es baut eine unnatürliche Herrschaft über den Erziehenden auf. Die Entwöhnung des Kindes von der Muttermilch beginnt mit dem Durchbruch der Zähne. Zum Essen gibt man Emile nun Brotsuppe oder Reispudding, was ihn zum Kauen anregt. Damit der Junge später einmal eine reine, nicht verwirrte Sprache spricht, benutzt der Erzieher bereits jetzt nur Wörter, die sich auf wahrnehmbare Gegenstände beziehen, Begriffe also, deren Sinn Emile versteht. Denn unnützes Gerede lässt nur Irrtümer entstehen, die fürs ganze Leben schlechten Einfluss auf die Geisteshaltung nehmen können. Emile wird nicht zum Sprechen genötigt, sondern er soll von selbst zu reden beginnen.
Übung des Körpers und der Sinne
Mit Emiles ersten Worten beginnt sein zweiter Lebensabschnitt: die Kinderjahre. Diese verbringt der Junge auf dem Land bei guter Luft und nahe der Natur. Nun entwickelt er ein erstes Bewusstsein seiner selbst und wird somit auch fähig, Glück und Unglück zu erleben. Glücklich ist der Mensch, der wenig Leid erfährt, und unglücklich ist, wer nur wenig Vergnügen empfindet. Solches Unglück bescheren viele Lehrmeister ihren Schützlingen mit all ihren verbalen Weisheiten aus den Wissenschaften. Sie quälen die Kinder, anstatt sie in ihrer natürlichen Fröhlichkeit zu belassen. Ein großes Unglück für den Menschen bedeutet auch die Herrschsucht. Allein die Freiheit, nicht die Macht, ist das höchste Gut der Menschheit. Ein guter Erzieher gibt seinem Zögling also alle Freiheit, sofern dessen Wille seinen natürlichen Bedürfnissen und nicht seiner Fantasie entspringt. So lernt Emile keine Gebote und Vorschriften kennen. Ebenfalls dürfen ihm keine verbalen Lehren erteilt werden, denn ein Kind ist kein kleiner Erwachsener, sondern nur ein Kind. Seine Vernunft schläft noch und es weiß mit Wissen nichts anzufangen. Emile lernt nur durch Erfahrung. Damit der Erzieher erkennt, was für seinen Zögling am besten ist, beobachtet er ihn stets aufmerksam. Unbemerkt lenkt er Emile, indem er den Knaben im Glauben lässt, dass er stets das tun könne, was er wolle, während er in Wirklichkeit jedoch das tut, was der Erzieher möchte. Dabei gilt es, das Herz des Jungen vor dem Laster und seinen Verstand vor dem Irrtum zu bewahren. Nur diese negative Erziehung kann aus dem Zögling einen guten Menschen machen. Die einzige Sittenlehre, die Emile vermittelt wird, ist, niemals etwas Böses zu tun. Diese Lehre wird ihm aber nicht durch Eintrichtern von Wahrheiten beigebracht, sondern mittels eigener Erfahrungen. Von Emile fernzuhalten sind jegliche Bücher, denn er würde deren Inhalt noch nicht verstehen oder diesen sogar falsch deuten.
„Hier aber, wo die Erziehung mit dem Leben anfängt, ist das Kind bei der Geburt schon ein Schüler, allerdings nicht des Erziehers, sondern der Natur.“ (S. 44)
Weisheit und Vernunft erlangt Emile zunächst durch Übung und Stärkung seines Körpers. Deshalb wird dieser durch Spiele, Ertüchtigung und leichte Kleidung, die den Jungen die Kälte fühlen lässt, abgehärtet und gestärkt. Ein gesunder Körper beherbergt auch eine gesunde Seele. Durch intensive Übung der Sinne erlangt Emile neues Wissen, lernt zu urteilen und zu empfinden. Dabei ist anfangs der Tastsinn dem Gesichtssinn vorzuziehen, weil wir nur durch Tasten die Beschaffenheit der Dinge wirklich kennenlernen können. Unsere Augen dagegen täuschen uns oftmals, sodass wir sie erst schulen müssen. Emiles Augen werden über das Schätzen von Entfernungen sowie das Zeichnen in der Natur trainiert. Durch das Reich der Sinnesempfindungen geführt, hat Emile nun die Grenzen seiner kindlichen Vernunft erreicht.
Studien und handwerkliches Arbeiten
Inzwischen ist Emile zwölf Jahre alt, und er verfügt über mehr Kräfte als Bedürfnisse. Wenn ein Kind dieses Stadium erreicht hat, wird es Zeit, die ersten geistigen Studien in Angriff zu nehmen. Emile kann nun unterscheiden, was nützlich und unnütz für ihn ist. Alles was er lernt, soll ihm etwas bringen. Man lasse also die Finger von Kenntnissen, die nicht seinem Alter und Verstand entsprechen. Geografie, Physik und Statik erlernt und entdeckt Emile allein durch Beobachtung der Natur oder mithilfe von Experimenten. Niemals können ihn Worte oder Bücher in gleicher Weise unterrichten. Das einzige Buch, das Emile kennt, ist die Geschichte von Robinson Crusoe, die ihm ein Vorbild dafür sein soll, alles Wissen nur aus den Dingen selbst zu gewinnen. Ein gesunder Menschenverstand kann sich nämlich einzig aufgrund von Erfahrungen und Empfindungen entwickeln. Alles was Emile sich aneignet, muss er selbst lernen wollen. Der Erzieher ist dafür verantwortlich, diese Begierde zu nähren und die Neugier des Zöglings wachzuhalten, damit seine Aufmerksamkeit für den zu erörternden Gegenstand nie in Langeweile umschlägt. Durch geschickte Lenkung bewahrt der Erzieher Emile vor Irrtümern und führt ihn zur Wahrheit hin. Dies stärkt seine Urteilskraft, denn allein die Erfahrung kann helfen, Fehlurteile zu vermeiden. Emile kennt die Gesellschaft und ihre sittliche Ordnung noch nicht. Zuerst muss er in die großen Zusammenhänge eingeführt werden, damit er später fähig sein wird, die gute und schlechte Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft richtig zu beurteilen.
„Durch viel Arbeit suchen wir unser Glück zu vermehren, verwandeln es aber nur in Elend.“ (S. 70)
Zum Wohl des Geistes dient Emile die Arbeit mit den Händen. Aber nur ein nützliches und ehrliches Handwerk, das dem Talent des Zöglings entspricht, kann diesen Sinn erfüllen, wie etwa das Tischlerhandwerk. Auf keinen Fall darf es eine Arbeit sein, die ans Sitzen und an das Haus gebunden ist. Solche schwächlichen Aufgaben sind den Frauen zu überlassen. Im Gegensatz zu den Künsten, wo der Erfolg vom Ruf des Künstlers abhängig ist, zählt beim Handwerk nur das Werk selbst. Während der Künstler immer auf die Gunst anderer angewiesen ist und somit zum Spielball der öffentlichen Meinung wird, ist diese für den Handwerker nie von Bedeutung. Auch Emile wird sich nie an den Gedanken anderer orientieren oder sich in seinen Urteilen auf andere Meinungen beziehen. Dieser dritte Abschnitt des Lebens hat aus dem Zögling ein wirkendes und denkendes Wesen geschaffen, das durch den Vergleich seiner Sinnesempfindungen mit seinem Urteil eigene Ideen bilden kann.
Einführung ins gesellschaftliche Leben
Mit Beginn der Pubertät und dem Erwachen der ersten auf das andere Geschlecht bezogenen Gefühle erlebt der Jüngling seine zweite Geburt. Der Mensch wird jetzt wahrhaftig zum Leben geboren. Die Fähigkeit zu fühlen macht ihn zum sittlichen Wesen, das nun die wahren Verhältnisse der Menschen kennenlernen muss. Dabei hüte man sich davor, die Neugier des Zöglings für üble Sitten, wie die fleischliche Lust, zu wecken. Man bemühe sich vielmehr, den Zeitpunkt, diese Dinge kennenzulernen, so lange wie möglich hinauszuzögern. Zunächst muss Emile seine Gefühle entwickeln sowie eine Vorstellung von Gut und Böse erhalten. Er lernt, dass Leid und Elend zum Menschsein gehören. Da Emile das Leiden schon aus eigener Anschauung kennt, weckt diese Tatsache sein Mitgefühl und seine Menschlichkeit. Indem man ihm die Menschen in ihren gesellschaftlich bedingten, aber nicht natürlichen Unterschieden zeigt, führt man den Jüngling in die moralische Ordnung ein. Um der Gefahr zu entgehen, dass dabei sein Herz verdirbt, erteilt man ihm diese Lektion durch die Geschichte. Emile erkennt so, dass viele Menschen von Vorurteilen und Knechtschaft geplagt werden. Weil er sich selbst glücklich fühlt, werden ihn seine Urteilskraft und sein Verstand zu dem Schluss bringen, nicht ihrem Beispiel zu folgen.
„Die erste Erziehung soll also bloß negativ sein. Sie besteht nicht darin, dass man die Tugend und Wahrheit lehre, sondern das Herz vor dem Laster und den Verstand vor dem Irrtum bewahre.“ (S. 88)
Auf die Frage, was der Weg zum wahren Glück des Menschen sei, lässt sich mit dem "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" antworten. Dieses Bekenntnis, das dem Erzieher in jungen Jahren von eben jenem savoyischen Vikar eröffnet wurde, stellt die natürliche Religion ins Zentrum. Diese geht davon aus, dass Gott die Natur beseelt hat und er sich somit allein durch sie und nicht durch Bücher wahrhaft offenbart. Der Mensch, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist, wird durch die göttliche Vorsehung dazu angehalten, nur Gutes zu tun. Die Naturreligion zeigt Emile den wahren Sinn, gut zu sein. Für den 20-Jährigen ist nun die Zeit gekommen, das Geheimnis der Zeugung zu erfahren. Auf keinen Fall darf er dieses allein entdecken. Mit einer Rede, die nichts verheimlicht, zeigt der Erzieher ihm das der Ausschweifung innewohnende Verderben auf und lehrt ihn dadurch den Wert der Keuschheit schätzen.
„Weil alles das, was Eingang in den menschlichen Verstand findet, durch die Sinne eindringt, so ist die erste Vernunft des Menschen eine sinnliche Vernunft; sie dient der intellektuellen Vernunft zur Grundlage.“ (S. 135)
Nun ist Emile bereit, den Menschen nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im Einzelnen kennenzulernen. Die beiden begeben sich nach Paris. Emile verhält sich unter den Menschen vorbildlich, was allein auf seine sorgfältige Erziehung zurückzuführen ist. In der Gesellschaft wird der Jüngling damit vertraut gemacht, was für Menschen angenehm oder unangenehm ist, kurz: mit dem Geschmack. Ein guter Geschmack orientiert sich an der Natur und nicht am Luxus, denn Geld tötet jedes Glück. Der Erzieher hat Emile eine für ihn vorbestimmte Frau versprochen. Sie gilt es nun zu finden.
Emile und Sophie
Der Erzieher und sein Zögling machen sich auf die Suche nach Sophie, die Emiles Gefährtin werden soll. Als Frau wurde Sophie schwach und passiv geboren und ist somit dafür geschaffen, dem Mann Emile zu gefallen und sich ihm zu unterwerfen. Damit sie folgsam ist, hat sie gelernt, ihren Eigensinn zu bezwingen. Zur Arbeitsamkeit erzogen, beschäftigt sie sich vor allem mit Handarbeiten. Intellektuelle Studien sind für sie nicht von Nutzen. Da Sophie von der Meinung anderer abhängig ist, hat sie gelernt, stets um die Wirkung ihres Tuns besorgt zu sein, denn falsches Handeln könnte die Ehre des Ehegatten in den Schmutz ziehen. Sophie wurde wie Emile gemäß ihrer Natur erzogen.
„Es kommt hier nicht darauf an, alles zu wissen, sondern zu wissen, was nützlich ist.“ (S. 193)
Nur die eigene Suche und das gegenseitige Erwählen der Eheleute bietet die Grundlage einer glücklichen Ehe. So lernt Emile Sophie scheinbar zufällig, vom Erzieher jedoch geplant, kennen, als der junge Mann mit seinem Lehrer auf Wanderschaft ist und die beiden ein Nachtlager im Elternhaus des Mädchens bekommen. Bei Tisch erzählen Sophies Eltern vom Unglück früherer Tage, worauf Emile zu Tränen gerührt ist. Das gute Herz des jungen Manns erweckt in Sophie die erste Verliebtheit. Emile seinerseits kann seine Augen nicht mehr von dem liebreizenden Geschöpf lassen. In der Folge besuchen Emile und sein Erzieher Sophie zwar regelmäßig, aber dennoch kann der junge Mann seine Angebetete nicht voll und ganz für sich gewinnen: Sein Reichtum lässt Sophie an seiner guten Seele zweifeln. Doch sein Pflichtbewusstsein und seine Güte gegenüber Menschen in Not sind ihr schließlich Beweis genug für seine Rechtschaffenheit. Sophie will nun Emiles Frau werden. Für eine Heirat ist es aber noch zu früh, denn Emiles Leidenschaften, geweckt von Sophie, haben ihn in kurzer Zeit zum Sklaven seiner Neigungen gemacht. Da aber der gute Mensch nur bestehen kann, wenn sein Leben frei von diesen ist, muss Emile auf Befehl des Erziehers auf Wanderschaft gehen, um nachher tugendhaft und Sophies würdig zurückkehren zu können.
„Ich schließe, man muss, um einen jungen Menschen scharfsinnig zu machen, seine Urteile richtig bilden, anstatt ihm unsere zu diktieren.“ (S. 224)
Die folgenden zwei Jahre reist Emile mit seinem Erzieher durch ganz Europa und lernt den obersten Grundsatz des Staatrechts kennen: den Gesellschaftsvertrag. Dieser fordert, dass jeder Einzelne sich dem Willen des Gemeinwesens unterordnet. Überall wo Emile hinreist, studiert er den Geist und die Sitten der Völker. Von seiner Reise kehrt Emile als sittlich handelnder, tugendhafter und freier Mensch zu Sophie zurück. Beide sind nun fürs Eheleben vorbereitet. Der Erzieher betrachtet sein Werk voll Entzücken. Mit der Heirat von Emile und Sophie ist seine Aufgabe vollendet. Emile verspricht, sein Kind nach seinem eigenen Vorbild gemäß der Natur zu erziehen. Um dieser schwierigen Aufgabe gewachsen zu sein, bittet er den Erzieher um Rat und begleitende Unterstützung.
Zum Text
Aufbau und Stil
Rousseaus Emile oder Von der Erziehung erzählt in fünf Büchern (= Kapiteln) den fiktiven Fall der Erziehung eines Knaben. Das Werk ist ein pädagogisch-philosophischer Entwurf in Romanform. Die Geschichte von Emiles Heranwachsen wird von seinem Erzieher erzählt, der zugleich Außenstehender und doch auch Beteiligter beim Werdegang seines Zöglings ist. Erzähler und Autor, also der Erzieher und Rousseau selbst, scheinen vielerorts zu verschmelzen. Dieser Eindruck wird besonders dadurch hervorgerufen, dass auch der Erzähler unter dem Namen Jean-Jacques auftritt. Um der Leserschaft die praktische Umsetzbarkeit der Erziehung zu demonstrieren, werden regelmäßig Gesprächssequenzen und Erziehungsbeispiele eingefügt. Lange Textpassagen erörtern die verschiedenen Aspekte des Themas Erziehung; die eigentliche Romanhandlung ist eher spärlich und kaum der Rede wert. Eine Sonderstellung nimmt das "Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars" ein, das als Einschub im vierten Kapitel platziert ist. Das Bekenntnis ist im Grunde ein selbstständiger Text, der in formaler Hinsicht den Rahmen des Erziehungsromans sprengt. Inhaltlich jedoch ist er das Herzstück des Werks, an dem sich Emiles ganze Entwicklung orientiert. Alle Grundgedanken der Erziehung gemäß der Natur des Menschen werden im Glaubensbekenntnis entwickelt und begründet. Die immer wiederkehrenden Gefühlsausbrüche des Erzählers, besonders in Form von Ausrufen, sind Vorboten der Romantik, als deren Vorläufer Rousseau gilt.
Interpretationsansätze
- Emile ist das Vorbild eines "homme naturel", eines natürlichen Menschen. Von Natur aus ist der Mensch gut, so lautet Rousseaus Überzeugung, allein die Einflüsse der Gesellschaft verderben ihn. Der lasterhafte "homme social" verkehrt das Gute zum Bösen. Darum gilt es den "homme naturel" fern von allen schlechten Einflüssen der Gesellschaft heranwachsen zu lassen, bevor er in diese eingeführt wird. Nur so kann nach Rousseaus Auffassung die dekadente und sittenlose Gesellschaft gerettet werden.
- Eine gute Erziehung ist eine Erziehung gemäß der Natur und nicht gemäß der Vernunft. Die Naturerziehung orientiert sich nicht an Vorschriften, Verboten und Weisheiten aus Büchern, sondern lässt das Kind durch seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen lernen. Rousseau stand mit dieser Lehre im krassen Gegensatz zur Vernunftzentriertheit des Aufklärungszeitalters.
- Der rechtschaffene Mensch ist für Rousseau nicht von der Meinung anderer abhängig, er ist kein Sklave seiner Leidenschaften, sondern stets sittlich in seinem Tun, wobei er den Gemeinnutz, also den Willen des Volkes, immer vor den eigenen Nutzen stellt.
- Rousseau predigt auch eine natürliche Religion, die im Gegensatz zur Offenbarungsreligion der Kirche steht: Nur die natürliche Religion führt wirklich zu Gott, der sich den Menschen einzig durch die Natur, nicht durch das Wort offenbart. Diese Religion orientiert sich allein am Gefühl und nicht an bestehenden Dogmen.
- Emile wird wahrhaft als Kind erzogen - nicht als "kleiner Erwachsener", der nur noch nicht im Besitz seiner vollen Fähigkeiten und Kräfte ist. Erst die Pubertät, die zweite Geburt des Menschen, öffnet die Tür zur Welt der Erwachsenen.
- Rousseau kann mit seiner Naturerziehung, die jegliche Eingriffe von außen verbietet, als Vorreiter einer antiautoritären Erziehung gesehen werden. Dass auch er trotzdem die lenkende Hand des Erziehers im Hintergrund verlangt, ist paradox.
Historischer Hintergrund
Die französische Aufklärung
Das 18. Jahrhundert war in Frankreich das Zeitalter der Aufklärung. Mit dem Tod von Ludwig XIV. im Jahr 1715 begann eine viele Lebensbereiche umfassende Liberalisierung. Sie führte zur Auflösung des extremen Absolutismus und schuf ein neues geistiges Klima, das in den Salons, Clubs und Cafés von Paris eifrig gepflegt wurde. Zudem trugen die Akademien mit ihren Preisausschreiben zu literarischen und wissenschaftlichen Fragen wesentlich zur Verbreitung des neuen, aufklärerischen Gedankenguts bei. Das Zeitalter der Aufklärung setzte die Vernunft über alles. Allein sie befähige den Menschen, die von der Tradition gesetzten Grenzen zu durchbrechen und seine wahre Bestimmung, seine Autonomie zu erreichen. Mithilfe der kritischen Vernunft wurden viele religiöse und politisch-soziale Dogmen entthront und der Fortschritt in Wissenschaft und Philosophie wurde vorangetrieben. Die aufklärerischen Philosophen, Schriftsteller oder Naturwissenschaftler waren bestrebt, auf empirische Weise Zusammenhänge aufzuzeigen, falsche Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und die Vernunft zu fördern. Ziel der Literatur war es, das Publikum zu besseren Menschen zu machen. Ein zentrales Werk der Aufklärung in Frankreich war die umfangreiche Enzyklopädie, herausgegeben von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert, die unzählige Artikel zum theoretischen und praktischen Wissen, zu den Wissenschaften und zum Gedankengut der Aufklärung enthielt. Rousseau trug einige Artikel über Musik zu diesem Werk bei. Die politischen, religiösen und moralischen Ansichten der Aufklärer stießen bei ihren Gegnern in Kirche und Staat, also bei allen, die ein Interesse an der fortdauernden Unmündigkeit der Menschen hatten, auf großen Widerstand und wurden einer strengen Zensur unterworfen. Dennoch beeinflussten die Ideen der französischen Aufklärung ganz Europa und führten letztlich zur Französischen Revolution und allen folgenden Emanzipationsbestrebungen.
Entstehung
Rousseau verfasste Emile oder Von der Erziehung in Montmorency bei Paris, wo er von 1756 bis 1762 lebte. Zu dieser Zeit verscherzte es sich der eigensinnige und paranoide Denker mit all seinen Freunden. Voltaire verärgerte er mit einem polemischen Brief gegen dessen Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Und durch seinen Brief an d’Alembert über die Schauspiele, mit dem er sich aus sittlichen Gründen gegen eine Theatergründung in Genf stellte, wurde 1758 der endgültige Bruch mit Diderot und Melchior Grimm unausweichlich. Im Frühling 1759 zog der vereinsamte Rousseau ins Petit-Château, das ihm vom Herzog von Luxemburg zur Verfügung gestellt wurde. An diesem idyllischen Ort konnte er trotz Krankheit und Verfolgungsängsten am Emile und an der staatstheoretischen Schrift Vom Gesellschaftsvertrag weiterarbeiten. So brachte er die beiden Manuskripte im Sommer 1761 zum Abschluss. Bereits im Oktober begann ein Pariser Verleger mit dem Druck des Erziehungsromans. Einen Monat später verschlechterte sich Rousseaus Zustand dramatisch. Seine Wahnvorstellungen ließen ihn glauben, das Emile-Manuskript sei in die Hände der Jesuiten gefallen und sein wichtigstes Werk werde nun vernichtet. Doch im Mai 1762 erschien es gleichzeitig in Paris und Amsterdam.
Wirkungsgeschichte
Bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung wurde das Buch vom Pariser Parlament verurteilt, beschlagnahmt und im Hof des Justizgebäudes exemplarisch verbrannt: Zu gefährlich und umstürzlerisch erschienen Rousseaus Ideen in der damaligen Zeit. Um einem Haftbefehl zu entgehen, flüchtete der Autor in die Schweiz. Doch auch die Genfer Behörden konfiszierten den Emile wie auch den Gesellschaftsvertrag und ließen beide Werke verbrennen. Wegen der erneut drohenden Haft ersuchte Rousseau Friedrich den Großen um Asyl in dem zu Preußen gehörenden Fürstentum Neuchâtel. Der Grund für die Verfolgung Rousseaus war vor allem der Zorn des Pariser Erzbischofs und der Genfer Calvinisten, die über den religionskritischen Einschub im Buch in Form des "Glaubensbekenntnisses des savoyischen Vikars" entrüstet waren. Aber auch Rousseaus Grundgedanke, dass der Mensch von Natur aus gut sei und nur durch die schlechten Einflüsse der Gesellschaft verderbe, erhitzte die Gemüter, denn diese Idee widersprach der christlichen Erbsündenlehre. Auch von anderer Seite kam Kritik: Voltaire etwa bemängelte am pädagogischen Programm des Emile vor allem die abgeschottete, gefühlsbetonte Erziehung und den dürftigen Einsatz der literarischen Bildung. 1765 musste Rousseau erneut fliehen, denn die anhaltende Kritik aus Genf und sein merkwürdiges Wesen brachten die Bevölkerung des schweizerischen Bergdorfes Môtiers, wo er wohnte, gegen ihn auf. Über diverse Zwischenstationen gelangte Rousseau in Begleitung des Philosophen David Hume nach England. Mit Hume überwarf er sich aber auch bald und kehrte schließlich nach Frankreich zurück.
Rousseaus pädagogischer Erziehungsroman Emile beeinflusste mit seinen neuartigen Theorien viele namhafte Pädagogen des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Heinrich Pestalozzi oder Johann Friedrich Herbart. Wenn sie auch gewisse Ideen Rousseaus infrage stellten, so sind sie doch von ihm und seinen Ansichten ausgegangen.
Über den Autor
Jean-Jacques Rousseau wird am 28. Juni 1712 als Sohn einer protestantischen Familie französischer Herkunft in Genf geboren. Die Mutter stirbt kurz nach der Geburt; der in Fantastereien befangene Vater, ein Uhrmacher, kümmert sich wenig um seinen Sohn und vertraut ihn schließlich einem Pfarrer an. Obwohl Jean-Jacques nicht zur Schule geht, lernt er sehr früh lesen und wird zunächst Lehrling bei einem Graveur, später bei einem Gerichtsschreiber. Mit 16 Jahren geht er auf Wanderschaft, wobei er in Savoyen bei der frommen Madame de Warens unterkommt, die einen prägenden Einfluss auf ihn ausübt und ihn zum Katholizismus bekehrt. Rousseau beginnt Ausbildungen in einem Priesterseminar und bei einem Musiklehrer, bricht jedoch beide ab. Später geht er nach Paris, wo er ein karges Leben als Hauslehrer und Kopist von Partituren fristet. Er verkehrt in Intellektuellenkreisen und liiert sich mit der Dienstmagd Thérèse Levasseur, die er allerdings erst 23 Jahre später heiratet. Die fünf gemeinsamen Kinder gibt das Paar in einem Waisenhaus ab. Während eines kurzen Aufenthalts in Genf nimmt Rousseau die zuvor verlorene Bürgerschaft der Stadt wieder an. Gleichzeitig schwört er dem Katholizismus ab. Rousseau macht sich durch seine gesellschaftstheoretischen Schriften einen Namen und schreibt zwischen 1756 und 1762 seine erfolgreichsten und wirkmächtigsten Werke, darunter Julie oder Die neue Héloïse (Julie ou la Nouvelle Héloïse, 1761), Emile oder über die Erziehung (Émile ou De l’éducation, 1762) und das staatsphilosophische Werk Vom Gesellschaftsvertrag (Du Contract Social, 1762). Das Pariser Parlament verbietet Emile wegen ketzerischer Ansichten, in Genf wird das Buch gemeinsam mit Vom Gesellschaftsvertrag öffentlich verbrannt. Rousseau, der mit der Pariser Intellektuellenszene endgültig gebrochen hat und zunehmend an Verfolgungswahn leidet, geht wieder auf Wanderschaft. Er hält sich in der Schweiz, in Preußen und auf Einladung von David Hume in London auf, um schließlich unter dem Decknamen Renou nach Paris zurückzukehren. 1778 ist er Gast des Marquis de Girardin auf Schloss Ermenonville, wo er am 2. Juli stirbt. 1794 werden seine Gebeine ins Pariser Panthéon übergeführt.
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